Verdienst und Gnade
Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg einzustellen. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere müßig auf dem Markt stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand eingestellt. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde eingestellt waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und auch sie empfingen ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.
Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du scheel drein, weil ich so gütig bin?
Liebe Gemeinde!
Das Verhalten des Gutsbesitzers im Gleichnis löst Diskussionen aus. Und das hat dieser durchaus beabsichtigt. Ganz gezielt wird denen der Lohn als erstes ausgezahlt, die am kürzesten gearbeitet haben. Und sie erhalten zur allgemeinen Überraschung einen vollen Tageslohn. Fast schon mit Hinterlist wird bei denen, die am längsten gearbeitet haben, dadurch Hoffnung geweckt: Wenn der Gutsbesitzer zu denen, die nur kurz gearbeitet haben, so großzügig ist, wie werden dann erst wir für unsere harte Arbeit belohnt werden. Im Kopf wird schon eifrig überschlagen, was da wohl herausspringt und was man sich dafür kaufen könnte. Und dann diese Enttäuschung: Alle bekommen denselben Lohn, ganz gleich ob sie kurz oder lange gearbeitet haben. Das grenzt an Betrug, toben die einen, und die anderen werden sich schnell aus dem Staub machen, bevor ihnen ihr Lohn streitig gemacht wird. An Gesprächsstoff wird an diesem Abend kein Mangel gewesen sein. Unsere Konfirmandinnen und Konfirmanden haben sich einmal überlegt, was die verschiedenen Arbeiter zu Hause wohl jeweils berichtet haben:
„Den ganzen Tag habe ich mich abgerackert! Von morgens bis abends! In der prallen Sonne, in quälender Hitze! Den ganzen Tag! Und der Gutsbesitzer zahlt mir genauso viel wie den Arbeitern, die erst am Abend eingestellt wurden und nur eine Stunde gearbeitet haben. Das ist ungerecht! Morgen fange ich auch erst bei Sonnenuntergang an zu arbeiten. Dann spare ich meine Energie und kriege trotzdem gleichviel Geld. Der Gutsbesitzer kann mich mal!“
Ein anderer, der ebenfalls lange gearbeitet hat, klingt ganz ähnlich: „Es ist ungerecht, dass die, die sich einen Großteil der Zeit auf die faule Haut gelegt haben, genauso viel wie wir an Lohn bekommen haben!“
Ein dritter schließt seinen Bericht mit den Worten: „Morgen warte ich einfach bis abends, dann wird er mich wohl auch einstellen, und ich muss weniger arbeiten.“
Aus Sicht derer, die kurz gearbeitet haben, stellt sich die Sache natürlich anders dar. Einer berichtet zu Hause: „Eigentlich war klar, dass ich nicht den vollen Tageslohn bekommen würde, aber besser als nichts. Also ging ich mit in den Weinberg. Nach einer Stunde Arbeit rief uns der Weinbergbesitzer zu sich und ließ allen einen ganzen Tageslohn auszahlen. Vielleicht war es ja ein Geschenk Gottes. Aber morgen werde ich den ganzen Tag arbeiten, sonst wäre es ja nicht fair.“
Ein zweiter zieht einen anderen Schluss. Auch er freut sich über den unverhofften Tageslohn. Aber er fühlt sich dadurch zu nichts verpflichtet. Am nächsten Tag will er wieder erst am Abend zur Arbeit kommen. So lange es dafür dasselbe Geld gibt, wäre alles andere ganz schön blöde.
Aber die meisten derer, die kurz gearbeitet haben, reagieren anders. Sie nehmen sich vor: „Morgen werde ich schon ganz früh morgens da sein, um das viele Geld mit harter, fleißiger Arbeit zurückzuzahlen, das ich heute für die wenige Arbeit bekommen habe.“
Der Gutsbesitzer im Gleichnis wollte Diskussionen auslösen und das ist ihm gelungen. Und Jesus, der den Gutsbesitzer und das Gleichnis erfunden hat, zieht uns mit seiner Erzählung in die Diskussion zwischen denen, die lange und denen, die kurz gearbeitet haben, mit hinein. Was ist gerecht? Darf jemand hart arbeitende Menschen so provozieren? Darf man mit seinem Vermögen für Streit und Neid sorgen?
