Verheißung und Erwartung
Siehe, dein König kommt zu dir. Diese alte prophetische Verheißung zitiert der Predigttext für den heutigen ersten Adventssonntag. Siehe, dein König kommt zu dir.
Liebe Gemeinde, wenn hohe Herren erwartet werden, ist eine ganze Stadt mit Vorbereitungen beschäftigt, und wenn der angekündigte Besuch schließlich kommt, ist Jubel angesagt, denn von dem, der kommt, wird viel erwartet. Er wird wohl Macht haben. Er kann Neues in Bewegung bringen zum Guten hin. Viele Erwartungen richten sich auf ihn. Menschen säumen die Straßen, vielleicht haben die Kinder schulfrei. Bunte Fähnchen werden geschwenkt. Welche Hoffnung, welche Erwartung ist mit diesem Besuch verbunden. Es ist, als ob die Zeit anhält. Alles kann anders werden.
Wie war es damals vor 25 Jahren in Prag? Tausende Menschen dicht gedrängt im Garten der deutschen Botschaft und auf den Treppen des Botschaftsgebäudes. Dann plötzlich Stille, der hohe Gast trat auf den Balkon und kündigte an, was man im losbrechenden Jubel gar nicht mehr verstehen konnte: „Freiheit, Sie können ausreisen.“ Was für eine Verheißung! Alles würde sich ändern. Was man erwartet und erhofft hatte, war eingetreten. Es würde sich alles ändern und die Menschen selbst auch. Man wusste noch nicht genau wie, aber man vertraute darauf, irgendwie würde die Erwartung sich erfüllen.
Gewiss, man kannte auch andere Besuche von hohen Herren. Plötzlich waren die Straßen abgesperrt, man wusste nicht warum. Schließlich fuhren mehrere dunkel verglaste Staatskarossen vorbei. Niemand wusste, in welchem Wagen der hohe Gast saß. Es sollte wohl niemand wissen, wer kommt. Man war es leid, noch jemanden zu erwarten, was sollte er noch bringen, zu oft, war die Erwartung enttäuscht worden.
Haben wir denn noch etwas zu erwarten? Diese Frage kann sich lähmend ausbreiten. Es ist doch immer dasselbe, immer wieder Enttäuschung, weder die weltpolitische noch die wirtschaftliche Situation geben Anlass zu großen Erwartungen. Krieg überall auf der Welt. Millionen von Menschen auf der Flucht. Was haben sie zu erwarten? Ich habe nichts mehr zu erwarten für mich und mein Leben, so stöhnen viele. Haben sie nicht Recht? Da, wo früher einmal Erwartung war, ist jetzt ein dunkles Loch. Schon Kinder haben nichts mehr zu erwarten. Krieg und Flucht und notdürftiges Lagerleben nehmen ihnen Freude und Erwartung für einen jeden Tag, Jahre lang.
Resignation und Müdigkeit, Erwartungsmüdigkeit und viel Erschöpfung breiten sich auch bei uns gerade in der Vorweihnachtszeit oft aus. Was sollen wir noch erwarten? Die Welt ändert sich nicht mehr. Und was können wir ändern? So vieles muss noch geschafft werden bis zum Ende des Jahres. Man muss sich sorgen, dass man alle Termine bewältigt. Der Zeitdruck nimmt die Kraft, Neues zu erwarten.
Dennoch ist unsere Stadt festlich geschmückt. Überall auf den Straßen leuchten Lichter im Tannengrün, glitzernde Kugeln und Kerzen. Posaunen spielen vertraute Weihnachtslieder. Das alte Kinderkarussell, das zu später Stunde auch ohne Fahrgäste noch fährt, erinnert an Kindertage. Es macht Freude, abends durch die geschmückte Stadt zu gehen. Vorschein eines Festes. Glanz gegen Erwartungsmüdigkeit. Gerne lässt man sich eine Weile von fröhlicher Feststimmung tragen.
Liebe Gemeinde, der Predigttext zum heutigen ersten Adventssonntag unterbricht alle Erwartungsmüdigkeit. Wie eine Fanfare tönt das Hosianna und schiebt Müdigkeit, Erschöpfung und Sorge beiseite mit der Aufforderung zum Jubel. Wer kommt?
Ich lese den Predigttext:
Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt, und gleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir.
Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen.
Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9):
„Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.“
Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte,
und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf.
Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg.
Die Menge aber, die ihm voranging und nachfolgte, schrie: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Eine Ankunft wie ein Wunder. Der Herr befiehlt ganz bestimmt, er hat Macht, sein Befehl wird ausgeführt, aber dann heißt es, er komme sanftmütig. Wie ist das möglich: ein sanftmütiger Befehlshaber? Ein verblüffender Text. Advent, Ankunft, Verheißung gegen Erwartungsmüdigkeit: Ein König wird angekündigt, aber wir kennen die Geschichte vom Einzug in Jerusalem aus der Leidensgeschichte Jesu, vom Weg zum Kreuz her. Die Geschichte von Palmsonntag ist durch diesen Text geprägt. Was haben wir da zu erwarten? Wer kommt?
