Versöhnung: Christliches Alleinstellungsmerkmal!? - Predigt zu 2. Korinther 5,(14b)19-21 von Ralf Hoburg
5,19-21

Versöhnung: Christliches Alleinstellungsmerkmal!?

Liebe Predigtgemeinde

In der Erinnerung meiner Kindheit war der Karfreitag ein düsterer Tag. Im dereinst noch nicht privatisierten Radio- und Fernsehprogrammen der 60er und 70er Jahre ertönte die schwere Musik des „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms, das sich an einer „Totenmesse“ orientiert, oder von Anton Dvorak „Stabat mater“. Allein schon die Musik verbreitete zu Hause eine gedrückte Stimmung. Der traditionell höchste Feiertag des Protestantismus glich damals und in meiner Erinnerung bis heute dem inneren Gefühl nach einer akuten kollektiven Depression. Hinzu trat dann noch die ausgedehnte Langeweile, denn die sonst zahlreichen und fröhlich kreischenden Spielkameraden in meiner Nachbarschaft saßen ebenso bedrückt in ihrem Kinderzimmer wie ich, denn sich „draußen vor der Tür“ zum Spielen zu verabreden war damals an kirchlichen Feiertagen ein „no go“. Auch das Fernsehprogramm ordnete sich brav unter die kirchlich-protestantisch diktierte Depression. Wo sonst heiter „Ekel Alfred“ oder Telly Savalas über den Fernsehbildschirm lief, war Karfreitag der Ort getragener Stimmung im Fernsehen und um 15.00 Uhr läuteten pünktlich die Glocken vom Kirchturm zur Todesstunde Christi. Keine Serie, kein Krimi oder heiterer Film flimmerte über die Mattscheibe. Der blanke Ernst lag in der Luft. Im Fernsehprogramm konnte ich dafür Filmklassiker sehen wie etwa „Das Erste Evangelium Matthäus“ des italienischen Filmregisseurs Pierre Paolo Pasolini oder den Spielfilm „In den Schuhen des Fischers“. Die Kunst des Films von Pasolini liegt in der Focussierung, bei der der gesamte Bibeltext des Matthäusevangeliums erzählt und mit eindrücklichen Filmeinstellungen teilweise in Nahaufnahme unterlegt wird. Im Zentrum: Jesus – konzentriert, spirituell, an der Welt leidend, aber ästhetisch beinahe ein erotisch wirkender Mann, der der Wirklichkeit dieser Welt entrückt zu sein scheint. Das Diktum des Neutestamentlers Rudolf Bultmann, wonach die Evangelien eine „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ darstellen, traf für diesen Film im wahrsten Sinne medial zu. In einem Seminar an der Universität zum Thema Medien und Religion habe ich den Film heutigen jungen Studierenden der Religionspädagogik gezeigt und es wurde deutlich, wie sehr sich nicht nur die Sehgewohnheiten im Medienkonsum geändert haben, sondern auch religiöse und theologische Einstellungen.  Die Melancholie und die erdrückende Langsamkeit des Films sind für junge Menschen heute kaum noch auszuhalten. Im Gefühl vieler Studierenden der Religionspädagogik ist darüber hinaus aber auch der Karfreitag und damit die Bedeutung des stellvertretenden Kreuzestodes Christi zu einer „Leerformel“ überholter protestantischer Kirchlichkeit degeneriert, die mit dem eigenen Glauben nur noch wenig in Verbindung gebracht wird.   

Es wäre gelogen, wenn ich nicht zugeben würde, dass die Privatisierung des Fernsehens und der Medien ab 1984 und damit die Zurückdrängung des kirchlich legitimierten Depressionspotentials am Karfreitag für mich geradezu eine seelische, ich möchte sagen ästhetische Befreiung darstellte. Gott sei Dank: auch am Karfreitag darf dank RTL und SAT I gelacht werden.  Den jüngst verstorbenen italienischen Autor Umberto Eco, der der Verfasser  des Romans „Im Namen der Rose“ ist und in dem es im Zentrum genau über das Verbot des Lachens geht, wird dies freuen. Meine Freude dauerte indes nur ein paar Jahre, bis ich als Gemeindepastor durch die Welt der Passionslieder und ihrer Schmerzens- und Wundenanbetung im pietistischen Ostwestfalen erneut die erdrückende Last der christlichen Todessehnsucht fühlte. Ich sehe noch vor meinem inneren Auge bis heute die Trauerminen der Pastorenkollegen, die das Leiden Christi in diesen Tagen in ihrer eigenen Ästhetik abbildeten.

