Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. (Sprüche 16,9)
Liebe Leserin, lieber Leser!
Am Neujahrstag nehme ich mir immer meinen neuen Kalender vor. Noch sind all seine Seiten blütenweiß. Sie laden dazu ein all das zu notieren, was an Terminen schon feststeht und in Erinnerung gebracht werden will. Zuerst die Geburtstage von Familie, Freunden, guten Bekannten, wobei die runden besonders markiert werden müssen. Wann sind Familienfeiern zu erwarten oder gar auszurichten? Wie sind die Feiertage dieses Jahres verteilt, wie liegen die Schulferien, und wann könnten wir am besten Urlaub machen? Für bestimmte Arbeiten und Aufgaben sind schon Termine gesetzt, die es einzuhalten gilt. Wieviel Zeit benötige ich neben allem anderen für die Vorbereitung? Dann habe ich mir ja auch einiges für das neue Jahr vorgenommen. Zum Beispiel regelmäßig einen Tag zu reservieren, an dem ich mit meiner Frau Bilanz ziehe, Prioritäten überprüfe und gegebenenfalls korrigiere. Wenn ich solche Tage nicht schon jetzt blockiere, wird aus diesem Vorhaben nie etwas.
Zu dieser Arbeit im neuen Kalender passt genau der erste Teil des Wortes aus den Sprüchen Salomos, das der heutigen Predigt zugrunde gelegt werden soll. „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg“. In der Tat, solange das Herz des Menschen schlägt und bei Bewusstsein ist, denkt und plant es über den Augenblick hinaus. Ohne diese Fähigkeit würden wir ziellos von einem in den nächsten Tag hineintaumeln, geschoben und getrieben von dem, was da grade auf uns zukommt. Das Herz denkt voraus und ermöglicht uns damit, das Leben nach eigenen Wünschen zu gestalten.
Freilich kommt uns dabei oft ein großes Aber in die Quere. Das Aber des „Erstens kommt es anders und zweitens, als man denkt“. Was hat allein die nicht enden wollende Pandemie an Plänen zunichte gemacht! Ein langersehntes Hochzeitsjubiläum musste verschoben werden, bis es ganz ins Wasser fiel. Ein guter todkranker Freund hatte auf seinen letzten runden Geburtstag zu gelebt. Den wollte er als Abschluss seines Lebens in großer Runde feiern. Den Tag erlebte er noch bei vollem Bewusstsein. Doch der Lockdown verhinderte jedes Fest. Und sterben musst er dann ganz allein. Und wieder steht das drohende Vorzeichen der sich immer weiterverändernden Pandemie über einem neuen Jahr. Was auch immer ich in meinem Kalender eintrage, steht unter dem großen Vorbehalt des „Aber“.
Das galt natürlich auch schon zu Zeiten, in denen die Pandemie so gut wie unbekannt war. Überall und immer wieder erleben wir Menschen, dass unsere Pläne durch unvorhersehbare Ereignisse durchkreuzt wurden. Und so fährt unser Predigtwort im zweiten Teil fort mit dem Aber: „Aber der Herr allein lenkt seinen Schritt“. Oder – wie es das Sprichwort sagt: „Der Mensch denkt, aber Gott lenkt.“ Das Aber gehört genauso zum Leben wie das Planen unseres Herzens, keine Frage. Und doch ist da eine Frage, über die ich nicht hinwegkomme: Steckt Gott wirklich hinter dem Aber? Begegnet er dem planenden Herzen als der mächtigere Gegenspieler? Hat er Freude daran, der Spielverderber unseres Lebens zu sein und es darauf anzulegen, dass wir am Ende als die Dummen dastehen? Alles in mir sträubt sich dagegen, mit einem solchen Gott ins neue Jahr zu gehen und Sie dabei auch noch mitnehmen zu sollen.
Deshalb nehme ich mir meine hebräische Bibel vor und schaue nach, was dort genau steht. In der Tat: Es geht los, wie wir es schon gehört haben: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg,“. Doch dann kommt eine Überraschung. Da steht als nächstes ein kleines Wörtchen, das eigentlich nur aus einem Buchstaben besteht. Im Hebräischen steht es so gut wie immer für das einfache „und“. Wenn Luther und andere es als „aber“ übersetzen, wollen sie damit offenbar den Unterschied zwischen den beiden Satzhälften betonen und sagen: Auf der einen Seite geht es um das sich seinen Weg erdenkende Herz, dort aber geht es um Gott, der die Schritte lenkt. Gewiss ist das ein Unterschied. Aber ist hier wirklich ein Gegensatz gemeint, in dem Sinn, dass Mensch und Gott einander gegenüberstehen? Wenn wir anstelle des Aber das Und stehenlassen, heißt es: „Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, und Gott lenkt seinen Schritt.“ Damit verändert sich das Gottesbild. Ohne das Aber begegnet Gott dem planenden Menschen nicht als Gegenspieler. Mit dem Und tritt er ihm als Mitspieler an die Seite.
