Unter Menschen - Predigt zu Apostelgeschichte 10,21-35 von Barbara Bockentin
10,21-35

Dilara umarmte ihre Mutter, bevor sie die Wohnungstür hinter sich schloss. Draußen atmete sie noch einmal tief durch. Sie strich durch ihre Haare. So nervös war sie schon lange nicht mehr gewesen. Heute war ein wichtiger Tag für sie. Das Aufnahmegespräch in der Altenpflegeschule stand an. Die Berufswahl war ihr leicht gefallen. Denn sie genoss es, mit alten Menschen zusammen zu sein. Dilara reckte den Kopf in die Höhe und begann energisch auszuschreiten. Nach einer kurzen Busfahrt, einem noch kürzeren Fußweg öffnete sie die Tür der Schule. Andere waren schon vor ihr da, sie musste warten.

Am Nachmittag erzählte sie von dem Gespräch. Ihre Familie war neugierig und stellte Fragen über Fragen. Dabei schwang leichte Skepsis mit, denn Dilara hatte sich für die evangelische Altenpflegeschule entschieden. Christentum und Islam ging das überhaupt zusammen? Dilara sprudelte nur so mit ihren Antworten heraus. Sie freute sich. Die Bedenken ihrer Familie teilte sie nicht.

 

Im August würde es losgehen. Einen Platz für ihre praktische Ausbildung hatte sie auch schon. Es war eine Einrichtung der Diakonie, in der sie arbeiten würde. Sie war überglücklich. Nun fieberte sie dem ersten Schultag entgegen.

Dann war es soweit: Dilaras erster Schultag. Das Fach Religion gehörte ebenso zu ihrem Schulalltag wie pflegerische oder medizinische Themen. Vor allem bei den Themen, die sich mit dem Umgang mit alten Menschen beschäftigten, lebte sie regelrecht auf. Vieles war ihr vertraut, denn der Respekt vor alten Menschen wurde in ihrer Familie gelebt. Lebhaft diskutierte sie mit den anderen in ihrer Klasse über ethische Fragen. Dabei empfand sie keinen so großen Unterschied zu dem, was ihre Religion zu sagen hatte.

Damit beschäftigte Dilara sich auch außerhalb der Schule weiter. Sie suchte das Gespräch mit ihrer Familie. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um diese beiden Fragen: „Ist es wichtig, woher der Mensch kommt oder an welchen Gott er glaubt? Oder ist es wichtiger, dass er Menschen liebt?“

 

Einige Wochen später stand Dilara pünktlich morgens um 6 Uhr im Stationszimmer ihres Altenpflegeheims. Sie wartete. Gerade hatte keiner Zeit für sie. Aufmerksam schaute sie sich um. Neben dem Stationszimmer saß eine alte Frau im Sessel. Sie war eingenickt. Hinter ihr kam ein alter Mann mit einem Rollator über den Flur geschoben.

Im nächsten Moment stand eine Altenpflegerin vor Dilara. Fragend schaute sie Dilara an. „Du bist die neue Schülerin? Ich bin Jutta. Wir sagen hier alle Du zueinander.“ Dilara nickte. „Dann komm mal mit. Ich zeig dir, wo du deine Sachen lassen kannst.“ Bis zur Pause verging die Zeit wie im Flug. Jutta zeigte ihr die Station, auf der sie arbeiten würde. Dilara versuchte sich zu merken, was sie hörte. So viele Einzelheiten. Ihr schwirrte der Kopf. Dann war endlich Pause.

Jetzt war Gelegenheit, die anderen ein wenig kennenzulernen. Sie frühstückten mitten auf dem Stationsflur. Einige Bewohner saßen um sie herum. Dilara stand unvermittelt auf. Ihr war aufgefallen, dass einer Frau ein kleiner Zettel aus der Hand gefallen war. Sie hob ihn auf und reichte ihn der Frau. Die anderen hatten das gar nicht mitbekommen.

Später half Dilara beim Mittagessen. Jutta zeigte ihr einen alten Herrn, der Hilfe beim Essenanreichen braucht. Sie setzte sich neben ihn. „Hallo, ich heiße Dilara. Ich möchte ihnen gerne helfen. Darf ich?“ „Ich bin Leo Bremer. Sie sind wohl nicht von hier?“ Dilara ging innerlich auf Abstand. Solche Sätze kannte sie zur Genüge. „Doch, ich bin hier geboren.“ „Aber ihr Name.“ „Meine Eltern sind Türken.“ „Hab‘ ich mir´s doch gedacht.“ Dilara schluckte. Sie lächelte Leo Bremer an. „Was?“ „Na, dass sie nicht von hier sind.“ Dann deutete Leo Bremer auf seinen Teller. „Was ist nun? Ich habe Hunger. Da ist es doch vollkommen egal, wer mir hilft. Hauptsache, es tut jemand.“