Heute unterscheidet sich das Fernsehprogramm am Karfreitag kaum noch von anderen Tagen und im medialen kollektiven Nutzungsdschungel spielt Karfreitag nur eine untergeordnete Rolle, die – wenn man ehrlich ist – letzten Endes eigentlich der Bedeutung der Kirche in unserer Gesellschaft entspricht. Allerdings weisen nach wie vor die Ländergesetze der Bundesrepublik Schutzvorschriften für den Karfreitag auf wie etwa „Tanz- und Feierverbote“ oder öffentliche Sportveranstaltungen, so dass bis heute gilt: Ganz ohne „depri-Stimmung“ geht es im Christentum scheinbar nicht und am Karfreitag konzentriert sich das Christentum auf seine Mitte. Deshalb ist der Karfreitag immer noch in der binnenkirchlichen Wahrnehmung ein besonderer Tag. Und vielleicht verstärkt sich das in einer Gesellschaft der Zukunft noch, wenn die immer weniger werdenden protestantischen Christen am Karfreitag unterwegs zur Kirche auf der Straße denjenigen Menschen begegnen, die sich auf den Weg zum Freitagsgebet in die Moschee begeben. Wer weiß: Es wäre doch spannend, wenn dort ein Transparent hinge: „Protestants welcome!“ und die Religionen sich begegneten. Karfreitag – ein spezieller Tag interreligiöser Begegnung auf den Straßen im Land. 

I.  „Einer für alle“ – Das Kreuz als universales Zeichen

„Einer für alle“ – das klingt wie eine abgedroschene Formel aus der bündischen Jugendarbeit der Vergangenheit. Vielfach wird der Spruch auch heute noch im Alltag gebraucht … von Kinderbüchern bis zu der Fernsehserie „Eine für alle“ oder dem Film „Einer für alle, alles im Eimer“.  Nun kommt der Spruch aber aus dem 2. Korintherbrief des Apostel Paulus und begegnet dort in einem bestimmten Zusammenhang, in dem er zwei wichtige Themen seiner Theologie damit verbindet: Den Kreuzestod Jesu Christ und die Versöhnung. Und beide Aspekte bringt er auf die Kurzformel: „Einer für alle“, mit der er die Gemeinde wieder einschwören will auf das, was er dort am Anfang seiner Wirksamkeit verkündigt hat.

Den Apostel Paulus verbindet mit der Gemeinde in Korinth ein sehr inniges, aber konfliktreiches Verhältnis. Er hatte die Gemeinde bereist und baute eine Beziehung zu ihr auf. Als Apostel kommt ihm die Bedeutung zu, die Gemeinde mit seiner Missionspredigt gegründet zu haben. So schreibt er eindrücklich im 1. Korintherbrief: „Wer ist nun Apollos? Wer ist Paulus? Diener sind sie, durch die ihr gläubig geworden seid“ (1. Kor. 3,5) Und wenig später nennt er die Grundlage seiner Verkündigung: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“. (1. Kor. 3,11) Der Apostel Paulus ist ein Christusverkündiger und damit unterscheidet er sich mit seinen Briefen gänzlich von den Evangelien, in deren Mitte Jesu Wirken und Leben bis hin zu Passion und Ostern steht. Die Theologie des Apostel Paulus verdichtet sich statt der erzählerischen Breite der Evangelien auf wenige Kernerkenntnisse. Wenn man so will, ist der Apostel Paulus als selbst zum Glauben Gekommener der erste dogmatische Theologe. 

