„Nur ein Streifen Silberpapier, weiter nichts. Aber das Mädchen mit dem Diamanten im Nasenflügel hatte ihn berührt, und er roch immer noch nach Pfefferminze. Tauber faltete ihn auseinander, bis er ein glänzendes Rechteck ergab, voller knittriger Linien. Sein Zeigefinger zitterte über die Silberbeschichtung, als versuche er, die geheime Botschaft der Linien zu entschlüsseln. Vorsichtig schob er das Papier in die Tasche seines grauen Regenmantels.Seine Augen glitten über den vertrauten Heimweg, ohne sich irgendwo festzuhalten. Was er sah, lag Minuten zurück: Das Mädchen wickelt das Kaugummi aus, wirft das Papier achtlos auf den Bahnsteig, während sie den weichen Streifen in den Mund schiebt. Sie umfasst den Hals des hochgewachsenen, blonden Jungen, bedeckt mit ihren schlanken Händen die kleine Narbe an seinem Nacken. Sie sehen sich in die Augen, versunken in ihrer eigenen Welt, während ihr Kiefer mechanisch vor und zurück mahlt. Sie küssen sich, kurz erst und spielerisch, wie zur Probe; dann noch einmal, sehr lange. Sie holt Luft, lächelt, während er wie benommen dasteht, ein wenig verwirrt und überaus glücklich. Und dann kaut er, kaut ihr Kaugummi, während sie ihm lachend zuwinkt und in der S-Bahn verschwindet.“1
Unscheinbar ist diese Szene. Die wenigsten werden sie überhaupt wahrgenommen haben. Wie so vieles, das passiert, neben uns, um uns herum, vor und nach uns. Unscheinbar ist diese Szene, und doch enthält sie alles, was das Leben schön machen kann: Überraschung und Sinnlichkeit, Zuwendung und Zärtlichkeit, Liebe und Kraft, die sich übertragen, überfließen, sich verschwenden an alle, die sie sehen wollen, die sie spüren wollen. Es sind nicht immer die großen Ereignisse, die besonderen Erfahrungen, die unser menschliches Leben prägen. Ganz oft sind es diese kleinen Begebenheiten mitten im Alltag, die uns berühren, anrühren, in Schwingung versetzen, Verbundenheit fühlen lassen. So, wie Tauber.
„Tauber schloss die Tür der kleinen Wohnung auf, holte das Silberpapier aus der Manteltasche und glättete es mit Daumen und Zeigefinger. Auf dem dritten Regalboden von unten, zwischen dem Schnuller und dem roten Spielzeugauto, fand er einen geeigneten Platz. Das rote Spielzeugauto. Ganz vertieft hatte der kleine Junge damit gespielt, in der Sandkiste auf dem Spielplatz der Wohnsiedlung. Tauber hatte ihn von seinem Fenster aus beobachtet. Selbst auf diese Entfernung hatte er das Vibrieren der Lippen zu erkennen geglaubt, wenn der Junge „Brumm, brumm!“ machte. Dann war der Mann mit dem Bart gekommen. Der Junge hatte aufgeblickt. Einen Moment hatte er geblinzelt, verwirrt, verunsichert. Er war aufgesprungen, auf den Mann zugelaufen, hatte seine Oberschenkel umarmt, und der Mann hatte ihn hochgehoben und gedrückt und in die Luft geworfen und wieder gedrückt. Sie waren gegangen, und das rote Spielzeugauto war zurückgeblieben. Tauber wärmte sich an der Erinnerung wie an einem Kohleofen im Winter, und es tat weh, wie Wärme eiskalten Händen wehtut.“
Von Resonanz spricht der Soziologe Hartmut Rosa2 in seinem faszinierenden Buch einer Soziologie der Weltbeziehung und erklärt damit das Zentrale unserer menschlichen Welt in einer für mich sehr überzeugenden Weise. Es geht für Rosa darum, dass wir Menschen beziehungsweise leben, also in guten, in förderlichen, überhaupt in Beziehungen leben zu uns selbst, unseren Mitmenschen und zur Welt und am Ende darin auch zu Gott. Denn wo das gelingt, sind wesentliche Bedürfnisse des Menschen erfüllt: Dort, wo ich in Resonanz lebe, fühle ich mich zugehörig. Dort, wo ich in Resonanz lebe, entwickle ich Vertrauen. Dort, wo ich in Resonanz lebe, wird mir etwas wichtig. Das kann zeitlich nur ganz kurz sein, wie bei Tauber am Bahnsteig, es kann aber auch länger dauern. Manchmal ein Leben lang, so wie bei Verwandten, in Partnerschaften, in Eltern-Kind-Beziehungen, in Freundschaften, in Verbundenheit zu Orten und Dingen. Zwei wesentliche Faktoren im Einfluss auf das je individuelle Erleben der eigenen Beziehungen zur und in der Welt beschreibt Rosa: Es kommt darauf an, was ich mitbringe, und es kommt darauf an, welche Haltung ich einübe. Und das hängt stark ab von den Erfahrungen, die ich im Leben mache. Wenn es drauf ankommt, ist das zweite wichtiger als das erste.