Und das ist der Gott, den wir aus der Bibel von Anfang an kennen. Den Menschen hat er zu seinem Ebenbild erschaffen, hat ihn und sie ausgestattet mit der Fähigkeit, sich in ihrer Umwelt zu beheimaten. Abraham und seine Nachkommen hat er erwählt, damit sie zum Segen werden für alle Welt. Sein Volk hat er aus der Sklaverei befreit und ihm durch Mose und die Propheten seinen Willen nahegebracht. Die Psalmen singen von ihm als dem Gott, der Menschen krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der Sünden vergibt und die Gefallenen wieder aufrichtet.
Er ist der Gott, der mit uns in das neue Jahr geht. Wir machen Pläne. Er hat diese Fähigkeit in uns angelegt und freut sich daran, wenn diese Pläne nicht nur vom Kopf, sondern mit dem Herzen gemacht werden. Denn das Herz achtet darauf, dass die Menschen, mit denen ich es zu tun habe, zu ihrem Recht kommen. Und Gott lenkt meinen Schritt. Ganz wörtlich steht da: „Er macht meinen Schritt grade.“ Er lässt mich aufrecht gehen und klar nach vorne sehen. Er bewahrt mich davor, ins Taumeln zu geraten und mich treiben und schieben zu lassen von dem, was da gerade auf mich zukommt. Gott sei Dank weiß ich, wohin ich will; zielsicher kann ich meinen Weg gehen. Und er hilft mir auf die Beine, wenn mir wieder das große Aber einen Strich durch meine Pläne macht. Dann heißt es von seiner Seite nicht: Damit musst du dich halt abfinden, denn ich habe es anders gewollt.
Nein, mit dem Unglück und dem, was uns Menschen schadet, steckt Gott nie unter einer Decke. Wenn Pläne sich zerschlagen haben, wenn wir niedergeschlagen und down sind, bekommen wir von ihm zu hören: Komm, steh auf. Ich hab was mit dir vor. Ich trau dir das zu, dass du das Beste aus dieser Misere machst. Ich mache deinen Schritt wieder gerade. Ich höre ihn so gerade auch im Blick über mein persönliches Leben hinaus. Im Blick auf das große Weltgeschehen. Wo wir von allen Seiten umgeben sind von Nöten, die uns überfordern. Die kaum noch aufzuhaltende Klimakatastrophe. Der nicht abreißende Strom von Menschen, die von Krieg, Hunger und Terror vertrieben nach Europa drängen. Die beängstigende Macht von Verschwörungstheorien, die vielen Menschen die Urteils- und Lernfähigkeit nimmt, um nur einiges zu nennen. Da gehen unserem Herzen die plausiblen Pläne aus. Doch Gott an unserer Seite ist nicht am Ende. Er bleibt dabei: Steht auf alle, die ihr mit Israel und Jesus an mich glaubt. Ihr braucht die Welt nicht zu retten. Aber das Rechte tun und sagen in Eurem Umfeld, das könnt ihr. Und damit geht ihr einen Weg, der in meine Zukunft führt. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mir steht vor Augen, dass meine Predigt von Menschen gelesen wird, die ich nicht kenne, die offenbar Interesse an einer Predigt für den Neujahrstag haben. Einige von ihnen sind möglicherweise Kolleg:innen, die Anregungen für ihre Neujahrspredigt suchen. Ich hoffe, dass ich ihnen mit dieser Predigt dienen kann, weise allerdings daraufhin, dass Veränderungen fürs Hören vorgenommen werden müssen, vor allem durch Kürzen der längeren Sätze.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Jahresplanung anhand meines neuen Kalenders, die dem ersten Teil des kleinen Textes entspricht.
Ins Stocken geraten bin ich beim Bedenken des zweiten Teils. Und regelrecht beflügelt hat mich dann die Begegnung mit dem hebräischen Urtext mit dem Wechsel vom „aber“ zum „und“ sowie vom „Lenken“ zum „Grademachen“.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Immer von neuem geht es beim Gedanken an Gott – auch und gerade in der Bibel – um den Transfer von oben nach unten. Der Gott im Himmel, der die Geschicke auf Erden lenkt, kommt für den denkenden Menschen nicht in Frage, mögen ihn sprachliche Wendungen auch immer von neuem dorthin katapultieren. Doch bleibt er unverzichtbar als Begleiter der nach ihm Fragenden und als Schrittmacher von Humanität.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Bei der eben angedeuteten Transferarbeit hat meine Erstleserin mich unterstützt. Sie hat mir zu manchen Konkretionen geraten und meinen Stil hier und da verbessert.