Unterm Feigenbaum - Predigt zu Mi 4,1-5(7b) von Susanne Ehrhardt-Rein
4,1-5(7b)

Vor einigen Jahren habe ich einen kleinen Feigenbaum in einen Blumentopf gepflanzt. Inzwischen wächst er in einem größeren Blumenkübel. Er wird gehegt und gepflegt, im Frühjahr vorsichtig beschnitten und gedüngt. In diesem Jahr trug er zum ersten Mal einige Feigen. Nicht alle wurden reif, aber einige doch: süß und saftig, ein Vorgeschmack auf kommende Früchte. Ich muss Geduld haben. Das Bäumchen braucht noch Zeit. Es wächst langsam, wie ein Kind, aber es wächst. Ich träume davon, eines Tages in seinem Schatten zu sitzen, an der geschützten Südwand eines Hauses vielleicht. Dann wird der Baum groß sein und jedes Jahr Früchte tragen. Ich werde ihn schützen vor Frost und Trockenheit. Wenn ich unter seinen Zweigen sitze, werde ich alt sein, richtig alt. Ich sitze dort und lese eine Nachricht auf meinem Tablet. Meine Enkelin hat sie geschrieben. Sie ist 19 Jahre alt. Gerade erst hat sie die Schule abgeschlossen. Wir stehen uns sehr nahe und als sie kleiner war, haben wir oft Zeit zusammen verbracht. Jetzt ist Elisabeth erwachsen, eine junge Frau. Neugierig auf das Leben und nachdenklich. Vor vier Wochen ist sie nach Israel aufgebrochen, um in Jerusalem ein Soziales Jahr zu absolvieren. Es ist Ende Oktober 2050.

Jerusalem, 27.10.2050

Liebe Oma,
endlich habe ich Zeit, Dir ausführlicher zu schreiben. Du weißt ja schon, dass ich gut hier angekommen bin. In den ersten vier Wochen hatten wir einige Seminare und Einführungen, um die Stadt und das Land besser kennenzulernen. Unsere Gruppe ist international gemischt, das ist wirklich toll. Meistens sprechen wir Englisch, aber ich habe jetzt auch einen Kurs für Ivrit angefangen und kann auch ein bisschen französisch sprechen. War die Schule doch nicht umsonst… Hier kommt gleich noch ein Foto – neben mir siehst Du Saba. Wir haben uns gleich angefreundet. Sie kommt aus Gaza. Nächstes Jahr will sie ein Medizinstudium beginnen und plant ein Praktikum in Deutschland. Ich habe sie schon eingeladen, mich zu besuchen. Ab nächsten Montag werde ich in einem israelisch-palästinensischen Kindergarten arbeiten, das wird sprachlich bestimmt nicht ganz leicht. Aber es wird mir auch helfen beim Lernen. Hauptsache, die Kinder mögen mich.
Es ist alles so neu und aufregend für mich: Die alte Stadt mit ihren Gassen und Mauern aus hellen Steinen. Die vielen Menschen, die sich in den Straßen drängen. Es gibt ja noch die Viertel, die von bestimmten Traditionen und Gruppen geprägt sind: das orthodoxe jüdische Viertel, die Häuser der armenischen Christen, die moderne Stadt im Westen und das große muslimische Viertel im Osten. Ich bin schon viel durch die Stadt gelaufen, überall ist so viel los. Man merkt das auch an der Straßenbahn. Alle fahren damit, das ist bequem und schnell. Du hast mir erzählt, dass es schon vor vierzig Jahren so war, manches bleibt eben auch gleich, wenn es gut funktioniert. Was heute aber bestimmt anders ist: Niemand hat Angst, dass irgendwo eine Bombe explodieren könnte. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass in diesem Land vor 25 Jahren noch Krieg war.

Morgen Abend bin ich zum Schabbat bei Michals Familie eingeladen. Auf dem zweiten Foto siehst du sie, es ist die mit dem bunten Tuch. Michal ist auch in unserer Freiwilligen-Gruppe und auch mit Saba befreundet. Sie haben zusammen ein Foto-Projekt gestartet und haben das in unserer Gruppe schon vorgestellt: Israel – Palästina – Gesichter des Friedens. Vielleicht kann ich dabei auch mitmachen. Ich bin jedenfalls ständig am Fotografieren.
Ich will unbedingt von Dir hören, was Du hier vor so langer Zeit erlebt hast. Dann kann ich vielleicht besser verstehen, warum viele dieses Land heute so ungewöhnlich finden. Lass uns bald auch wieder per Videocall sprechen. Ich freue mich schon! Deine Elisabeth

Ja, ich habe auch große Lust, mit Elisabeth per Videocall zu sprechen. Aber erst einmal schreibe ich ihr eine Nachricht zurück. Dann kann sie vielleicht schon besser verstehen, warum ich ihre Reise so wunderbar finde.

Meine liebe Elisabeth,
Deine Nachricht bewegt mich sehr! Du hast so lange darauf gewartet, endlich in die Welt zu ziehen. Und nun bist Du in dieser alten, schönen Stadt. So viel Geschichte, und so viele Geschichten! Ich erinnere mich an die goldenen Kuppeln und die hellen Steine. Und natürlich an die Straßenbahn, von der ich Dir schon erzählt habe. Bei meinem ersten Besuch in Jerusalem gab es sie erst seit kurzer Zeit. Sie hat schon damals vom Damaskustor vor der Altstadt bis in den Westen der Stadt die Viertel miteinander verbunden. Aber sie war auch immer ein Ort der Angst und des Schreckens. Kurz nach unserem Besuch 2012 explodierte eine Bombe an einer Haltestelle, es gab viele Verletzte und Tote. Und so ging es weiter, es gab keinen Frieden für Jerusalem, für Israel und Gaza. Am schlimmsten wurde es Mitte der zwanziger Jahre, mit dem Terroranschlag der Hamas im Süden und dem Gaza-Krieg. Es war eine Katastrophe, es gab keine Hoffnung auf einen Frieden, der wirklich hält und für alle gerecht ist.