Und in diesem Zusammenhang erhält der auf den ersten Blick harmlos klingende Satz „Einer für alle“ (2. Kor. 5,14b) eine Zentralstellung, denn in ihm reflektiert Paulus zwei fundamentale Säulen des christlichen Glaubens: Einerseits den Begriff der Sühne und andererseits den Begriff der sog. Stellvertretung. Und beide Begriffe werden engstens mit dem Verständnis des Kreuzestodes Jesu Christi verbunden. Und um es vorweg zu sagen: Genau an dieser Stelle gibt es keine Überein-stimmung der ansonsten sehr eng verwandten Religionen von Christentum, Judentum und Islam. Im Kreuzestod Jesu Christi und seiner Bedeutungszuschreibung liegt das „Alleinstellungsmerkmal“ des Christentums.  

In der religiösen Vorstellungswelt von Judentum und Christentum kommt dem Begriff der „Sühne“ eine fundamentale Bedeutung zu. „Sühne“ setzt aus der Perspektive des Gläubigen das gebrochene Verhältnis des Menschen zu Gott voraus. Das ungetrübte Gottesverhältnis, wie es der Religion nach nur im paradiesischen Zustand begegnet, wird durch den Sündenfall (1. Mose 3) außer Kraft gesetzt. Auf diese Weise einer mythologischen Rede über den Sündenfall erklärt die hebräische Bibel, dass Gott und Mensch getrennt sind. Liest man die hebräischen Texte, so wird erkennbar, dass symbolisch das Volk Israel für das Verhältnis von Gott und Mensch erwählt wurde und im Verlauf der Geschichte Israels aber immer wieder vom Glauben an JHWH abgefallen ist. Um das Verhältnis von Gott und Mensch zu bereinigen, tritt das „Sühnopfer“, das stellvertretend von der Priesterschaft am Altar erbracht wird. Das Tieropfer – aus dieser Vorstellung erwächst dann später die Vorstellung vom sog. „Opferlamm“ –, dessen Israel bis heute am Versöhnungsfest, dem „Jom Kippur“ gedenkt – leitet im jüdischen Verständnis die Wende im Verhältnis zum Menschen ein. (Ps. 103; Jes. 40,16) An anderen Stellen begegnet die Vorstellung vom sog. „Sündenbock“, der stellvertretend und beladen mit den Sünden der Menschen in die Wüste geschickt wird.

Wenn nun der Apostel Paulus an dieser Stelle im 2. Korintherbrief davon spricht, „dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben“ (2. Kor. 5,14b), dann weitet er die aus dem jüdischen Glauben stammende Sühnopfervorstellung in eine universale Dimension. Um dies zu verstehen, bedarf es indes eines wichtigen gedanklichen Zwischenschrittes, der für die Ohren der damaligen Gemeinde völlig selbstverständlich, im heutigen Verständnis aber erklärungsbedürftig ist. Der Apostel geht davon aus, dass der Mensch im Glauben Christus in sich trägt. Der Mensch hat, so beschreibt er es an anderer Stelle, Christus wie einen Mantel angezogen. Im Glauben ist der Mensch wie neugeboren (Röm 6) und kann in seinem Leben auf das vollzogene Sühnopfer Christi vertrauen. Hier liegt der Sinn des Satzes „Einer für alle“.

Aber warum betont dies der Apostel so überaus wortreich und argumentativ? Liest man den Halbsatz aus 2. Kor. 5,14b im Kontext von Kapitel 4 und 5 wird erkennbar, mit welchem Problem der Apostel in der Gemeinde von Korinth zu kämpfen hatte. Weit weg und fern von der Gemeinde erfährt er, dass die Gemeinde offensichtlich mit der Verfolgung und dem irdischen Leben nicht mehr zurecht kam. So redet er vom „irdischen Haus“ (2. Kor. 5,1) und der Sehnsucht nach der Ewigkeit. Und nun kann die ganze Passage in einem anderen Licht gesehen werden. Der Apostel will die Gemeinde trösten und in der Krise eines irdischen Jammertals Zuversicht aussprechen. Dem „Seufzen“ der Gemeinde (2. Kor. 5,4) stellt er eben diese Erkenntnis entgegen: Weil Christus für uns als „einer“ für „alle“ gestorben ist, haben wir alle Anteil an seinem Tod und sind mit ihm mit gestorben, aber im Glauben können wir leben!  Daraus schöpft der Apostel Trost und rät der Gemeinde zur Besonnenheit. Und so formuliert er als fundamentale Glaubensbotschaft den Satz: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor. 5,17). Und jetzt erst macht es Sinn, weil dem Sühnopfer in der Theologie des Apostels das Verständnis der Versöhnung zur Seite gestellt wird.   

