Versucht durch Leiden
Liebe Schwestern und Brüder,
die heutige Schriftlesung ist ein kurzer Textabschnitt aus dem Hebräerbrief. Diese neutestamentliche Schrift wurde von einem anonym bleibenden Autor vermutlich in den 90iger Jahren in Rom verfasst und versteht sich als „Wort des Trostes“ (Hebr 13,22). Der Hebräerbrief will Christen der „zweiten Generation“, die in Gefahr sind, angesichts von Leid und Verfolgung im Glauben an Christus schwach zu werden, ermutigen. Der Autor stellt seinen Adressaten den Auferstandenen vor Augen und zeigt, was sie an ihm eigentlich haben. So führt uns bereits der Beginn des Briefs zu Jesus, dem Sohn Gottes: „Vielmals und auf vielerlei Weise hat Gott seit langem geredet zu den Vätern durch die Propheten. In diesen letzten Tagen redete er zu uns durch den Sohn“ (Hebr 1,1-2).
Für den auferstandenen Jesus wird im Hebräerbrief vor allem das Bild vom Hohenpriester gebraucht. Charakteristische Züge an diesem Bild sind seine solidarische Verbundenheit mit uns Menschen, seine Tätigkeit als Fürsprecher und seine Vorläuferrolle. Auch die heutige Schriftlesung stellt uns Jesus, den großen Hohenpriester vor Augen. Kontrastreich wird er dargestellt. Einerseits wird seine Hoheit hervorgehoben. Er ist derjenige, der die Himmel – das ist der Bereich Gottes – durchschritten hat. Das ist insbesondere durch seine Auferstehung und Himmelfahrt geschehen. Jesus, der Hohepriester, ist der Sohn Gottes. Er kommt von Gott und gehört zu ihm. Andererseits unterstreicht unser Text das wahre Menschsein Jesu, des großen Hohenpriesters. Er kann mit unseren Schwächen mitleiden. Noch mehr, er ist versucht worden in allem bzw. in jeder Hinsicht. So ist er uns gleich, außer in dem, dass er dabei jedoch ohne Sünde bleibt.
In der Bibel wird die Versuchung oft als Glaubenserprobung durch Gott, als Mittel der Erziehung und als Prüfung, die der Mensch bereitwillig auf sich nimmt, verstanden. So wird bereits Abraham Prototyp eines Menschen, der von Gott auf die Probe gestellt wird und sich in der Versuchung bewährt. Das Volk Israel wird durch Versuchungen in der Wüste von Gott geprüft und erzogen wie ein Sohn von seinem Vater. Abgesehen von diesem Verständnis der Versuchung gibt es in der Bibel noch eine andere Sichtweise, die vor allem an der Person Jesu deutlich ist. Im Vaterunser bittet Jesus: „Bringe uns nicht hinein in Versuchung!“ Diese Bitte beinhaltet nichts Geringeres als gänzlichen Schutz vor Versuchung. Mit dem Verbum „hineinbringen“ verbindet sich die Vorstellung, dass die Versuchung wie ein Raum ist, in den wir nicht hineingelangen wollen, oder wie ein Gefahrenbereich, vor dem wir geschützt sein möchten. Der Beter des Vaterunsers will mit Versuchung überhaupt nicht in Berührung kommen. Es muss sich um eine besondere Art von Versuchung oder Anfechtung handeln, dass er so dezidiert bitten kann: „Bringe mich nicht hinein! Verschone mich davor!“ Denn es handelt sich um die Gefahr, den Glauben an den „Vater“ zu verlieren.
Ein Blick auf das Leben Jesu zeigt uns diese Art der Versuchung. Er selbst war Versuchungen und Anfechtungen ausgesetzt und zwar nicht nur in der Wüste, sondern sein ganzes Leben hindurch (vgl. Lk 22,28). Der Hebräerbrief hebt hervor, dass Jesus durch Leiden versucht wurde (vgl. Hebr 2,18; 4,15). Die Versuchungen Jesu betreffen seine singuläre Gottesbeziehung. Das zeigt sich schon bei der Konfrontation mit dem Teufel in der Wüste, der bestrebt ist, den geliebten „Sohn“ mit dem „Vater“ zu entzweien. Um die Beziehung zum Vater geht es auch in Jesu Gebet am Ölberg in der Todesangst. Jesus ringt sich dazu durch, seine Bitte, dass der Leidenskelch an ihm vorübergehe, der Bitte, dass der Wille des Vaters geschehen möge, unterzuordnen. In dieser Ölbergstunde richtet er aber auch an die Jünger den Appell, und dies ist zugleich seine letzte Weisung an sie vor seiner Gefangennahme: „Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung hineinkommt “ (Mt 26,41; Mk 14,38; ähnlich Lk 22,40.46). Versuchung kann hier verstanden werden als die Gefahr, angesichts der Passionsereignisse an Jesus irre zu werden und nicht mehr an den Gott glauben zu können, den er „Abba, Vater“ nennt. Das rechte Verhalten jener, die Gott um Verschonung vor Versuchung bitten, ist ein Leben in der Haltung des beständigen Wachens und Betens.
Nun lenken wir unsere Gedanken wieder zum heutigen Textabschnitt aus dem Hebräerbrief zurück. Er vermittelt die Gewissheit, dass Jesus schützen und helfen kann in speziell durch Leid verursachten Versuchungen als einer, der selber Versuchungen ausgesetzt war und der mitleiden kann mit unseren Schwächen. Auch hier gibt es angesichts der Versuchung einen Appell, eine doppelte Aufforderung. Erstens sind wir ermutigt mit den Worten: „Wir wollen am Bekenntnis festhalten.“ Es geht um das Bekenntnis zu Jesus in der Bereitschaft, ihn zu bejahen und ihn auch vor anderen Menschen zu bekennen. Er ist von Gott gesandt, der Hoherpriester und der Sohn Gottes. Zweitens sind wir aufgefordert: „Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zum Thron der Gnade.“ Wir sollen uns zu Gott hin bewegen und in seine Nähe kommen. Das soll mit „Zuversicht“ / „Freimütigkeit“ / „Freudigkeit“ geschehen. An diesem Ort der Gegenwart sowie Herrschaft Gottes und des erhöhten Christus ist uns Gnade und Erbarmen als rechtzeitige Hilfe zugänglich.
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus Christus ist der Helfer auch in unserer Zeit für jede und jeden von uns. Er steht uns bei, besonders dort, wo unser Weg durch die Leiderfahrungen führt. Wachen wir und beten, suchen wir jeden Tag neu sein Angesicht! Denn in ihm wird uns Gnade und Erbarmen geschenkt. In ihm finden wir unsere Hilfe zur rechten Zeit.