Aber jetzt scheint es wirklich endlich besser zu werden: Jerusalem unter internationaler Aufsicht, eine Stadt, in der Platz ist für alle, die dort leben: jüdische und muslimische Familien, Menschen aller Traditionen, mit und ohne Religion, verschiedene christliche Gemeinden, modernes Leben. Es sind keine bewaffneten Soldaten mehr unterwegs, das ist gar nicht nötig. Und Du bist mittendrin – das ist wirklich wunderbar! Und Du hast ja gleich Freundinnen gefunden – das passt wirklich zu Dir! Warst Du schon in der alten Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg? Die Tauben fliegen durch die offenen Fenster, wie auf der biblischen Arche. Hoffentlich hält dieser Frieden!
Ich umarme Dich ganz fest, Deine Oma

So träume ich. Mitten in kriegerischen Zeiten träume ich vom Frieden. So wie Micha, der Prophet, von Gottes Frieden träumt. Der Frieden ist noch zu klein. Damals und heute. Noch sitze ich nicht unterm Feigenbaum, auch er ist noch zu klein. Noch ist meine Enkelin nicht geboren. Noch gibt es keinen Frieden – nicht in der heiligen Stadt, nicht in Israel und Palästina, nicht im Libanon, nicht in der Ukraine. Aber den Traum vom Frieden hat Gott uns ins Herz gepflanzt. Wie einen Feigenbaum, der noch klein ist. Aber er wächst und wächst. Der Prophet Micha sieht den Feigenbaum, und er sieht die Menschen, die darunter sitzen. Auf dem Zion, dem Berg Jerusalems, wächst er. Der Traum vom Frieden ist alt, wie der Berg, wie die Stadt. Diesen Traum gebe ich nicht auf: dass dieser Frieden kommt, dass Elisabeth und alle, die noch geboren werden, diesen Frieden erleben. Der Tag wird kommen, an dem es diesen Frieden gibt: Kein Raketenangriff auf Haifa. Kein Bombenalarm in Odessa. Keine Hassparolen in Berlin. In Moskau haben freie Wahlen stattgefunden und in China gibt es keine Gefangenenlager mehr. Auf einer Klimakonferenz haben alle Staaten beschlossen, das fossile Zeitalter endgültig zu beenden. Die armen Länder werden entschuldet und die Bewohner der untergegangenen Fidschi-Inseln sind in Australien gastfreundlich aufgenommen worden.

Und so weiter. Träume sind nicht die Wirklichkeit. Aber ohne den prophetischen Traum vom Frieden Gottes für die Welt wäre es zum Verzweifeln. Dieser Traum zeigt, was jetzt fehlt. Er zeigt die offenen Wunden unserer Gegenwart. Er zeigt, was uns heute so schmerzt: Die Bombenkrater und die überfluteten Städte. Die Tunnel voller Waffen und die verletzten Kinder. Die Gleichgültigkeit der reichen Länder und unsere eigene Verzagtheit.

Gott hat uns seinen Traum vom Frieden ins Herz gepflanzt. Wie ein kleiner Feigenbaum ist er dort eingewurzelt und wächst. Langsam, aber stetig. Er braucht Pflege und Schutz. Irgendwann ist er zu groß für ein einzelnes Herz. Er muss ins Freie gepflanzt werden, die Tauben sitzen auf seinen Zweigen und er wird Früchte bringen. Wir werden in seinem Schatten sitzen und uns an Gottes Versprechen erinnern. Seine Früchte werden reif zu ihrer Zeit. Darauf hoffe ich mit dem Propheten Micha. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Susanne Ehrhardt-Rein

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt werde ich im Gottesdienst eines Kurswochenendes des Kirchlichen Fernunterrichts halten. Etwa 25 hochengagierte Menschen treffen sich an diesem Wochenende zum letzten Mal im Kurs. Wir haben in den letzten zwei Jahren viele Themen miteinander bearbeitet und intensiv die Spannung zwischen Glaubenserfahrung und historisch-wissenschaftlich orientierter Theologie erlebt. Ich möchte mit meiner Predigt Michas prophetische Friedenshoffnung in die Gegenwart sprechen lassen – auch als Hoffnung, die uns verbindet und trägt.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die intensiven Bilder des Textes, meine persönliche – widersprüchliche – Erfahrung mit der Losung „Schwerter zu Pflugscharen“ und der Wunsch, der kriegerischen Gegenwart eine Hoffnung entgegenzusetzen – das alles hat mich erst einmal unter Druck gesetzt. Die exegetische Arbeit hat dann zur Nüchternheit beigetragen und daraus entstand Lust am Träumen und Schreiben.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der endzeitliche Frieden Gottes ist mehr als ein Traum für die Welt – aber eschatologisches Träumen hilft gegen Verzagtheit und Mutlosigkeit. Wie wird es sein, in diesem Frieden zu leben? Und wo wirkt die Hoffnung auf diesen Frieden in der Welt, schon jetzt oder eben in einigen Jahren? Das will ich mir vorstellen und ausmalen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Wichtige Sätze und Gedanken mehrmals formulieren und durch Wiederholungen die Predigtteile verknüpfen, in der Beschreibung von Bildern konsequent bleiben und keine „Fachbegriffe“ verwenden – das waren sehr hilfreiche Hinweise für die Bearbeitung.

Perikope
10.11.2024
4,1-5(7b)