Vertrauen im Entschwinden - Predigt zu Hesekiel 34, 1-2, 10-16.31 von Markus Kreis
34, 1-2, 10-16.31

Wes Brot ich ess´, des´ Lied ich sing! Gott hält Hesekiel eine Schriftrolle vor die Nase, über und über beschrieben mit Gottes Wort, und sagt: Iss! Hesekiel sperrte also lieber mal den Mund auf. Es gibt schlimmeres, als alten Papyrus zu kauen. Und altes Leder nimmt man als Fleischesser fast freiwillig in den Mund. Also zusammengerissen und rein damit. Und siehe da: Das sperrige Stück Schrift schmeckte süß wie Honigbrot.

Gott nährt seinen Propheten. Denn es geht um öffentliche Glaubwürdigkeit. Hesekiel soll ausrichten, dass Gott höchstpersönlich seine Leute auf fette Weiden bringt. Da kommt es gut, wenn der Bote die richtige Diät bekommen hat.

Hesekiel richtet im Namen Gottes ein gutes Hirtenwort aus: Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst.

Schwindende Macht der alten Kräfte. So lautet das eine Wort, das Hesekiel zu sagen hat. Die alten Hüter seines Wortes haben versagt. Deshalb befiehlt Gott: Wachablösung. Ich mach´s fortan lieber selbst. So wie ich es bei Hesekiel mit der Schriftrolle getan habe.

Wen die Ablösung im Einzelnen betrifft, das wird nicht gesagt. Von Hirten ist die Rede. Da denkt unsereins eher an Pastoren, Bischöfe, Geistliche. Früher war Hirte aber ein Prädikat für weltliche Würdenträger. Sozusagen der Erzbischof als Kurfürst. Gemeint sein könnten Könige, Vizepharaos, Generäle, was politisch so Rang und Namen hat. Und wer wird nun adressiert? Wer Rang und Namen hat, egal ob politisch, geistlich, wirtschaftlich oder wissenschaftlich. Die Propheten Gottes lassen niemanden aus.

Diese alte Garde muss abdanken. Das war nämlich eine ganz aufgeweckte Truppe. So richtig ausgeschlafen. Haben nur sich selbst gedeckt und geschützt. Meist ihresgleichen ins Amt befördert. Eine weltliche Art der Amtssukzession. Oft genug gegen die kleinen Leute. Anstatt diese zu decken, zu schützen zu fördern. Haben also Gottes Hirtenwort nur für sich genutzt. Nach außen beredt, gescheit und fromm. Innendrin taub und faul für Gott und seine Schützlinge. Selbstliebe ohne Nächstenliebe. Gott nur mit uns. Gottlosigkeit für die anderen. Amt verfehlt. Ablösung. Weggetreten, im Laufschritt, marsch, marsch!

Keine Frage: Macht spüren, bekommen und sie gerecht ausüben, das ist schwer. Das fordert die Inhaber. Da braucht es eine gewisse Stärke, und Schläue, und Gewandtheit der Gefühle. Aber auch Einsicht in Grenzen. In die eigenen und in die, welche von Gott gezogen werden.

Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst.  Denn Gott hütet nun selbst. Betreibt in Wahrheit Staat und Macht. Gott erhebt sich zum Hirten. Fortan will er höchst persönlich über sein Wort wachen. Gott macht sich zum Chef und sein Wort zur Chefsache. Was Gott damit verheißt, klingt anspruchsvoll. Als Ziel nennt er, sein Volk aus dem Exil in Babylon auf Israels beste Weiden zu führen.

Wie soll das geschehen? Da braucht es aber einiges an Vorkehrung. Was bewegt die Sieger, die Besiegten ziehen zu lassen? Deren Arbeitskraft aus der Hand zu geben? Genügt da Drohen oder gutes Zureden?

So ist es dann zugegangen: Die Sieger wurden besiegt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Gott kontrolliert nicht nur seine Hirten, sondern auch die Hirten anderer Götter. Sprich die Herrscher anderer Völker. Hier den der Babylonier, den Israelbezwinger. Und zwar, indem er die Könige unbeteiligter dritter Völker ins Spiel bringt. Den Hirten von Persien nämlich, Kyros. Der unterjocht wiederum die Babylonier und gibt die Israeliten frei. Wow. Starke Ansage, starke Leistung. Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der ehemals Schwachen wächst. Zu den alten Kräften gehören auch fremde, Gottes Widersacher. 

Das ist etwas Ungeplantes auf den Plan treten. Ein ganz neuer Faktor. Entstehen und Schwinden. Als Hirte kann Gott aufscheuchen. Aber nicht nur zur Panik. Und wenn zur Panik, dann nur, um schließlich doch zur nächsten schönen Weide zu kommen. Zum Fortzug, voll Zuversicht, allem Widrigen zum Trotz.

