1. Anders sein
Fanny isst gerne Vanille-Eis. Sie kennt die Geschichten von Superman auswendig und weiß, dass er und seine Cousine von einem anderen Planeten, vom Krypton kommt. Morgens isst Fanny immer Müsli, in die Schule nimmt sie immer ein Toastbrot mit – mit Butter von Sommerglück – und eine Karotte in Folie eingewickelt. Mittags isst sie immer Nudeln von Giulia mit Ketchup von Hans. Und nur das. Zur Not geht auch Vanilleeis.
Fanny hasst es, wenn jemand lügt. Sie erträgt es nicht, wenn man sie anfasst ohne sie zu fragen. Sie liebt das Lied von der Biene Maja und denkt viel nach. Sie versucht die Menschen um sich herum zu verstehen, aber es gelingt ihr nicht. Sie will ihnen glauben, dass sie es gut mit ihr meinen. Aber oft tun sie es nicht. Die Nachbarskinder mobben sie und lachen: Hey, Fanny, wie siehst du denn heute aus? Und dann verzweifelt sie, weiß aber nicht, was sie tun kann. Wenn sie nicht mehr weiterweiß, krabbelt sie unter die Matratze ihres Betts und klopft auf den Bettrahmen, dreht das Lied von der Biene Maja laut auf. Oder sie geht in den Bauwagen, der im Garten steht. Dort sind alle ihre Superman-Bücher.
Fanny ist 8 Jahre alt und sie ist autistisch.
Ein jeder wird seine eigene Last tragen.
2. Normal sein wollen
Seit über einem Jahr trägt Fanny einen Supergirl-Anzug, den ihr ihre Mutter zum Fasching genäht hatte. Und sie trägt nur den.
Fanny weiß, dass sie anders ist als die anderen Kinder. Sie will so sein wie sie. Aber sie kann es nicht. Und so ist sie für die anderen zwar keine Systemsprengerin, aber ein Fehler im System. Wegen ihr muss die Lehrerin manchmal den Unterricht unterbrechen. Und die anderen Kinder lachen über ihren Anzug. Eines Tages kommt sie im Schlafanzug in die Schule, weil ihre Eltern sie baten, mal was anderes anzuziehen. Da lachten sie noch mehr. In der Schule hat Fanny aber keine Matratze, unter die sie krabbeln kann.
Der Vater hat einen guten Job, ist dadurch aber viel weg. Wenn er zuhause ist, ist er derjenige, der mit Fanny reden kann, und bringt Ruhe hinein. Aber meistens ist die Mutter, Tilda, alleine zuständig. Sie arbeitet bei einer Autovermietung, sorgt dafür, dass Fanny den Rhythmus hat, den sie braucht – und sie versucht sie zu schützen. Und hat das Gefühl, nur sie kann das wirklich.
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
3. Alles richtig machen
Fannys Mutter Tilda sträubt sich heftig gegen professionelle Hilfe. Sie hat Angst vor Psychologinnen und Psychiatern, weil ihre eigene Mutter psychisch krank war. Sie will alles richtig machen, will, dass alles „normal“ ist. Tilda setzt sich dadurch unter so großen Druck, dass sie selber immer öfter zusammenbricht. „Ich will endlich mal was tun, was ich richtig gut kann“, sagt sie zu ihrem Mann. „Mutter sein kann ich nicht. Aber in meinem früheren Beruf Flugbegleiterin – da war ich richtig gut.“
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.
4. Gemeinde sein
Alles richtig machen – das wollen die Christen und Christinnen in Galatien auch. Sie wollen gleich sein, wollen sich an die Regeln halten, die es seit jeher für Gottgläubige gab. Beschneidung, Essen, Fasten – alles, was es so gab, um dazu zu gehören. So war halt das System.
Paulus hält das für falsch. Niemand soll erst Jude werden müssen, um Christ zu sein. Die Christen und Christinnen sollen unterschiedlich sein dürfen. Es sind ja Sklavinnen und Bürger, Frauen und Männer, Familienoberhäupter und Kinder, Schwarze und Weiße. Niemand von ihnen ist wichtiger oder besser als die anderen. Die Hierarchien, die sie aus ihrer Umwelt kennen, die soll es in der Gemeinde nicht geben. Die weltlichen Maßstäbe zählen nicht. Was zählt, ist: Wir müssen gar nichts tun, um liebenswert zu sein, um richtig zu sein. Jeder und jede ist ein Geschenk Gottes – wertvoll und von Gott geliebt. Gehört zu Gott. Mit Geist erfüllt.
Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.
Wer glaubt, er oder sie müsse alles alleine können, täuscht sich. Und überfordert sich selbst. Wie Tilda. Gefangen in einem Teufelskreis aus Normalseinwollen und alles richtigmachen und Druck von außen und sich nicht helfen lassen können. Wie gut kenne ich das von mir.
Gott hat dich lieb, so wie du bist. Sagt Paulus zu Tilda.
Gott hat Fanny lieb, so wie sie ist. Sagt Paulus zu Tilda und zu den Nachbarskindern. Seid füreinander da. Ihr braucht euch doch. Niemand muss es alleine schaffen. Niemand kann es alleine schaffen. Zeigt das, sagt Paulus. Zeigt, wie gut ihr euch ergänzt. Zeigt, dass ihr Gottes Kinder seid. Unterstützt euch. Stärkt euch und tragt eure Lasten gemeinsam.
Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden;
denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen.