2. Ist Gott eine „mathematische Formel“?

Der Kreuzestod Jesu Christi macht also Sinn, weil er über sich hinaus weist. In der Mitte der christlichen Theologie steht die Versöhnung. Kein anderer als der Reformator Martin Luther hat deutlicher auf diesen inneren Zusammenhang hingewiesen. Für ihn repräsentiert Gott selbst die Gerechtigkeit und entspricht es seinem Wesen, dem Menschen Gnade zu erweisen. Aus diesem „fröhlichen Wechsel“ – so Luther – entspringt die Freiheit des Glaubens, als neuer Mensch in der Welt zu leben und im Hier und Jetzt Verantwortung zu übernehmen. Der „Karfreitag“ und das Kreuz als ein universales Zeichen sind demnach eingebettet in einen heilsgeschichtlichen Ablauf von der Erwählung des Menschen, seiner Trennung von Gott bis hin zur Versöhnung. In der griechisch- und russisch- orthodoxen Theologie repräsentiert jeder einzelne Gottesdienst diesen heilsgeschichtlichen Ablauf, in deren Mitte die Sühne Jesu Christi steht. Für den Apostel Paulus ist das Kreuz bzw. der stellvertretende Sühnopfertod für die Menschheit nicht ohne das lichte und helle Ereignis von Ostern zu denken.  Also ist der Karfreitag in Wahrheit gar nicht so „düster“ wie ich es am Anfang aus meiner Kindheitserinnerung beschrieben habe, denn nirgendwo anders als am Karfreitag um 15.00 Uhr in der Todesstunde Jesu Christi leuchtet das Licht des Osterereignisses bereits mit. Weshalb dann der Protestantismus dennoch und entgegen besseren theologischen Wissens in seiner Kulturgeschichte den Karfreitag lange Zeit als kollektive Depression in Gottesdiensten mit schier abgründiger Melancholie inszeniert hat, bleibt mir ein theologisches Rätsel. 

Im Zentrum des Predigttextes über 2. Kor. 5,19-21 steht ja eben nicht  die Kreuzestheologie als ein isolierter Block, wie sie Martin Luther in seinen Frühschriften 1518 zunächst noch entfaltete, sondern die Versöhnung, die auf den Menschen und sein erneuertes Gottesverhältnis zielt. Der Apostel Paulus formuliert formelhaft „Gott war in Jesus Christus“. Das klingt fast wie eine Gleichung: „Gott = Jesus Christus“. In diesen Worten spiegelt sich die theologische Tradition der Offenbarung, wie sie auch im Johannesevangelium in den bekannten Worten des Prologes zu finden ist:  „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“ (Joh 1,14) Das Verhältnis von Vater und Sohn ist in der Tradition der christlichen Theologie seit jeher ein besonderer Gegenstand der Reflexion. Im Ergebnis steht bis heute das christologische Dogma fest, dass in Jesus Christus die beiden Naturen von wahrem Gott (vere deus) und wahrem Menschen (vere homo) vereint sind. Der Hamburger Theologe Paul Schulz machte daraus die Frage: „Ist Gott eine mathematische Formel?“ und wurde dafür als Pfarrer aus der Kirche verbannt.  Auch wenn dem menschlichen Verstand die Gleichzeitigkeit beider Naturen ein Geheimnis bleibt, so bekennt der Glaube dies als Wahrheit. Radikal gedacht bedeutet dann diese Gleichheit und das Ineinander von Vater und Sohn, dass Gott selbst am Kreuz starb. Wie aber – so sagen Kritiker – kann dann, wenn Gott tot ist, der Wechsel vom Kreuz zur Auferstehung vollzogen werden? Denn dann ist Versöhnung eigentlich unmöglich. Friedrich Nietzsche setzte hier mit seinem berühmten Diktum an: „Gott ist tot – wir haben ihn getötet“. Der von Menschenhand verursachte Tod Jesu Christi beinhaltet als logische Folge den Tod Gottes, was Nietzsche durchaus als eine vom Menschen selbst ausgehende Befreiung von den Fesseln der Religion in der Moderne ansah.

