Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner
9,1-8.14.16

Vom Vater und seinen beiden Söhnen - Predigt zu Römer 9,1-8.14-16 von Katharina Wiefel-Jenner

Römer 9,1-8.14-16 in der Übersetzung der Basisbibel:

Für das, was ich jetzt sage, berufe ich mich auf Christus.
Es ist die Wahrheit, ich lüge nicht. Auch mein Gewissen bezeugt es und erhält dafür die Bestätigung durch den
Heiligen Geist: Ich bin wirklich sehr traurig, ja, mir schmerzt regelrecht das Herz. Denn es geht um meine Brüder und Schwestern. Ich wünschte nur, ich könnte an ihre Stelle treten und selbst verflucht sein – ausgeschlossen aus der Gemeinschaft mit Christus. Es sind doch meine Landsleute, mein eigenes Fleisch und Blut. Sie sind doch Israeliten! Sie sind Kinder Gottes und haben Anteil an seiner Herrlichkeit. Mit ihnen hat Gott mehrfach einen Bund geschlossen. Er hat ihnen das Gesetz gegeben und sie gelehrt, ihn in rechter Weise zu verehren. Und er hat ihnen sein Versprechen gegeben.
Sie sind Nachkommen der
Stammväter, von denen auch Christus seiner irdischen Herkunft nach abstammt. Gott, der über allem steht, sei in Ewigkeit gelobt! Amen.
Es ist ja nicht so, dass Gottes Zusage hinfällig ist. Allerdings gehören nicht alle, die aus
Israel stammen, auch wirklich zu Israel. Genauso wenig sind alle Menschen, die von Abraham abstammen, auch wirklich seine Nachkommen. Sondern Gott hatte gesagt: »Die Nachkommen Isaaks sollen als deine Nachkommen gelten.« Das heißt: Die leiblichen Nachkommen von Abraham sind nicht zwangsläufig Kinder Gottes. Vielmehr gelten nur diejenigen wirklich als seine Nachkommen, die auf die Welt kamen, weil Gott es versprochen hat.
Was sollen wir dazu sagen? Etwa: »Ist Gott nicht ungerecht?« Auf keinen Fall! Er sagt ja zu
Mose: »Ich werde dem mein Erbarmen schenken, mit dem ich Erbarmen habe. Und ich werde dem mein Mitleid zeigen, mit dem ich Mitleid habe.«
Es kommt also nicht darauf an, ob der Mensch etwas will oder ob er sich abmüht. Sondern es kommt allein auf Gottes Erbarmen an.

 

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne.“

Ihr meint, Ihr kennt die Geschichte schon. Ja, Ihr kennt sie schon. „Ein Vater hatte zwei Söhne.“ Jesus hat sie erzählt. Paulus hat die Geschichte auch erzählt.

„Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzem Herze, den Jüngeren und den Älteren. Der eine war ihm genauso lieb wie der andere.“ Besonders Paulus hat diese Geschichte erzählt. Mit Petrus hat er sich über den Ausgang der Geschichte gestritten. Jakobus, der leibliche Bruder Jesu, war wohl auch anderer Meinung als Paulus. Aber schließlich wurde die Version von Paulus weiter erzählt.
„Ein Vater hatte also zwei Söhne. Er liebte sie beide von ganzen Herzen. Den älteren liebte er zuerst, denn er war der ältere Sohn und der Jüngere war noch gar nicht geboren. Zu ihm, dem Älteren, hat er gesagt: ‚Du bist mein geliebtes Kind.’ Nichts und niemand würde den Vater jemals davon abbringen können, seinen ältesten Sohn für immer und ewig innig zu lieben. Und auch der Sohn liebte seinen Vater innig. Lange war der ältere der Einzige – ein Einzelkind. Und so lange der Jüngere nicht geboren war, fühlte sich der Ältere als Einzelkind.
Im tiefsten seines Herzens ist er dieses Einzelkind geblieben. Doch wer wollte ihm das verübeln? In seiner Vaterliebe hatte doch niemand weiteres Platz, nicht einmal ein jüngerer Bruder. Hatte er nicht das Schönste und Beste vom Vater bekommen? Für alle Ewigkeit würde der Vater zu ihm stehen. Ihm hatte der Vater die Tora gegeben. Er bekam vom Vater das Gesetz, mit dem das Leben zum Guten führt. Alles, was zum guten Leben nötig ist, hat der Vater ihm zuerst in die Wiege gelegt. Einen ganz besonderen, einen einzigartigen Bund hatte der Vater mit ihm geschlossen.
Sicher, es gab auch schwierigere Phasen. Aber die Zeiten, als sich der Ältere wie ein pubertierender Teenager aufführte, sind vergangen. Abgesehen davon war dies lange bevor der Jüngere geboren war.
Als der Ältere noch nicht richtig verstanden hatte, was für einen grandiosen und einmaligen Vater er hat, da hatte er sich einen Dreck darum gekümmert, was der alte Herr von ihm wollte. Er hatte zwar die Tora. Gehindert hat ihn das aber nicht daran, sich lieber bei den anderen Familien umzusehen und zu überlegen, ob es nicht besser bei denen sei – die Mädchen waren schließlich hübsch. Jedes Mal, wenn er sich so richtig tief reingeritten hatte, war dann der Vater da und hat ihn wieder rausgeholt. Ein Klageschrei genügte meist und der Vater war zur Stelle rettete, bügelte die Fehler aus, beglich die Schulden, sorgte für Ruhe. Wie gesagt, das war zu einer Zeit, als der ältere Sohn noch Einzelkind war.
Schlimm waren dann die Zeiten, als der Vater erst einmal keinen Finger gerührt hat, um ihn vor den Folgen seines Leichtsinns zu bewahren. Der Sohn hätte es zwar wissen können, dass es böse enden wird, wenn man sich mit den falschen Leuten verbündet – noch dazu, weil der alte Herr ihn mehr als nur einmal gewarnt hatte.
Es war so absehbar gewesen, was passieren würde. Der Sohn fand sich im Exil wieder. Fern von zu Hause, ohne Aussicht, jemals zurückkehren zu können. Da saß er an fremden Ufern, verstummte, kein Lied kam mehr über seine Lippen. Er hängte seine Harfe in die Weidenbäume und weinte. Welches Vaterherz würde nun noch auf der Fortsetzung seiner pädagogischen Maßnahmen bestehen? Der Sohn hatte doch endlich gelernt! Zuhause würde er – da konnte man sich nun sicher sein – endlich die richtigen Worte finden, die richtigen Dinge tun, das Haus des Vaters wieder aufbauen und sich nicht mehr mit den falschen Leuten einlassen. Selbst dann nicht, wenn es unbequem würde, selbst dann nicht, wenn die üblen Schläger vom anderen Ende der Stadt ihn verprügeln und die Lügner aus der Nachbarschaft ihn mit Klagen überziehen und erpressen würden. Nein, endlich hatte er verstanden, wie großartig der Vater ist. Endlich versuchte er alles, um die Liebe des Vaters zu erwidern.“

