Heute Abend kommt die Babysitterin. Wir waren schon solange nicht mehr zusammen im Kino. Es ist eben schwierig mit den Kindern, ohne Großeltern in der Nähe. Also kommt heute die Babysitterin.
Die junge Frau kennen wir aus dem Kindergarten. Sie war die Erzieherin unserer Jungs. Und - was viel wichtiger ist -: die beiden mögen sie. (Und hören auf sie.)
Ob wir die junge Frau kennen? Sagten wir doch, aus dem Kindergarten. Aus Gesprächen mit ihr.
Ob wir die junge Frau richtig kennen? Spielt das eine Rolle? Wir vertrauen ihr so sehr, dass wir ihr unsere Kinder anvertrauen.
Wir vertrauen der Babysitterin wie der Chef seinen Mitarbeitern vertraut. Oder wie Sie dem Piloten vertrauen, der Sie in den Urlaub fliegt. Und wie der Patient, der seiner Ärztin vertraut.
Vertrauen – das ist der Klebstoff, der unsere Welt zusammenhält.1 Ohne Vertrauen würde keine Welt funktionieren. Nicht die Geschäftswelt, nicht unsere kleine Familienwelt und erst recht nicht die Kirchenwelt. Ohne Vertrauen hätten wir längst den Glauben aufgegeben.
Vertrauen ist also überhaupt nicht unvernünftig. Vertrauen ist eine Voraussetzung für das Zusammenleben. Und wenn wir vertrauen, dann immer nur wenn es gute Gründe dafür gibt, dass unser Vertrauen nicht enttäuscht wird.
Der Evangelist Johannes hat so eine Vertrauensgeschichte aufgeschrieben: Es ist eine alte Geschichte, aber sie ist universal. Hier ein Vater. Dort ein Sohn. Der Sohn ist dem Tode geweiht. Der Vater außer sich vor Sorge. Der Vater ist ein königlicher Hofbeamte. Er könnte alles andere sein. Ein Angestellter in leitender Position, mittlere Beamtenlaufbahn. Ein Busfahrer, ein Bäcker, ein Zugführer, ein Lehrer, ein Pfleger. Auf jeden Fall jemand, der in geregelten Bahnen lebt, denkt und arbeitet.
So wie am Hofe des Königs. Auch dort geht es geordnet zu. Es gibt Strukturen, die das Leben am Hof regeln. Es gibt eine Ordnung. Es ist eine korrekte, geordnete Welt. Kurzum: Es geht modern zu am Hof des Königs. Aber wie so oft im Leben gibt es Grenzen: Austherapiert. Hoffnungslos. Todgeweiht.
Der Sohn des Beamten ist sterbenskrank. Das Leben bricht ein. Missachtet alle Strukturen und alle Macht. Durchbricht den vermeintlich sicheren geordneten Rahmen, schlägt zu und trifft. An der Krankheit des Sohnes ist die Macht des Beamten ohnmächtig. Also macht der Vater sich auf den Weg. Verlässt das Bett des todkranken Kindes. Sicherlich keine Mutter, kein Vater hier im Raum oder irgendwo auf der Welt, kein Elternteil, der nicht dasselbe tun würde. Oder doch?
Angesichts des Todes trotzdem gehen? Das Kind wird sterben. Also nicht doch lieber bleiben? Das Leben bricht ein und darum bricht der königliche Beamte auf. Verlässt das Krankenlager und geht hinauf nach Kana.
26 Kilometer sind es vom Sterbebett des Kindes bis zum letzten Ausweg. 26 Kilometer schaffen geübte Läufer in deutlich weniger als 90 Minuten. Aber die haben weniger Gepäck auf dem Rücken als der Vater.
Der Hofbeamte möchte zu Jesus. Ohne zu wissen, was der wirklich kann. Er weiß nur, dass dieser schon Wunder getan hat. Wasser zu Wein habe er gemacht. Sagen die Leute. Was bleibt ihm anderes übrig, als diesem Jesus zu vertrauen? Alles versuchen. Egal wie absurd es ist. Ihm das Kind anvertrauen.
Jesus jedenfalls ist oben. Er ist in Kana. Vielleicht scheint sogar die Sonne, als ein Mann von unten kommt, auf ihn zukommt. Schließlich vor ihm steht und ihn bittet mitzukommen. Von der Höhe ins Tal. Vom Weinwunder in die harte Realität. Vom Leben in den Tod.
Ich stelle mir vor, wie Jesus den Kopf zur Seite dreht, den verschwitzten Mann wahrnimmt. Sieht, wen er da vor sich hat, was ihn aber nicht weiter interessiert. Auch die Kinder von Mächtigen werden krank. So ist das.
Und Jesus ist vielleicht gerade im Gespräch, fühlt sich gestört, blickt zur Seite. Hört, wie der Hofbeamte seine Bitte formuliert und alles was er dem Mann sagt ist ein Satz, der ein Vorwurf ist. Jesus macht sich nicht die Mühe auf den Vater einzugehen. Ist nicht zugewandt. Ist seelsorgerlich nicht geschickt. Ist schroff und abweisend.
„Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht!“ (Joh 4,48)
Der Vater könnte jetzt gehen. Er könnte denken, was bildet sich dieser Typ eigentlich ein? Was denkt der eigentlich, wer er ist? Der ganze Weg, die ganze Angst und dann so eine Antwort?
Der Vater, voller Vertrauen in diesen Mann, ausgeliefert an dessen guten Willen, wiederholt seine Bitte.
„Herr, komm herab, ehe mein Kind stirbt!“ (Joh 4,49)
Und Jesus? Der braucht fünf Worte um das Wunder zu tun.
„Geh hin, dein Sohn lebt.“ (Joh 4,50)
Und er macht klar: Ich bin der Souverän hier. Ich gehe nicht mit. Ich gehe nicht mit dir in die Ebene, weil ich es nicht muss. Nicht, weil ich nicht will, sondern weil mein Wort ausreicht.
Aufgepasst! Das Wunder geschieht hier nicht um des Wunders willen.
Es geschieht, weil Jesus zeigt, was noch zu erwarten ist. Und es geschieht um zu zeigen, dass es in dieser Vertrauensgeschichte, die auch eine Glaubensgeschichte ist, nicht um den Glauben des Vaters geht. Es geht auch nicht um ein Mehr oder Weniger an Glauben.
Es geht um Vertrauen. Vertrauen in das Wort Gottes, das schon in der Welt ist. Und weiterhin gehört werden will.
Jesus erteilt dem Glauben an einen willkürlich eingreifenden Gott eine schroffe Absage. Diesen Gott, so sagt Jesus, diesen willkürlich eingreifenden Gott, den gibt es nicht.
Und schließlich: Es geht auch nicht darum, dass Gott hier eingreift und da nicht, denn die Geschichte will viel mehr: Sie erzählt davon, wie Jesus bei den Menschen, die er anspricht, Grundvertrauen weckt. Und die so angesprochenen Menschen Glauben ihm, weil sie seinem Wort vertrauen.
So wie der Vater. Als der Jesu Worte hört, dreht er um und geht zurück, voller Vertrauen, weil er dem Wort Jesu glaubt.
Es gibt ein Risiko des Vertrauens – aber das ist kein Makel, sondern der Beginn.
Amen.
1Vgl. L. Heidbrink, in: Die Zeit vom 9. Januar 2012, Nr.4/2012.