Das Gleichnis Jesu löst Diskussionen aus. Es sperrt sich gegen einfache Lösungen. Als Modell für Tarifverträge eignet es sich schon einmal nicht. Tarifverträge nach dem Muster des Verhaltens des Gutsherren würde nicht nur die Arbeitsmoral, sondern auch den Betriebsfrieden nachhaltig stören. Unterschiedliche Belastungen, Qualifikationen und Verantwortungsbereiche müssen sich in der Bezahlung irgendwie widerspiegeln. Sonst bricht die Motivation zusammen.
Was aber ist dann gemeint und worauf zielt der Impuls, den das Gleichnis setzen will?
Eine andere Lösung klingt da schon deutlich passender: Der im Gleichnis vereinbarte Tageslohn von einem Denar oder Silbergroschen dürfte in etwa dem entsprechen, was damals eine kleinere Familie täglich zum Überleben benötigte. Die Botschaft des Gleichnisses wäre dann: Es soll keiner Hungern. Alle haben Anspruch auf genügend Nahrung. Neid ist da völlig unangemessen, wo es ums Überleben geht.
In diese Richtung wird man das Gleichnis interpretieren können und in diese Richtung hat es auch gewirkt. Dass in unserem Land jeder Mensch Anspruch auf Nahrung, Obdach und Gesundheitsversorgung hat, auch dann, wenn er durch eigene Arbeit nichts für deren Finanzierung beitragen kann, liegt ganz auf der Linie unseres Gleichnisses. Auch wenn hier noch manche Wünsche offen sind – aus der Perspektive der Tagelöhner unseres Gleichnisses wären die sozialen Sicherungssysteme unserer Gesellschaft dem Himmelreich schon sehr nahe.
So richtig diese Lösung sein mag, so sehr bleibt der Eindruck zurück, dass das noch nicht alles sein kann, was das Gleichnis sagen könnte. Für den einfachen sozialen Appell: Alle sollen satt werden! – wäre kein solch erzählerischer Aufwand erforderlich gewesen. Dazu hätte es der Provokation der lange im Weinberg Arbeitenden nicht bedurft. Die raffinierte Erzählstruktur, die geradezu aufreizende Geldauszahlungsszene muss noch einen anderen Hinweis enthalten.
Ich denke, es ist folgender: Wir Menschen gehen in unserem alltäglichen Denken und Verhalten zumeist davon aus, dass der andere sein Schicksal sich irgendwie selbst verdient hat. In Worte gefasst klingen unsere Alltagsunterstellungen etwa so: Wer viel arbeitet, bringt es auch zu etwas. Wer wenig tut, der hat auch wenig. Bildung und Einkommen hängen ganz offensichtlich zusammen, das lehrt die Statistik: Je höher der Bildungsabschluss, desto höher im Durchschnitt das Einkommen. Schlechte Noten in der Schule sind ein Armutsrisiko und ungenügende Bildung ist auf Dauer auch ein Kriminalitätsrisiko. Außerdem gilt: Wer arm ist, stirbt im Durchschnitt früher, weil arme Menschen eher weniger auf ihre Gesundheit achten, mehr Alkohol zu sich nehmen und dicker sind. Überhaupt bringt Fettleibigkeit ein erhöhtes Krebsrisiko mit sich, von den Risiken für Herz und Kreislauf einmal ganz abgesehen.
Für unser Alltagswissen hängt das Schicksal eines Menschen ganz eng mit seinem Verhalten zusammen. Und die ganzen statistischen Informationen zu Krankheit, Kriminalität, Bildung, sozialen Faktoren, die wir über Zeitung, Fernsehen, Internet mitbekommen, bestärken uns in dieser Einschätzung noch. Wir können uns zwar klarmachen, dass die meisten der genannten Zusammenhänge nur statistisch bestehen und Rückschlüsse auf den Einzelfall oder gar Einzelfallprognosen damit völlig unzulässig und irreführend sind. Unserem Alltagswissen ist das aber egal. Es bleibt dabei: Von einzelnen Unglücksfällen abgesehen, hat man sich sein Schicksal selbst verdient und selbst zuzuschreiben.