Wir Schafe liegen schön da und käuen wieder. Der gute Hirte ahnt mit Blick aufs Grüne, wann es mit der Weide vor Ort ein Ende hat. Immer mehr Räuber riechen Beute, lauern an den Hürden. Ja, da steht noch viel Futter. Das Ganze noch schnell abgrasen, das würden ein Paar Leithammel gern. Und maulen deshalb, widersprechen. Dem guten Hirten sei Dank lassen die Leute alles hinter sich: die alten Leithammel, das noch vorhandene Futter, das ganze vertraute Doppelleben zwischen Gier und Angst. Der Duft der neuen Weide lockt. Macht hungrig und satt zugleich. So sehr, dass der Weg ins Neue voll Zuversicht begangen wird. Der Aufbruch zieht und entzieht sie den Räubern als Beute.

Gott der Hirte verheißt gerade das: Ich drehe das Leben der Wehrlosen. Indem ich sie den Mächtigen als Beute verwehre. Und die Wehrlosen zu neuer Stärke führe. Gott bringt sich als unbekannte Macht ins Spiel. Wie damals überraschend durch den König Kyros. Also weg mit heimlicher Rückversicherung der Macht. Ein Ende der echten Vollkaskomentalität!

Gott dreht das Leben der Wehrlosen zu neuer Stärke. Gegen seine Widersacher, die jene unterdrücken. So was wie Gottvertrauen, das würden einige der Widersacher gar nicht kennen wollen. Die sichern sich lieber selber ab. Über Bande und fünf Ecken. Zahlenspiele. Vertrauen lieber darauf, dass sie die Umstände in den Griff kriegen. Menschen und Dinge hinbiegen. Die harten und die weichen Faktoren. Mit welchen Mitteln auch immer. Von wegen gegen ihr Zutun. Man muss die Leute zwingen zu ihrem Glück. Das maßt sich Gott nicht an. Er stellt vor die Wahl.

Und wenn diese Superschlauen mit ihrem Zutun durchkommen, dann fühlen sie sich wie der King. Hirte hörte sich heute komisch an. Dann glauben sie sagen zu können, was sie alles geleistet haben. Dass sie immer alles geben. Und meinen umgekehrt, deshalb alles verdient zu haben. Sich alles rausnehmen und nehmen zu können. Also weg mit „gegen mein Zutun“. Weg mit Vorschuss und Vertrauen. Nur Zahlen zählen. Ich bin der King.

Worauf Gott antwortet: Ja, du bist der King. Aber nur der babylonische. Der von mir abgelöst wird. Du bist der King, aber ich setze Dich ein, wie es mir gefällt. Ich setze Dich ab. Alles geben in seinem Job. Das Maximum leisten. Das geht in Ordnung für Gott. Das tut er ja auch. Aber zugleich meinen, alles dafür verdient zu haben, sich alles rausnehmen und nehmen zu können - das widerspricht Gott. Das ist nicht sein Wesen. Das macht er gerade nicht. Deshalb Ende Gelände für solche Gemüter. Für Macher dieser Machart, egal aus welchem Bereich.

Vielleicht denkt so ein alter Widersacher: Was soll mir denn schon passieren? Wo soll denn so ein Überraschungsmoment herkommen? Wer kann mir das Wasser reichen? Das ist ja so, als ob Covid 19 plötzlich mir nix dir nix aus der Welt verschwinden würde. Und genau das gab es schon. Nicht bei Covid 19. Aber in der Historie der Seuchen. Bei anderen Erregern. Auf einmal waren sie aus der Welt. Wirkungslos, verpufft, verschwunden. Bis jetzt unerklärlich, aber tatsächlich geschehen.

Gott der Hirte dreht das Leben der Wehrlosen gegen seine Widersacher zu neuer Stärke. Und Schwache brauchen nichts dafür zu tun. Diese Barmherzigkeit kriegen sie einfach so von ihm. Jeder wird angesprochen, um aufzuwachen und sich auf zu machen. Sich von Gott dem Hirten zum Aufbruch scheuchen zu lassen. Zu Vertrauen auf in den Weg zum Neuen. Weg mit heimlicher Rückversicherung. Ein Ende mit der echten Vollkaskomentalität.

Gott der Hirte dreht das Leben Schwacher gegen seine Widersacher zu neuer Stärke. Diese Idee gefällt. So sehr, dass Menschen daran weitergesponnen haben. Der Heinrich von Kleist zum Beispiel. In seinem Text „Über das Marionettentheater“. Da geht es um einen Bären. Der mit einem Fechter kämpft.  Schwerfälliges Tapsen gegen anmutiges Tänzeln, alles klar. Der Bär durchschaut irgendwie die Finten des Fechters. Und weicht allen Stichen und Hieben geschickt aus. Pariert sie. Null Treffer kriegt er ab. Der Fechter hört auf. Verlässt die Arena. So laut Gottes gutem Hirtenwort auch jedes Übel. Jegliche Widrigkeit.