5. Füreinander da sein
Eines Morgens trifft Fanny in ihrem Bauwagen auf einen alten Mann. Es ist Oskar, ihr Opa. Ihre Mutter Tilda hat ihr nie was von einem Opa erzählt, denn sie schämt sich für ihren Vater und ist wütend auf ihn. Er hat sie im Stich gelassen und ist dann sogar noch im Gefängnis gelandet. Wegen Unterschlagung. Ein Hochstapler ist Oskar. Einer, der gerne Geschichten erzählt und die Wirklichkeit gekonnt ignoriert. Nun ist er aus dem Gefängnis entlassen und steht alleine da. Ein Außenseiter. Einer, dem es nichts ausmacht, im Bademantel durch die Stadt zu laufen oder die spießige Nachbarin vorzuführen.
„Ich habe keinen Opa“, sagt Fanny zu dem alten Mann. Also stellt er sich als Professor Krypton vor. Er erkennt sofort, dass Fanny ein besonderes Kind ist, ein Supergirl, wie von einem anderen Planeten. Und irgendwie scheint auch er von einem anderen Stern zu kommen. Warum also nicht von Krypton, wie Superman?
Fanny akzeptiert das – und die beiden freunden sich an.
Natürlich bekommt das irgendwann auch Tilda mit. Nach dem ersten Entsetzen sieht sie die Chance, mit Oskars Hilfe wieder in ihren Beruf einzusteigen. Oskar kann ja für ein paar Tage auf Fanny aufpassen. Natürlich geht dann alles drunter und drüber. Zwei Außerirdische, die sich nicht an die Normen halten. Sie kaufen mit Tüten auf dem Kopf ein, setzen Sonnenbrillen im Schatten auf, essen Vanilleeis zu Mittag und wollen das Supertalent von Fanny herausfinden.
Oskar ist aber für Fanny endlich einer, der sie nicht nur akzeptiert, sondern weiß, dass sie was zu bieten hat. So wie sie ist. Und er schafft es, auch die anderen Kinder davon zu überzeugen. Und Fanny ist für Oskar endlich eine, die ihn nicht ändern will, sondern der er helfen kann – mit seiner Begabung Geschichten zu erfinden. Er hat ja nicht mehr viel Zeit, weil er alt ist.
Einer trage des anderen Last.
Und Tilda: Sie kann endlich akzeptieren, dass ihr Kind anders ist und dass sie als Familie nicht „normal“ sein müssen. Sie akzeptiert endlich, dass andere es genauso gut machen können, auch wenn sie es ganz anders tun. Nicht nur sie weiß, was für Fanny gut ist. Und als sie das akzeptiert, findet sie ihre Freiheit wieder.
6. Im Geist leben
Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln.
Wir sind Gottes Kinder. Wir – die unperfekten Supergirls und Superboys. Wir brauchen nicht stärker oder besser oder normaler zu sein. Feiern wir unsere Vielfalt. Lasst uns nicht irgendwelche Normen erfüllen oder gar noch Schranken aufbauen, wer dazu gehört und wer nicht. Laden wir die Fannys und Oskars und Tildas ein – hier in die Kirche. Oder noch besser: Gehen wir mit einem Tisch raus und laden die ein, die da in unserer Stadt unterwegs sind: die mit den Tüten auf dem Kopf und den Sonnenbrillen im Schatten. Wir gehören doch zusammen, wir Gottes-Kinder. Und wir brauchen uns. Lasst uns unsere Lasten gemeinsam tragen. Teilen wir unsere Sorgen. Unterstützen wir uns und ganz besonders die, die unter ihrer Last zusammenbrechen. Am himmlischen Tisch haben wir alle unseren Platz. Da können wir ausruhen und verrückte Pläne aushecken. Pläne wie von einem anderen Stern. Und ganz oben – am oberen Ende – da sitzt der, der für uns da ist: Jesus. Und er nimmt uns alle Last ab.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinnen in Christus Jesus.
Amen.
[Dieser Predigt liegt der Film "Oskar, das Schlitzohr, und Fanny Supergirl" zugrunde.]
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die sich Tag für Tag bemühen, alles richtig zu machen und dadurch unter Druck stehen. Ich habe Familien vor Augen, die dem Druck ausgeliefert sind, möglichst „normal“ zu sein. Dass ihre Kinder krank sind oder aus anderen Gründen aus dem Rahmen fallen, macht ihnen Sorge. Ich habe auch die Menschen vor Augen, denen es schwer fällt, sich helfen zu lassen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Film „Oskar, das Schlitzohr, und Fanny Supergirl“, der zur Zeit in der Mediathek der ARD läuft – meine Tochter hat mich auf diesen Film aufmerksam gemacht. Und für mich ist diese Geschichte wie eine neue Auslegung der Paulus-Worte gewesen. Ich hoffe, dass dies meinen Hörer*innen auch so geht, selbst wenn sie den Film nicht kennen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Entdeckung, dass Paulus mit den „Lasten“ gerade das meint, was wir uns selber mit unserem Perfektionswahn und „Sich rühmen wollen“ auferlegen. Und wie eng das Geschehen-lassen und Andere-so-sein-lassen zusammenhängen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Meine Predigtcoach hat mir hilfreiche Fragen gestellt, die meine Struktur klarer werden ließen. Sie überzeugte mich davon, meinen Gedankengang zu fokussieren und andere Beispiele, die ich im ersten Entwurf drinnen hatte, zugunsten einer Konzentration auf das Duett Fanny/Oskar/Tilda und Paulus zu verzichten. Eine weitere Leserin zeigte mir die paulinischen Dimensionen in der Figur der Tilda stärker auf. Für beide Interventionen bin ich sehr dankbar.