Auch zu Jesu Zeiten hat das Alltagswissen der Menschen schon so funktioniert: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern“ wird Jesus von seinen Jüngern gefragt als er einen Blindgeborenen heilen will (Johannes 9,2). Irgendeiner muss verantwortlich sein für das Unglück des Blinden, so denken die Jünger. Das Opfer muss zu allem Unglück auch noch die Schande tragen, irgendwie selbst an seinem Schicksal schuld zu sein. Auch auf unseren Schulhöfen kann man als Schimpfwort den Ausspruch hören: „Du Opfer!“ – Wie wohltuend ist es doch da von Jesus über den Blindgeborenen zu hören: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern“. Jesus durchbricht mit aller Deutlichkeit die unheilvolle Unterstellung als sei man am eigenen Ergehen selbst schuld.
Und noch eine andere, ziemlich unbekannte Äußerung Jesu weist in dieselbe Richtung (Lukas 13,1-4): „Es kamen […] einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? […] Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen?“
Für Jesus ist klar: Wer Unglück erleidet, ist nicht schuldiger als der, der heil davon kommt. Und genauso wenig wie das meiste Unglück in der Welt verdient ist, genauso wenig ist das meiste Glück in der Welt verdient. Dass jeder seines eigenen Glückes oder seines eigenen Unglückes Schmied ist, ist eine grandiose Selbsttäuschung der Menschen. Diese Selbsttäuschung mag zu manch großer Leistung motivieren, aber im Grunde ist das ganz und gar unrealistisch, hochmütig und selbstgerecht.
Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matthäus 5,45) Auch dieser Satz stammt von Jesus und er macht noch einmal klar, dass jeder Versuch Sonnenschein, Wetter oder Lebensglück sich selbst und der eigenen Leistung oder moralischen Qualität zuzuschreiben an der Realität völlig vorbei geht.
Wer im Gleichnis Glück hatte und schon früh eine Arbeit bekam, soll darüber einfach froh sein. Er hat zwar hart gearbeitet, musste sich aber den ganzen Tag nie Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen. Wer im Gleichnis vom Pech verfolgt ist und den ganzen Tag um seinen Lebensunterhalt bangen musste, dem wird am Ende das Lebensnotwendige einfach geschenkt. Oft wird das im Leben nicht geschehen. Aber wo es geschieht, da sollten jene nicht neidisch werden, die sich ihres Lebensunterhaltes sicher sein können, weil sie Arbeit haben, gebildet, gesund oder vermögend sind. Auch die Arbeitsfähigkeit, auch die Gesundheit, auch das Vermögen, den Verstand und den Fleiß hat sich keiner von uns selbst verdient. Sie sind uns geschenkt, sie sind ein Gnade Gottes und die einzig angemessene Form der Antwort auf solche Gnade ist die Dankbarkeit und der selbstverständliche Einsatz für andere.
Keinem Menschen darf sein Schicksal einfach als Folge seiner Taten zugeschrieben werden. Das gilt, wie im Gleichnis, für Menschen ohne Arbeit und Auskommen, das gilt genauso für Menschen, die krank sind, pflegebedürftig, behindert, einsam oder arm. Und das gilt auch für die Menschen in den armen Ländern dieser Erde, für die Opfer von Krieg, Hunger, Seuchen, Korruption und Misswirtschaft. Viele von ihnen sind Opfer, obwohl sie keine Schuld trifft und sie nichts für ihre Lage können. Dass es den meisten in Deutschland besser geht, ist nicht unser Verdienst, verdanken wir nicht unserer Leistung. Das ist Gnade, ganz allein Gnade.
Und so ist die Pointe unseres Gleichnis zugleich der Kernsatz protestantisch-reformatorischer Lehre: Wir Menschen leben nicht von unseren Verdiensten. Wir Menschen leben allein von der Gnade Gottes. Das kränkt unseren Stolz, weil wir doch so gerne unser Schicksal selbst herstellen und verdienen wollen. Und weil das so kränkend ist, regen sich die Arbeiter, die im Gleichnis lange gearbeitet haben, ja auch so auf. Aber wer realistisch ist, der weiß, dass er wie jene im Gleichnis, die nur kurz gearbeitet haben, das Lebensnotwendige und alles Glück als Geschenk und umsonst empfängt. Von unseren Leistungen und Verdiensten könnten wir niemals leben. Wir Menschen leben allein von der Gnade Gottes. – Amen.