Aus der Sicht des älteren Sohnes könnte die Geschichte hier enden. Dann aber wurde der Jüngere geboren. Wenn Paulus diese Geschichte erzählt, geht sie so weiter:
„Mit dem Gottesreich ist es so: Der ältere Sohn war und blieb das innig geliebte Kind seines Vaters. Und als die Zeit erfüllt war, wurde der jüngere Sohn geboren. Ihn liebte der Vater so sehr, dass er ihm die ganze Welt zu Füßen legte. Alle, die im Himmel und auf der Erde und unter der Erde sind, sollten ihre Knie vor ihm beugen. Alles, was in dieser Welt seufzt und sehnlich nach Befreiung schreit, würde durch ihn erlöst werden. Alles, was jemals dem Tod diente, würde durch ihn zum Leben bekehrt. Der Tod würde nicht mehr sein. So sehr liebte der Vater den jüngeren Sohn, dass seine Liebe die Pforten der Hölle zuschlossen.
Und als die Zeit ins Land gegangen war, hatten beide Söhne wiederum Kinder. Sie gehörten alle dazu, die Kindes des Älteren wie die Kinder des Jüngeren. Aber sie verstanden einander nicht. Die Kinder des älteren Sohnes glaubten nicht, dass die Liebe des Vaters zum Jüngeren die Hölle zufrieren ließ, sie glaubten nicht daran, dass sich vor dem Jüngeren die Knie aller im Himmel, auf der Erde und unter der Erde beugen. Sie glaubten nicht, dass mit dem Jüngeren der Tod an sein Ende gekommen ist. Sie bestanden darauf, dass nur die Liebe des Vaters zum Älteren zählt. Für sie war nur das Versprechen des Vaters an den älteren Sohn gültig.“

Paulus erzählt die Geschichte. Es ist seine eigene Geschichte. Er gehörte zu den Kindern des Jüngeren. Sein ganzes Apostelleben hat er darum gerungen, dass die Kinder des Älteren die Liebe des Vaters zum Jüngeren anerkennen. Die ganze Welt sollte durch ihn diese Geschichte erfahren. Unter Schmerzen musste er einsehen, dass er die Kinder des Älteren nicht von der Liebe des Vaters zu Jesus Christus überzeugen konnte. Sie blieben bei ihrer Liebe zum Vater.

Ihr habt es längst gemerkt: Es ist nicht nur die Geschichte von Paulus. Der Apostel erzählt uns unsere Geschichte. Auch wir gehören zu den Kindern des Jüngeren, denn so geht es weiter:
„Mit dem Reich Gottes aber ist es so: Gott ist der Vater. Jakob-Israel ist der ältere Sohn und Jesus ist der jüngere. Gott bleibt bei seiner innigen Liebe zu beiden, denn seine Liebe ist größer als unsere Herzen. Sie ist ewig und treu, denn er ist ewig und treu. Voller Mitleid erbarmt sich Gott beider und der Tod wird nicht mehr sein. Am Ende aber werden dann alle einsehen: Gottes Liebe lässt sich nicht trennen, nicht aufteilen und auch nicht gegeneinander aufrechnen.

„Mit dem Gottesreich ist es so: Ein Vater hatte zwei Söhne. Er liebte beide innig.“
Und Paulus wird mit seiner Version der Geschichte rechtbehalten - auf seine typische Paulus-Art. Amen.