Verlassen - Predigt zu Hebräer 13,12-14 von Heinz Behrends
13,12-14

Verlassen tut weh.

Ich schau nach einem wunderbaren Tag am Strand von Cassis an der Cote d’Azur noch einmal mit meiner Frau auf die Bucht. Das Wasser leuchtet in verschiedenen Blau-Grün-Tönen, die Abendsonne liegt orange auf dem gegenüberliegenden Felsen. Es ist der letzte Urlaubstag. Ob wir hier im nächsten Jahr wieder stehen werden? Jetzt weiß ich, ich werde es diesen Sommer nicht wiedersehen. Die Pandemie wird es verhindern. Ob ich diesen Blick jemals in meinem Leben wieder haben werde? Ich werde traurig. Abschied nehmen, verlassen tut weh.

Es ist eine kleine Vorerfahrung vom Sterben. Wir haben hier keine bleibende Stadt.

Aber wenn es nach Hause geht,  ist der Schmerz nur kurz.

Jeder möchte wissen, wohin er gehört, wo er sein kann wie er ist, wo er sich nicht beweisen muss, wo er fraglos ist. Zuhause ist jeder kompetent.

 

Uns allen ist in diesen Wochen das Zuhause genommen, mindestens verunsichert ist es. Der Virus scheucht uns auf.  Gewohnte Abläufe gehen nicht mehr. Abstand halten als Zeichen der Zugewandtheit.  Sein Gesicht verstecken durch Mundschutz. Soziale Kontakte meiden. Wir lernen ganz neue Verhaltensweisen.

Und etliche sind in ihrer Existenz bedroht. Für sie ist das keine Zeit des Lernens, keine Pause. Die beiden jungen Männer haben vor 4 Jahren ein kleines Bistrorant aufgemacht, Kaffee am Morgen und mittags eine sehr gute Pasta. Sie haben sich mit viel Liebe eine Schar von Stammgästen erarbeitet. Am Montag mußten sie schließen. „Wir halten bei den Fixkosten vier Wochen durch“, sagen sie, „dann sind wir am Ende trotz aller Maßnahmen der Regierung“. Ihr neues Zuhause werden sie leer zurück lassen müssen. Es ist noch gar nicht abzusehen, was all diese Erfahrungen dieser Tage mit uns machen werden. Auf jeden Fall ist es ein Abschied. Ein uraltes Thema der Bibel.

 

Jesus nimmt Abschied

Es ist das Thema Jesu: Gehen, verlassen, Zukunft suchen. Er hat das als Sohn des Ersten Testaments schon als Kind eingesogen. Abraham verläßt sein Vaterhaus und zieht ins Unbekannte. Das Volk Gottes wohnt in Zelten. Ja, Gott selbst wohnt mit seinen Geboten in einem Zelt, das mit dem Volk zieht. Der spätere Tempelbau ist sehr umstritten. Anhalten, bleiben, Häuser bauen. Die Propheten kritisieren, wenn das Volk sich darauf ausruht, seßhaft zu werden. Dennoch: Sie bauen ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Brunnen, ihre Märkte. Sie bauen ihre Stadt. Und richten sich ein.

Das ist nicht der Geist Jesu. Er verläßt die Werkstatt seines Vaters und wird ein Wanderprediger. Die Füchse wissen, wo sie sich abends schlafen legen, er weiß es nicht. Seine wandernde Existenz ist Ausdruck seiner Haltung. Leben ist Bewegung, Aufbruch.

 

In Lagern einrichten

Aber der Mensch braucht Wurzeln. Er braucht Heimat. Er will wissen, wohin er gehört. Je weitläufiger die Welt wird, desto mehr sehnt er sich nach Heimat. Sehnsucht nach Ankommen, Bleiben. Heimatbücher haben Konjunktur.

Nur, feste Häuser schaffen ein Problem. Sie lehren das Festhalten. Hecken, Zäune, Überwachungskameras. Geschlossene Fensterläden. Geschützte Räume verlangen nach Recht. „Wenn ihr erst besitzt“, sagt der Hl Franz, „dann braucht Ihr auch Waffen, es zu verteidigen“. Feste Häuser werden zu Lagern. Man will unter sich sein. Milieugebundene Stadtteile entstehen. Im Lager entsteht eine Lagermentalität. Die Schriftgelehrten und Hohepriester bilden ein Lager. Man definiert sich über Zugehörigkeit zum Lager. Wir erleben das in diesen Tagen auf andere Weise. Es dürfen nur in Kontakt sein, die miteinander leben in einer Familie oder Wohngemeinschaft. Wir spüren, wie kostbar es ist, jemanden zu haben, der bei mir ist. Umso schwerer für die Alleinstehenden oder die Familie, in der die Konflikte schon lange schwelen. Aber ebenso stark ist die Sehnsucht, endlich wieder Kontakt nach draußen zu haben, zu den anderen. Das feste Haus ist verunsichert.

 

Herausbewegen – das ist Jesu Existenz

Ein festes Haus gibt es nur im Glauben. Jesu Existenz ist das Heraustreten, so wie das lateinische Wort „Existenz“ zu übersetzen ist. Ex-sistere. Herausstellen, sich herausbewegen. Er bricht den Lagergedanken auf. Die ihn verurteilen und draußen vor den Toren der Stadt töten, wissen gar nicht, dass der Ort außerhalb der Stadtmauer genau seinem Wesen entspricht. Sie wollen ihn behandeln wie ein Tier-Opfer im Tempel, das seinen Dienst getan hat und draußen vor dem Tor durch Verbrennen entsorgt wird.

