Vom Gipfel zum Leben in dieser Welt
Liebe Gemeinde,
Der Ort ist für die Verklärung wichtig. Es ist der Gipfel eines Berges. In unserem Text wird der Name dieses Berges nicht genannt. Die biblische Tradition kennt nur einen Berg, der dafür in Frage kommt: den Tabor in Galiläa am Ostrand der Jesreel-Ebene.
Heute ist der Tabor für Touristen ein fester Programmpunkt bei der Rundreise in Israel. Schon im Alten Testament wird die Erhabenheit dieses Berges beschrieben und seine Höhe mit der Macht Gottes verglichen. Unvermittelt ragt der Tabor wie ein Kegel aus Ebene heraus. Im Volksmund heißt er deshalb der „Zeigefinger Gottes“.
Die Bilderwelt unseres Predigttextes weist uns den Weg zu einem Geheimnis des Glaubens. Ein Geheimnis ist etwas anderes als ein Rätsel. Ein Rätsel kann man lösen. Ein Geheimnis kann man allenfalls beschreiben und dabei seine Bedeutung jenseits aller rationalen Durchdringung respektieren. Vielleicht liegt hierin auch der Grund, warum Jesus seine drei Jünger auffordert, von diesem Erlebnis erst nach seiner Auferstehung zu reden. Über das Besondere, das Außergewöhnliche – ja auch das Überwältigende kann man nicht ständig reden. Einem geliebten Menschen kann und muss man nicht alle fünf Minuten sagen, wie sehr man ihn liebt. Wie mit der Liebe, so ist es auch mit der Gottesnähe; wir erfahren sie, aber wir reden nicht ständig von ihr.
Nähern wir uns den Bildern, mit denen Matthäus dies Geheimnis beschreibt.
Da ist zuerst der Gipfel des Berges. Solche Gipfel bieten häufig besondere Erlebnisse. Wir können das leicht nachvollziehen, wenn wir etwa auf dem Lemberg einen Sonnenuntergang beobachten und Zeuge werden, wie die Leonberger Höhe in ein leuchtendes Rot getaucht wird und uns dabei noch eine Gedichtzeile Hölderlins in den Sinn kommt.
Berge sind oft auch Orte des Rückzugs, der Besinnung und der Auszeit. Auch das kennen wir aus unserem Leben. Vor wichtigen Aufgaben tanken wir Ruhe, vor schwierigen Entscheidungen ziehen wir uns zurück, um unsere Kräfte zu sammeln mit denen wir „über den Berg kommen“.
Vor den Augen und den Ohren der Jünger wird Jesu Vollmacht bestätigt. In der Dramaturgie des Evangeliums geschieht die Verklärung zwischen der ersten und der zweiten Leidensankündigung Jesu. Gipfelerlebnisse sind immer Wendepunkte. Nach dem Aufstieg zum Gipfel muss man wieder den Weg in die Ebene zurückgehen. Deshalb ist das Ansinnen von Petrus irrig, drei Hütten zu bauen und damit das Besondere und das Überwältigende für die Ewigkeit zu konservieren. Es würde bestenfalls ein Museum dabei herauskommen.
Wir kennen auch die Redewendung „die Mühen der Ebene“. In diese Ebene zurück führt der Weg für den Verklärten, auf dem er seine Jünger mitnimmt. Aber vorher geschieht noch etwas anderes:
„7Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!“
Glaube kann manchmal ein heiliges Erschrecken sein. Jedenfalls machen die Jünger eine im wahrsten Sinn umwerfende Erfahrung. Was sie sehen und hören übersteigt ihre Möglichkeiten der Wahrnehmung. Wie schon Mose und Elia vor ihnen löst die Erscheinung Gottes bei ihnen Furcht und Zittern aus. Aber Jesus berührt sie und richtet sie aus ihrer Demutsgebärde wieder auf. Er gibt ihnen ihr menschliches Maß und damit ihre Würde zurück. Ein Kapitel nach unserem Text muss Jesus freilich den Rangstreit zwischen den Jüngern schlichten und sie von ihren Höhenflügen auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Die Bilder, die Matthäus verwendet, kann man angemessen so zusammenfassen: ‚Ohne Abstieg bleiben Gipfelerfahrungen wertlos. Ohne Gipfelerfahrungen wird jeder Abstieg zu einem Trauermarsch‘.[1]
In unserem individuellen Leben haben wir zu diesen Gedanken einen unmittelbaren Zugang. Für alles, was lange währen soll, brauchen wir immer wieder Gipfelerlebnisse, Erfahrungen des Glücks und der Ermutigung, an denen wir Kraft tanken, damit wir die Mühen des Alltags gut überstehen. Das gilt für das Zusammenleben von Paaren genauso wie für ein langes Arbeitsleben, für das wir auch immer wieder Erfolgserlebnisse und Anerkennung benötigen. An dieser Stelle dürfen wir nicht stehenbleiben. Erfolgserlebnisse beleben den Alltag. Wenn man nur einseitig die Höhepunkte festhalten will, erreicht man am Ende nur Stillstand.
Mit meinen bisherigen Gedanken befinden wir uns ausschließlich in der Welt des persönlichen Erlebens. Haben diese Gedanken eine Bedeutung für das, was uns politisch in diesen Wochen bewegt? Der Terror der selbsternannten muslimischen Gotteskrieger erschüttert die Welt. Um die Hintergründe dieses Terrors verstehen zu können, ist es nötig die Verschränkung der politischen Kultur mit der Religion des Islam zu beleuchten.