Vor Jahrhunderten schon wurde die Verheißung vom Propheten Sacharja ausgerufen: „Dein König kommt zu dir.“ Immer wieder haben die Propheten Israel einen Kommenden verheißen. Mit der Geburt eines Kindes haben sie erfülltes Leben angekündigt. Ein Kind, das die Lebensbedingungen und Machtverhältnisse auf Erden umkehrt. Licht in der Finsternis, Gerechtigkeit, Friede, Verheißung eines Kindes, das den Namen Immanuel, Gott mit uns, trägt. Das ist eine Verheißung gegen alle Erwartungsmüdigkeit, gegen alle Resignation. Jetzt wird alles anders. „Dein König kommt zu dir.“
Die Verheißung gilt durch den König dem Volk, zuerst dem Volk Israel, danach den Christen und allen Menschen. Es gibt kein menschliches Leben ohne Verheißung. Kein Mensch muss leben ohne das verheißene „Gott mit uns“. Die Verheißung schenkt die Kraft der Erwartung, die man braucht für einen jeden Tag. – Mit einem verheißungsvollen ermutigenden Blick entlässt eine Mutter morgens ihr Kind: Der Tag wird gelingen. Das Kind vertraut ihr und springt aufrecht seines Weges. – Du bist nicht mit dir alleine. Zwischen Verheißung und Erwartung entfaltet sich die Spannkraft eines Lebens, mit der Menschen sich ausstrecken können über sich selbst hinaus. Die Augen gehen ihnen auf und sie nehmen wahr, was entgegen kommt, all die Möglichkeiten für gutes Leben, die sich an einem Tag bieten.
Menschen können hoffen auch in aussichtsloser Lage. Harren nannte Luther das, die Kraft, nicht in der eigenen Beschränktheit und in der Enge der Situation stecken zu bleiben, sich nicht nur zu verlassen auf sich selbst, sondern mit der Kraft der Phantasie zu hoffen auf das, was begegnet, auf den, der kommt. Es gibt in jedem Leben Verheißung. Ohne Verheißung kann man nicht leben. Wenn die Spannkraft nachlässt, greift Müdigkeit um sich, Erwartungsmüdigkeit; und wenn die Spannkraft ganz fehlt, sacken Menschen in sich zusammen, an der Körperhaltung kann man das erkennen. Was haben sie dann noch zu erwarten?
Wie kann man bei den vielen, vielen jugendlichen Menschen in Afrika und Asien und weltweit die Kraft der Verheißung wecken – dein König kommt zu dir – die Verheißung, die sie in Bewegung bringt gegen Resignation und Erwartungsmüdigkeit? Man sagt, die 1,8 Milliarden jungen Menschen der Weltbevölkerung seien das Hoffnungs- und Zukunftspotential gerade für die armen Länder der Dritten Welt. Die Verheißung, die eine neue Perspektive für Ausbildung, Beruf und Zukunft vermittelt, muss weitergesagt und umgesetzt werden.
In der dunklen Jahreszeit, in den letzten Wochen des Jahres ist die Müdigkeit auch bei uns in Leipzig bei vielen Menschen besonders groß. Der Dunkelheit in der Natur draußen entspricht die Dunkelheit in den Herzen, die die Kraft der Erwartung verlöschen lässt. In der dunklen Jahreszeit, gerade in der Weihnachtszeit steigen die Suizidzahlen.
Dagegen wird der prophetische Ruf hörbar: Dein König kommt zu dir. Die Verheißung reicht hinter jede Mauer, hinter der ein Müder nicht mehr weiterkommt. Die prophetische Verheißung gilt einem jeden Gefangenen ebenso wie dem, der vom eigenen Erfolg verwöhnt ist. Sie lässt Glanz aufleuchten auch in einem Leben, von dem Menschen meinen, es sei hoffnungslos, es habe keinen Sinn. Dein König kommt zu dir. Das ist die Verheißung gegen Sinnlosigkeit, denn das „Gott mit dir“ schenkt neue Kraft und neue Perspektive: Du bist nicht nur mit dir allein. „Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken.“ Das ist die verblüffende Erwartung des Psalmbeters. Er wartet und verlässt sich auf die Zeit, bis der Verheißene kommt. Advent braucht Zeit und manchmal auch Geduld, aber die Erwartung wird erfüllt. Der König kommt, er steht für die überraschenden neuen Möglichkeiten in deinem Leben. Dein König kommt zu dir. Es ist jemand für dich und du kannst auch für jemanden sein. Jemand neben dir schafft Anteil an der Liebe, und du selbst kannst Liebe schenken, indem du für jemanden da bist. Du wirst sogar wieder danken können. Vorsichtig deutet sich Jubel an.