 

Inzwischen sind einige Wochen vergangen. Dilara geht immer noch mit viel Freude zu ihrer Arbeit. Viele neue Eindrücke jeden Tag. Das was sie bislang in der Schule gelernt hat, kann sie jetzt hier anwenden. Die Skepsis, die ihr anfangs entgegenschlug, ist geringer geworden. Sicher, hin und wieder gibt es Bemerkungen. Aber im Großen und Ganzen geht alles gut. Jutta ist eine aufmerksame Mentorin. Sie erklärt gut und beobachtet genau. Ihr ist nicht entgangen, dass Dilara sehr aufmerksam ist. „Du machst das sehr gut. Die Bewohner mögen dich. Sie spüren, dass du sie in dein Herz geschlossen hast.“ „Ich bin doch irgendwie dafür verantwortlich, dass sie sich wohl fühlen. Für mich ist das selbstverständlich.“

Heute ist Freitag und in dieser Woche hat sie Spätdienst. Die Beschäftigungstherapeutin hat sie gebeten, sie zu unterstützen. Dabei ist sie sehr vorsichtig. „Das macht dir doch nichts aus? Den Bewohnern ist der Gottesdienst wichtig.“ „Nein. Das ist in Ordnung. Fragst du, weil ich Muslima bin?“ Ella nickt. „Ja, ich möchte nicht, dass du dich unwohl fühlst. Andere Kolleginnen machen das nur ungern. Die frage ich inzwischen nicht mehr.“ „Mich kannst du fragen und ich tu es gerne. Den alten Leuten ist es wichtig, zum Gottesdienst zu kommen. Alleine schaffen es die meisten von ihnen ja nicht. Ich finde, das können sie von uns erwarten, dass wir da helfen. Das hier ist doch ein christliches Haus. Da gehört das einfach dazu.“ Ella schaut sie erstaunt an. Mit so einer langen Antwort hat sie nicht gerechnet. Sie überlegt. Dann sagt sie nur: „Gut, um viertel nach drei müssen die ersten nach unten gebracht werden.“ Beim Gehen dreht sie sich noch einmal um: „Wäre schön, wenn du dann bei Frau Schiller sitzen bleiben könntest. Wenn niemand ihre Hand hält, wird sie immer so unruhig. Früher ist sie nämlich immer mit ihrem Mann gemeinsam in den Gottesdienst gegangen.“ Dilara lächelt. „Gerne.“

 

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Barbara Bockentin

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
In Delmenhorst gibt es eine evangelische Altenpflegeschule und ein Altenpflegeheim, beide sind in Trägerschaft  der  Kirchengemeinden in Delmenhorst. Das Altersheim ge-hört zu der Kirchengemeinde in der ich tätig bin. Aufgrund des Personalmangels wer-den immer wieder Fragen laut, nach welchen Kriterien Pflegekräfte  eingestellt werden. Gerade bei muslimischen Bewerber*innen taucht die Frage auf, ob das in einer evange-lischen Einrichtung geht. Für die Schule ist diese Frage allerdings nicht relevant.
 

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Bei der Vorbereitung hat mich die Frage bewegt, wie sich denn das spezifisch Christliche in der Pflege äußert. Messen wir da nicht vielmehr mit zweierlei Maß, indem bei auslän-dischen Kräften genau darauf geschaut wird, bei den anderen hingegen nicht? Mit solchen oder ähnlichen Fragen beschäftigen sich auch Bewohner*innen und deren Angehörige.

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ganz überrascht war ich, wie der Bibeltext  und die Situation in der Pflege miteinander zu versprechen waren. Nachdem ich darauf gestoßen war, war es auch einfach, die Predigt zu formulieren. Die Frage, wie das, was für den christlichen Glauben entscheidend ist  in die-sem Fall Nächstenliebe), im Alltag - und gerade in diesem sensiblen Umfeld – gelebt und gestaltet werden kann, bleibt. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Dass es vor Gott auf unser Handeln ankommt, ist mir hier wichtig geworden.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Besonders hilfreich fand ich die Anregungen, die sich mit der Ausgestaltung der von mir gewählten Form der Erzählung befasst haben. Doch auch die Anregungen, die sich auf das Sichtbarmachen der Person der Predigerin bezogen, haben mich beschäftigt und dazu ge-führt, mich aus anderer Perspektive mit der von mir gewählten Predigtform zu beschäfti-gen.

 

Perikope