Die kulturelle Blüte des Islam lag im Mittelalter, noch bevor mit Reformation und Humanismus sich im Westen eine Loslösung von der kirchlichen Bevormundung abzeichnete. In Philosophie, Naturwissenschaften und Mathematik war die islamisch geprägte Kultur der europäischen sogar in Teilen überlegen.
Die Entdeckung Amerikas ist im Osmanischen Reich, dass die politische Einheit für die Welt des Islam darstellte und zu dieser Zeit seine machtvollste Ausdehnung besaß, überhaupt nicht beachtet worden. Und doch legte die Entdeckung der neuen Welt den Grundstein für den wirtschaftlichen und politischen Niedergang des Osmanischen Reiches – eine Erfahrung von Abstieg und Ausgeliefertsein, das die islamische Welt in weiten Teilen bis heute prägt.
Der Buchdruck, mit dem die Weitergabe von Wissen um ein Vielfaches beschleunigt wurde, durfte im Osmanischen Reich erst 300 Jahre nach Johannes Gutenberg eingeführt werden. Dies hatte vornehmlich religiöse Gründe, weil die arabische Hochsprache, in der der der Koran überliefert ist, eine vorwiegend religiöse und liturgische Bedeutung hat. Deshalb unterliegt die mechanische Vervielfältigung der heiligen Sprache einem Tabu.
An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, wie der bis ins Mittelalter hinein selbstverständliche geistige und kulturelle Austausch zwischen Okzident und Orient unterbrochen wurde, weil sich die Entwicklung der Sprache, der Weitergabe von Wissen und damit auch die kulturelle Entwicklung der Gesellschaften getrennt voneinander zu entwickeln begannen.
Für Westeuropa ist die Entwicklung hin zur Moderne mit der Säkularisierung verbunden. Säkularisierung kann man als „Einhegung des Sakralen“ bezeichnen. Das heißt: Vorschriften der Religion und die Erfahrung der Transzendenz bestimmen nicht mehr vollständig das Alltagsleben der Menschen, sondern werden auf bestimmte Bereiche begrenzt. Dies ermöglichte der westlichen Zivilisation eine eigenständige Entwicklung, die weitgehend frei von religiösen Verboten und Einschränkungen ist.
Diese Form der Einhegung des Sakralen hat die Mehrzahl der arabisch-muslimischen Gesellschaften nicht mitvollzogen. Auf der Religion basierende Vorschriften bestimmen bis heute das Alltagsleben vieler Menschen, die gesellschaftliche Ordnung und die staatliche Gesetzgebung. Damit wird weitgehend eine alte Ordnung konserviert, die nicht dynamisch im Zusammenleben der Menschen weiterentwickelt wird.
In der islamischen Kultur kommt noch ein anderes Verständnis des Gesetzes hinzu. In der traditionellen Ethik werden die Vorschriften für das Alltagsleben aus dem Gesetz hergeleitet. Erst die Erfüllung des Religionsgesetzes ermöglicht das „richtige“ Leben des Gläubigen. Wenn dieses richtige Leben erreicht ist, erfüllt sich die Geschichte. Diese Erfüllung der Geschichte ist in der traditionellen Vorstellung mit Bildern verknüpft, die eine Rückkehr in die idealisierte Zeit des Propheten in Mekka und Medina bedeuten. In dieser Lesart des Koran sehnt man sich nach dem Gipfel der Verklärung zurück
Aus diesem religiös motivierten Anspruch heraus das gesellschaftliche Leben zu gestalten wird die eigenartige Spannung sichtbar, die das Verhältnis von Islam und aufgeklärter Moderne kennzeichnet.
Dies erklärt nicht die Ursachen eines fundamentalistischen Terrors, macht aber den Graben sichtbar, der sich in den vergangenen 500 Jahren zwischen der europäisch-christlichen und der arabisch-muslimischen Welt aufgetan hat. Die Aufgabe, die die großen Religionen angesichts dieses Terrors haben, ist den abgerissenen Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Dabei kann jede Religion aus dem Reichtum ihrer Tradition schöpfen, ohne den Reichtum der anderen Tradition damit abzuwerten.
„7Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!“ In dieser Aufforderung Jesu an seine Jünger, aufzustehen, den Gipfel der Verklärung zu verlassen und in die Ebene hinabzusteigen, liegt eine besondere Ermutigung. Sie brauchen sich nicht blind der Erhabenheit Gottes zu unterwerfen. Sondern im Gegenteil sind sie aufgefordert, in einem aufrechten, die menschliche Würde wahrenden Handeln ihr Leben zu gestalten und in einer nach vorne hin offenen Zukunft zu entwickeln. Die Begegnung mit Gott ist nicht auf die Offenbarung auf dem Berggipfel beschränkt, sondern geschieht ebenso im Vollzug unseres Alltags.
Amen
Literatur:
Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin ³2010
Lothar Steiger, Erzählter Glaube. Die Evangelien, Gütersloh 1978, S. 144 – 152.
[1] Hans Joachim Schliep, Predigt zu Matthäus 17, 1-9. In: Göttinger Predigten im Internet, 9. Februar 2003. Dieser Predigt verdanke ich wichtige Hinweise.