Es gibt kein Leben ohne Verheißung. Deshalb darf man um Gottes Verheißung willen von keinem Menschen, von keinem Kind und von keinem alten Menschen sagen: um den lohnt es sich nicht mehr. Und doch sprechen Menschen einander dieses tödliche Urteil. Eltern denken von einem Kind: ‚Um dieses Kind lohnt es nicht. So ein Kind habe ich mir nie gewünscht. Es hat keine Verheißung, aus ihm wird nichts.‘ Sie ziehen ihre Erwartung von dem eigenen Kind ab, das Kind spürt es. Andere folgen dem zerstörerischen Urteil. Wir kennen die Folgen von Vernachlässigung und Erwartungsentzug an heranwachsenden Kindern und Jugendlichen. Die Verheißung, die ihnen vorenthalten wird, ersetzen sie selbst entweder durch Resignation und Ablehnung ihrer Umwelt oder durch zerstörerischen Aktionismus und Radikalismus. Ich kann nichts erwarten, also zerstöre ich auch die Erwartungen der andern. Wer rettet Hoffnungslose davor, selbst radikal zu werden und anderen mit ihrer Verheißung ihr Leben zu zerstören?
Sanftmütig kommt der verheißene König. Das ist keine Herrschertugend. Ist es eine Macht? Von hohen Herren kennen wir, dass sie etwas verlangen und befehlen: Gehorsam, Steuern, Abgaben. Sanftmut wirkt anders. Sanftmut bittet. Sanftmut lädt anderen keine schweren Lasten auf, sondern entlastet sie. Der Sanftmütige, dessen Ankunft wir an Advent feiern, lädt ein: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ Das ist eine Einladung zu einem Ort, an dem auch Menschen, die nichts mehr erwarten, eine Bleibe finden, wo sie neue Kraft schöpfen können.
Der Kommende bittet wie das Kind in der Krippe um Menschenfreundlichkeit, ein offenes Herz, eine offene Tür, und er lädt ein zu einer Bleibe.
Wie viele Menschen gibt es, die keine Bleibe haben. Überall wo sie anklopfen, werden sie abgelehnt und an einen fremden anderen Ort verwiesen, den es nicht gibt. Keine Bleibe, in Leipzig sind Menschen ohne Bleibe und überall auf der Welt, wo Menschen illegal leben, ungewollt, oder wo sie fliehen müssen, weil sie vom Krieg vertrieben sind.
Die Bleibe, zu der der sanftmütige König einlädt, verheißt einen Ort der Ruhe und Erquickung, das ist ein Ort, an dem man gewollt ist, eine Bleibe, an der einen Wohlwollen umfängt. Eine junge Sozialarbeiterin arbeitet freiwillig in einem völlig überfüllten Flüchtlingslager in Libanon. Mit anderen zusammen bietet sie Schulunterricht, Spiel und Werkarbeit für Kinder an. Da wächst neue Spannkraft, und die Kinder können wieder neu erwarten. Anzeichen von Freude zeigen sich. Ich kannte eine Diakonieschwester, die ging an den Adventssonntagen nachmittags zu all den Patienten, die nicht mehr aufstehen konnten. Sie zündete ihnen die Adventskerze an, erst eine dann die folgenden. Nach einer halben Stunde kam sie wieder und blies die Kerzen aus, um Unheil zu vermeiden. Die kurze Zeit des Kerzenscheins hatte etwas von der Adventsverheißung erfüllt. Advent feiern wir die Ankunft eines Herrn, der auch Erwartungsmüden neue Freude bringt. Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!
Ein verblüffender Predigttext, liebe Gemeinde. Die Krippe ein Ort der Ruhe, von dem ein Glanz ausgeht, der Menschen das Staunen lehrt, die das Staunen schon verlernt hatten. Der Stall des göttlichen Kindes ein Ort, an dem Menschen, die das Hoffen und Erwarten verlernt hatten, neu lernen, sich nach einer Zukunft auszustrecken, die mit dem Verheißenen auf sie zukommt. Mit der Adventszeit beginnt im Kirchenjahr die große Freudenzeit; Welt und Wirklichkeit erhalten neuen Glanz, weil Gott kommt.
Wo Gott kommt bleibt nichts beim Alten. Der Verheißene bringt Glanz und Erwartung auch denen, die am Ende ihres Lebens sind. Der Weg des Verheißenen führt von der Krippe zum Kreuz. Und auch da am Ende und im tiefsten Leid, am tiefsten Punkt menschlicher Existenz ist Verheißung: Es ist nicht einfach „Schluss!“, es heißt nicht: „Das war’s.“ Nein, wo Gott kommt, ist auch das Ende eines jeden Menschen von dem liebevollen Strahlen des Kindes umfangen, das schon die finsteren Hirten verwandelte.
Amen.