„In der Nacht lag er lange wach, sah immer wieder das junge Paar auf dem Bahnsteig, empfand die Wärme und Fröhlichkeit und Traurigkeit dieses magischen Augenblicks. Wenn er nicht aufpasste, stahlen sich Bilder dazwischen von roten Lippen und lachenden Augen und kleinen Händen. Bilder, die auf seiner Seele brannten wie Alkohol auf offenem Fleisch.In dieser Nacht hatte er einen beunruhigenden Traum. Das Kaugummipapier spiegelte sein graues Gesicht, verschwommen und zerknittert. Nach einer Weile löste sich das Spiegelbild auf, verschwand einfach, und mit ihm die Hand, die das Papier hielt. Es schaukelte zu Boden wie ein Herbstblatt, landete unbeachtet zwischen den Füßen vieler Menschen, bis es zertreten war, nur noch Unrat am Straßenrand.Tauber wusste, was der Traum bedeutete, obwohl er sich den ganzen Morgen gegen die Erkenntnis gewehrt hatte. Zu groß war seine Furcht, dass sie ihn auslachen oder gleich in eine Anstalt für alte Leute einliefern würden, die irgendwelchen Müll in ihren Regalen sammelten. Fremde Menschen. In seiner Wohnung. Er sah schon ihr schlecht überspieltes Erschrecken, wie sie ihm zuhörten, hin und wieder nickten und dabei ihre Blicke vor Scham in den Teppich bohrten. Aber er wusste, es gab keinen anderen Weg, wenn er das Einzige bewahren wollte, das er in all den langen, leeren Jahren geschaffen hatte.“
Resonanz erlebe ich auf mindestens zwei Weisen: Ich kann sie passiv erfahren oder aktiv gestalten. Ich kann mich hineingeben in diese Welt und alles, was sie mir ermöglicht. Und ich kann diese Welt gestalten, sie mir aneignen, auf mich beziehen, ihre Aufmerksamkeit auf mich richten. Dafür brauche ich Mut, Zuversicht, Vertrauen. Und zaghaft geht es oft los...
„Er begann also mit der alten Frau Schneider. Sie war immer so nett zu ihm, das musste reichen. Er traf sie, als sie mit zwei Plastiktüten von Aldi nach Hause kam, trug ihre Tüten die Treppe hinauf. Er hatte das noch nie getan, also schöpfte sie Verdacht. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als er sie fragte, ob er ihr etwas zeigen dürfe. „Was denn?“ „Es ist nur ... eine Sammlung.“
Da musste sie lachen. „Doch nicht etwa eine Briefmarkensammlung? Mein Herbert hat Briefmarken gesammelt, wissen Sie. So haben wir uns kennengelernt. Er hat gefragt, ob er mir seine Briefmarkensammlung zeigen dürfte. Und er hat das wirklich so gemeint.“ Sie lächelte, und die junge, anmutige Frau, die noch immer unter all der überschüssigen Haut steckte, lugte aus ihren Augen.
Er führte sie in seine Wohnung. Einen Moment lang standen sie vor dem Regal und wussten beide nicht, was sie sagen sollten. Dann fasste sich Tauber ein Herz und begann zu erzählen. Erst, als der tiefgefrorene Fisch in der Aldi-Tüte in ihrer Wohnung längst aufgetaut war, schloss er: „Das ist sie nun also, meine Sammlung.“ Er zwang sich, sie anzusehen.
Sie stand nur da, schluckte ein-, zweimal, fasste sich ans Auge, als sei ihr ein Insekt hineingeflogen. Dann ging sie, wortlos.“
Da ist es passiert: Der Satz ist gesagt. Die Berührung ist gemacht. Die Email verschickt. Der Termin vereinbart. Und die volle Wucht des Risikos steht im Raum: Wie kommt das an? Hat sich der Mut gelohnt? War es wirklich richtig? Ist das nicht doch alles zu ungewöhnlich, zu anders, so gegen den gesunden Menschenverstand? Einem Fremden helfen? Einer Unbekannten Zuwendung schenken? Einen Kranken pflegen? Einer Bettelnden geben? Tun, was dran ist, jetzt gerade, gegen jede Tradition und Konvention?