Nein, er ist die ganze Zeit seines Wirkens aus den Gewohnheiten herausgetreten. Er gab auf, sein Recht zu behaupten. Er verzichtet auf Besitz. Er setzt die Beziehung zu Gott höher als zu Mutter und Geschwistern. Er hat Menschen nie fest genagelt. Er gibt dem Zachäus Raum zur Veränderung, der Ehebrecherin für einen neuen Anfang.

 

Und die Schmach ertragen

Heraustreten mag ja noch gehen, aber er fügt hinzu. „und tragt seine Schmach“. Wer die Konventionen im Lager bricht, der fliegt raus, der verliert die öffentliche Anerkennung. Ich denke jetzt nicht an die, die sich profilieren wollen durchs Heraustreten oder um ihre Macht kämpfen. Donald Trump, Boris Johnson. Nein, die sich zu Christi Geist bekennen.

Nun müssen wir in unserer Gesellschaft wenig Schmach ertragen, weil wir Christen sind. Da ergeht es den Schwestern und Brüdern in Nord-Korea, im Irak, in Syrien schon anders. Sie werden vor die Tore der Stadt gedrängt, dass sie aushalten oder flüchten müssen. Wer die Schmach getragen hat, der versteht das Leiden Jesu vor den Toren der Stadt, außerhalb der Gesellschaft.

 

Verlassen ist Lebensaufgabe

Verlassen ist meine Existenz von Beginn an. Der erste Schock, wenn ich den warmen Mutterleib verlassen und selbst anfangen muss zu atmen, um nicht zu sterben. Der erste Tag im Kindergarten ohne Mutter oder Vater. Das Elternhaus verlassen. Der erlernte Beruf reicht nicht für ein ganzes Leben. Neues lernen. Die Kinder verlassen das Haus und richten sich in der eigenen Existenz ein. Der erste Schmerz im Rücken, der Schuss der Hexe. Die Melancholie des 70jährigen: „Wie viele Frühlinge werde ich noch sehen?“ Für viele Ältere ist diese Frage im Augenblick nicht mehr mit Koketterie gestellt. Wird es dann ein Beatmungsgerät für mich geben?  Muss ich meine vertraute Wohnung einmal verlassen, um mich in einem Pflegeheim versorgen zu lassen? Wir haben hier keine bleibende Stadt. Alle Sicherungsmaßnahmen taugen nicht.

 

Freude auf Zukunft

Wer verlässt, muss wissen, wohin er will. Nicht ausweglos fliehen.

Jens packt vergnügt seinen großen Rucksack. Mutter steht etwas aufgeregt und betrübt daneben. Für ein Jahr wird er in Kanada sein, Schüler-Austausch. Seine Gastfamilie hat er schon über skype und instagram kennengelernt. Großes Haus haben sie am Rande von Toronto, zwei Kinder, die Tochter zwei Jahre älter als er, Jim, der Sohn in seinem Alter, seine Klasse. Er freut sich, in der neuen Familie zu leben, das Land kennen zu lernen. Seit einem Jahr bereitet er sich darauf vor. Und nach einem Jahr spricht er fließend Englisch. Vielleicht zieht er später mal ganz nach Kanada, vielleicht auch Neuseeland, gleich nach dem Abitur in zwei Jahren. Das alles geht ihm durch den Kopf während Mutter aufgeregt seinen Rucksack mit ihm packen will. „Hast du auch nichts vergessen?“ „Nein, Mutter“.

-„Und in drei Monate besuche ich dich“. – „Bitte nicht, Mama“.

Er weiß, wohin er will. Keine bleibende Stadt zu haben, das ist ihm eine helle Freude.

Ja, die zukünftige suchen wir. Wir werden sie mit mehr Druck als Jens in den nächsten Monaten und Jahren suchen und am besten gemeinsam finden. Die an Christus glauben, sind dafür gerüstet.

 

Zwischen Sehnsucht nach zuhause und Aufbruch in die Zukunft, das ist unsere Existenz. Die Lyrikerin Mascha Kaleko weiß um diese Spannung. Darum nennt sie ihr Gedicht „Rezept“.

„Sage nicht mein.
Es ist dir alles geliehen.

Lebe auf Zeit und sieh,

wie wenig du brauchst.

Richte dich ein.

Und halte den Koffer bereit“

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Heinz Behrends

1.​Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?

 

Ich habe eine Gemeinde vor Augen, die an lebensnaher Auslegung interessiert ist. Deshalb wähle ich eine einfache Sprache. An diesem Sonntag haben alle nur ein Thema: Die Sorge um den Fortgang der Pandemie. Sie darf nicht verniedlicht werden, Zukunft darf nicht zu rasch versprochen werden.  Dennoch Öffnung für das Leben danach

 

 

2.​Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?

 

Das Thema des Textes ist ein existentielles. Es spricht jeden/jede an. Jeder/ jede ist kompetent. Sehnsucht nach zu Hause und nach der Weite. Verlassen und Heimkehren. Als Mensch von der Nordseeküste liebe ich die Seemannslieder, die genau dies Thema in Vielfalt besingen.

 

 

 

3.​Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?

 

Mit 72 Jahren und noch voller Lust am Leben ist meine persönliche Frage: Wie viele Frühlinge werde ich noch erleben?

 

4.​Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?

 

Der Situation geschuldet ist der Coach nur einen Schritt (4 Tage vor dem Sonntag) gegangen. Ihre Hinweise waren alle sehr hilfreich. „Weniger, aber konkret. Nicht moralisieren“.

 

Ich habe auf grund des aktuellen Standes der Pandemie kurzfristig die Predigt auf die Situation hin konkretisiert. Der Coach konnte auf grund der Arbeitssituation darauf vorher nicht eingehen, hat dann aber sehr ermutigend den korrigierten Text weiter empfohlen. Danke.

 

 

 

 

 

Perikope
29.03.2020
13,12-14