Ein Sieger der Herzen, der Bär. Und überraschend. „Wahre Grazie“, schließt von Kleist, „wahre Grazie kommt aus reiner Intuition.“ Wenn jemand gar nicht so genau weiß, was er da gerade tut. „Oder“, sagt er, „sie kommt aus einem Superwissen“. Sozusagen direkt aus Gott entsprungen. Wenn Menschen Anmut zeigen, Grazie. Wie auf der Bühne bei Balletttänzern, worauf Kleist im Text auch hinweist.

Aller Widrigkeit beikommen, denn Gott hütet. Nicht nur dem Bösen und Üblen. Allem Widrigen. Seinen Beistand krieg ich einfach so. Jeder wird angesprochen, um aufzuwachen. Sich von Gott dem Hirten zu reiner Intuition oder Superwissen erwecken zu lassen. Weg mit heimlicher Rückversicherung. Ein Ende mit der echten Vollkaskomentalität.

Gottes Leute sagen zu diesem Superwissen übrigens Glaube, Gottvertrauen. Ein wohlgenährter Glaube, wenn es stimmt, was im Bibeltext verheißen wird. Hungrig und satt sein, gut austariert. Massephase für Körper und Geist. Und damit ist dem Widrigen dann gut beikommen. Körperlich und geistig. Manchmal auch nur geistig. Beim Sterben dann ganz sicher nur geistig.

Ein Einwand. Glaube satt, der hungrig auf Gott und neues Leben macht. Das widerspricht sich doch! Und damit dann souverän dem Widrigen beikommen? In schlafwandlerischer Gewissheit? So ein Unsinn! Mich hat so viel Widriges in meinem Leben getroffen. Die Welt ist voll davon.

Gegenfrage: Wenn die Welt davon überquillt, dann ist man Widrigem mindestens einige Male entgangen, oder? Und wie oft, ohne es bemerkt zu haben? Gerade auch die, welche sagen, noch nie mit echt Widrigem oder Üblem Bekanntschaft gemacht zu haben.

Glaube satt. Und der macht hungrig auf Gott und neues Leben. Verheißen für seine Widersacher und Abweichler, Gottesvergiftete und Magergläubige. Dank Gottes Herzenshungerkur wächst der auch im Verborgenen heran. Wird groß und stark, selbst wenn ein Mensch meint, er sei da grad voll auf Diät. Denn wenn Gott sagt, er nähre, dann nährt er. Ob wir das merken oder nicht, ob wir das wollen oder nicht.

Lageenergie kann sich plötzlich in Bewegung verwandeln. Da braucht es manchmal nur einen klitzekleinen Anstoß. Nur ein kleines Bisschen. Von Gottes Herzensweide vor die Nase und Mund gehalten. Und die gespeicherte Energie wird frei. Kommt in Fluss. Fließt in Aufbruch und neue Kraft.

Glaube satt, der hungrig macht. Verheißen für Gottes Widersacher und Abweichler, Gottesvergiftete und Magergläubige. Alles wird gut, egal wie widrig die Lage aussieht, egal was Menschen Übles tun können und auch tun. Egal, welchen Anteil ich mit meinem Tun an Widrigem habe. Alles wird gut, ohne dass ich Schwacher was dazu tun muss. Ja, gegen die Kraft alter Mächte. Dank Gottes Barmherzigkeit. Die kommt uns bei mit Vertrauen im Entschwinden. Die Macht der alten Kräfte schwindet, die Kraft der eh´mals Schwachen wächst. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an OStR Markus Kreis

1.    Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen hatte ich stellvertretend für die Tätigkeit vieler heutiger mittlerer „Funktionseliten“ die Kolleg*innen an meiner Schule, die täglich das Verhältnis von Kontrolle und Vertrauen oft neu auf ihre je eigene Art austarieren, gegenüber Klientel und ihresgleichen.

2.    Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Vielfalt der Hirtenmetapher und ihrer Wirkung, siehe das Buch von Ulrich Bröckling, Gute Hirten führen sanft, stw 2217

3.    Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die nahezu allseits gepflegte pastorale Menschenführung unserer Zeit steht und fällt mit Gottes Hirtenwort: Die Kräfte alter Mächte schwinden, die Macht ehemals Schwacher wächst.

4.    Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die sehr ausführliche Rückmeldung hat stilistische Fragen wie Wortwahl usw. geklärt, mir die Hirtenmetapher, die ich zuerst irrtümlich rein seelsorglich verstand, als zuerst politische nahegelegt. Was mich zu einem neuen Thema geführt hat und dazu, mich auf die Hirtenbildfunktion zu beschränken, sprich andere Vergleichsbegriffe weitestgehend zu streichen.

Perikope
18.04.2021
34, 1-2, 10-16.31