Für den Apostel Paulus lösen sich die Widersprüche in einer reflexiven Bewegung Gottes auf. Wenn Gott sich in Jesus Christus offenbart, dann hat diese Offenbarung von Gott aus betrachtet nur den einen Sinn, nämlich die Welt mit sich selbst zu versöhnen. Aber wie das? Gegenwärtig scheint die Welt doch unversöhnter denn je zu sein. Nicht nur der Krieg in Syrien, fliehende Menschen in Afrika, Arabien und Amerika, unendlich viele Verletzungen der Menschenrechte weltweit und die Zweiteilung der Menschheit in eine arme Mehrheit und eine verschwindend geringe Minderheit von Reichen scheinen den Gedanken der Versöhnung zu verhöhnen. Karfreitag im Jahr 2016 erinnert eher an die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen denn an die real geschehene Versöhnung. Aber der Apostel Paulus beharrt darauf: „Gott war in Jesus Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“ (2. Kor. 5,19) Aus der Sicht Gottes handelt die Welt zwar „unversöhnt“ und verharrt in Streit, Krieg und Tod. Aber – und so deute ich diesen Vers des Apostel Paulus – Gott selbst hat sich mit dieser unerlösten Welt ausgesöhnt.  Die Welt als Geschöpf Gottes entspricht nicht seinem Willen, aber im Tod Jesu Christi hat Gott das Zeichen gesetzt, dass er an dieser unversöhnten und unfriedlichen Welt festhält und sie nicht aus der Hand gibt. Die Gabe der Welt wird so zur Aufgabe der Menschen.     

3. Botschafter des Glaubens

In der Theologie des Apostel Paulus spielt der Glaube eine entscheidende Rolle. In seiner Argumentation entwickelt Paulus nun eines nach dem anderen. Im Glauben lebt der Mensch in Christus und ist eine neue Kreatur, so schrieb er an die Gemeinde in Korinth. Da nun aber Christus gekreuzigt, gestorben und begraben ist und in sich selbst die Versöhnung trägt, durch die dem Menschen die Sünden vergeben werden, bedarf es nun abermals „Vermittler“ dieser Botschaft auf der Erde. Wie die Propheten des Alten Testamentes die Botschafter und Verkünder des Gotteswortes waren, übernimmt nun der Apostel die Position des „Botschafters an Christi statt“ (2. Kor. 5,20) Der Theologe Karl Barth sprach in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in seinem Hauptwerk von der „Offenbarung des gepredigten Wortes Gottes“ und meinte damit den Anspruch, unter dem die Predigt unter Vorbehalt des Hlg. Geistes als die Anwesenheit des Gotteswortes steht. Eigentlich steht jede Predigt und alles Handeln in der Kirche unter dem Vorbehalt, den Paulus hier beschreibt: „so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott.“ (2. Kor. 5,21) Provokativer kann eigentlich ein Satz nicht sein in einer Zeit und Welt, die so unversöhnt ist wie die Welt derzeit.

Hier liegt für mich die Bedeutung des Karfreitags in der protestantischen Theologie: Inmitten des Glamours und Glanzes, dem Gewinn und Verlust an den Börsen und in den Tempeln der Banken und dem Ramsch und Kitsch in den Kaufhäusern, bei allem Kaufrausch und Shoppingerleben, den Kreuzfahrten zu den irdischen Paradiesinseln dieser Welt daran zu erinnern, wie dennoch unfertig, fragil und bruchstückhaft die Welt ist und bleibt und die Menschen in ihr sind. Karfreitag ist „Krise“, aber nicht kollektive Depression. Karfreitag ist Erinnerung daran, wie die Welt von Gott aus gesehen nicht sein soll. Aber Karfreitag ist nicht ohne Ostersonntag. Und Ostern ist verwandt mit dem Jom Kippur im Judentum und dem Opferfest im Islam. Von hier aus gesehen öffnet sich der protestantische Hauptfeiertag dem intereligiösen Dialog, denn von Gott aus gesehen gilt: „All religions are welcome“.  

       

Perikope
25.03.2016
5,19-21