„Wenige Minuten später befreite die Türglocke Tauber von seiner Enttäuschung. Frau Schneider hielt einen vergilbten Briefumschlag in beiden Händen. „Ein Liebesbrief. Der erste von meinem Herbert. Er hat eine französische Sondermarke, sehen Sie? Obwohl der Brief in Kaufbeuren abgestempelt ist. Die bei der Post haben es nicht gemerkt!“ Sie lächelte. „Das war dann immer ein Spiel zwischen uns: Er schrieb mir Briefe mit Marken aus Marokko oder Bolivien oder Neuseeland. Ein paar Mal habe ich Nachporto zahlen müssen, aber meistens nicht, und dann haben wir uns immer gefreut.“ Eine kurze Pause entstand. „Ich dachte, vielleicht, für Ihre Sammlung ...“
Es gab nichts, was sich in diesem Moment zu sagen gelohnt hatte. Tauber nahm den Brief mit zitternden Händen und legte ihn neben das rote Spielzeugauto. Er sah ihre Freude, und ehe er es verhindern konnte, zogen sich auch seine Mundwinkel nach oben. Es war ein ungewohntes Gefühl.“
Aus dem Zweifel wird Gewissheit. Ja, es war richtig. Ja, das Wagnis hat sich gelohnt. Ja, eine Beziehung ist entstanden. Und die Welt zeigt ein neues, ein anderes Gesicht.
„Ein paar Tage später klingelte Frau Henke aus dem dritten Stock. Frau Schneider hatte ihr von Taubers Sammlung erzählt, genau wie Herrn Breitkamm. So fing es an.
Immer häufiger ertönte Taubers elektronischer Gong, der so lange unbenutzt gewesen war. Die meisten wollten nur mal gucken und gingen rasch wieder. Manche grinsten, manche lachten, manche machten Witze, manche klopften Tauber auf die Schulter. Doch manchmal hörte auch jemand einfach nur zu. Und verstand. Einige von diesen kamen zweimal, und beim zweiten Mal brachten sie selbst etwas mit: unscheinbare kleine Dinge, nur Müll in den Augen vieler. Sie lächelten, wenn sie ihre eigenen Geschichten vom Glück erzählten. Und manchmal lächelte Tauber mit.“
Menschen kommen zusammen und erzählen. Sie erzählen ihre Geschichte, wie sie waren, wer sie sind. Was sie geprägt hat an Zeit und Umwelt, was sie entschieden haben, welche Schicksalsschläge sie erlitten, welches Glück sie ergriffen hat. Und im Erzählen wächst Verbundenheit. Im Erzählen wird das Glück geteilt und vermehrt. Alles schwingt zusammen. Und Herzen werden weit und Seelen atmen Erlösung.
„An einem Dienstag im Mai, draußen herrschte Schmetterlingsluft, fühlte er sich stark genug. Er holte den Pappkarton hervor, der all die Jahre ganz hinten in der Abstellkammer auf diesen Tag gewartet hatte. Das war noch übrig von seinem eigenen Glück: ein Fotoalbum. Eine Mappe, darin Geburtsurkunden, Schreiben von der Versicherung, das Familienstammbuch. Ein Hase aus abgegriffenem Plüsch. Und das Foto, das Sophie mit den Zwillingen zeigte, ein Picknick am See, in der Woche vor dem Unfall.
Lange saß Tauber auf dem Boden, zwischen Eimer und Staubsauger, und hielt sich mit beiden Händen an dem schmalen Silberrahmen fest. Endlich stand er auf und stellte das Bild in seine Sammlung.“
An ihren Taten sollt Ihr sie erkennen! Dieser Vers des 1. Johannesbriefes könnte eine Überschrift sein für alle prägenden Texte dieses Sonntags: Den Wochenspruch wie das Evangelium und auch den Predigttext. Sie alle antworten auf die Frage, woran denn zu erkennen ist, das ein Mensch nach dem Willen Gottes lebt. Sie alle zeigen auf, dass die Gemeinschaft derer, die nach dem Willen Gottes leben, trägt und hält, mehr noch als alle Beziehungen und Lebensmuster, die wir sonst so kennen. Wer so lebt, kennt Erlösung. Wer so lebt, spürt Heil. Wer so lebt, fragt danach, wem er Nächster werden kann. Wer so lebt, fragt danach, welchem der Geringsten sie Gutes tun kann. Wer so lebt, lebt im engen Netz seiner wahren Familie. Und das ist weniger skandalös oder anstößig als vielmehr Konsequenz einer Theologie, die in ihrer Mitte von Erlösung und Heil spricht und die Beziehung, die Resonanzverhältnisse als ihr wesentliches Mittel und Ziel versteht.
Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.
1 Die Geschichte, die diese Predigt durchzieht, trägt den Titel „Taubers Sammlung“, Quelle: Karl Olsberg, Ein Streifen Silberpapier. Geschichten vom Glück, Frankfurt a.M., 2005.
2 Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.