Von der Kunst, Zerbrochenes zu heilen – Predigt zu Markus 1,32-39 von Johanna Klee
1,32-39

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Karmesinrot leuchtet der erste Schein des Tages. Er bricht sich sanft an den Wellen des Sees.

Genezareth. Der Morgenstern verblasst im Dämmerlicht. Sanft weht der Wind durch die Farne und Gräser. Ein ferner Ruf nach Einsamkeit. Einer ist gekommen, um zu beten. Um den neuen Tag mit alten Worten zu begrüßen. „Abba. Vater.

Jesus ist es, der betet. Er sitzt am Ufer des Sees. Noch ehe der Tag beginnt. Müde wirkt er, ein wenig ratlos. Es ist still um ihn herum. Nur der Wind weht weiter sein Lied. Jesus’ Blick richtet sich in die Ferne. Zur Synagoge in Kafarnaum. Dort hat er gestern noch gepredigt. Zu Hunderten oder Tausenden. So viele waren es gestern. Sie wollten ihn alle sehen. Sie wollten geheilt werden von ihren Krankheiten, geheilt werden von ihren inneren Dämonen. So viele.

So viel Zerbrochenes. Und noch so viel mehr zu tun. An so viel mehr Orten noch zu predigen,an so viel mehr Orten noch zu heilen. „Abba. Vater. Nimm diesen Kelch von mir.“ (Mk 14,36)

Und doch: Er ist gekommen. Nicht um seinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat. (Joh 6,38) Und so bricht er auf mit dem ersten Schein des Tages. Wandert in das Karmesinrot des Dämmerlichts. Um zu predigen. Um Zerbrochenes zu heilen in den nächsten Orten.

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Noch immer bricht sich der erste Schein des Tages an den Wellen des Sees. Noch immer weht der Wind sanft über die Farne und Gräser. Doch von der einst so prachtvollen Synagoge, bleiben nur noch verschüttete Trümmer. Eine Ruine am Ufer des Sees.  Genezareth. Noch immer kommen Menschen: Hunderte und Tausende. Sie wollen verstehen, was damals geschah. Sie wollen geheilt werden von ihren Krankheiten und Dämonen. Sie wollen Jesus näher kommen. Ganz nah.

Dann schwimmen sie morgens im See. Oder füllen sich das Wasser in Phiolen ab. Sie wünschen sich Balsam für ihre Seelen. Heilende Worte. Sanfte Berührungen. Und eigentlich, eigentlich nur Jesus selbst. Jesus, der sie sieht. Ihnen tief in die Augen schaut. Seine Hand auf ihre Herzen legt. Und sieht. Und versteht. Und sieht. Und versteht. Und heilt. Er nimmt ihre Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen.

Innere Dämonen. So nannte man Krankheiten der Seele einst. Innere Dämonen ließen die Menschen verrückt werden. Heute heißen unsere inneren Dämonen: Depression, Manie, Borderline, Schizophrenie. Oder auch: Sucht, Bulimie, Paranoia, Hysterie. Es gibt viele Triebkräfte in unserem Inneren. Als ob eine böse Macht in uns wirkt. Wir stehen ohnmächtig – gelähmt – daneben. Wie fremdbestimmt wandeln wir durch das Leben. Vielleicht war es damals einfacher, als innere Dämonen noch aussahen wie Gargoyles. Geflügelte Unholde. Jesus kam und trieb sie fort. Er kam und sie mussten schweigen.

Und heute? So ein innerer Dämon kann einen Menschen Jahre und Jahrzehnte begleiten. Er wartet still auf seinen nächsten Auftritt. Dann bricht er hervor. Breitet seine Flügel aus und schlägt seine Zähne in das Fleisch. Er saugt sich richtig fest. Er lässt nicht mehr los.

Wie bei dem Autor Thomas Melle: „Die ganze Welt war weg. Es wurde alles weggezerrt. Ein Erdbeben hätte nicht zerstörerischer sein können. Nur war dieses Beben anders: Es ereignete sich ausschließlich in mir, und die Zerstörung, so allumfassend sie um sich griff, geschah im Stillen. Nichts blieb, wie es vorher gewesen war, und doch schien alles, rein äußerlich, gleich. [...] Monströs überzog sich mein Denken mit Geschichte und Gegengeschichte, kein Satz stimmte mehr, alles irrlichterte. Rauchende Ruinen um mich rum und doch nur in mir. Es war der reinste Horror.“ [Thomas Melle, Die Welt im Rücken, Berlin 32016, 67]

So ein innerer Dämon kann ganz plötzlich über dich herfallen. Dann zieht er dich in das Dunkel. Deine Seele kämpft noch mit jedem Atemzug dagegen an. Doch die Finsternis hält dich umklammert. Sie lässt dich nicht mehr los. Bis alles weh tut, bis selbst das Aufstehen weh tut. Und alles sinnlos wird. Das Leben wird sinnlos. Das Sterben wird sinnlos. Jeder Atemzug ist ein Gebet. Du hoffst auf Jesus. Es heißt, er kann das Zerbrochene wieder zusammenfügen. Bis dann auf einmal auch jeder Atemzug sinnlos wird. Und selbst Jesus: Sinnlos. Das Kreuz verbannst du aus deinem Zimmer. Auch die Engel, die alle dir auf einmal schenken. Alles dunkel und kalt. Alles sinnlos.

Innere Dämonen. Sie müssen nicht immer so große Namen tragen wie Depression oder Manie, mit ihrer grausamen Erscheinen, ihrer großen Zerstörungskraft. Es gibt auch die kleinen, die Alltagsdämonen. Sie ärgern dich jeden Tag. Sie setzen dir komische Gedanken in den Kopf. Dann stiehlst du deiner Mutter Geld, oder schaust deinem Arbeitskollegen hinterher. Dann trinkst du ein Bier zu viel, bleibst zulange weg, oder zündest einen Feuerwerkskörper im Stadion an. Es fühlt sich befreiend an zu sagen: Mein innerer Dämon hat mich dazu verleitet. Anstatt sich selbst einzugestehen: Das bin alles ich.

Auch ich kenne diese Momente. Momente, in denen ich alles einem Dämon zuschreiben möchte. Einer bösen Macht, die in mir wirkt. Es ist so viel schmerzhafter, sich selbst wahrhaftig zu sehen. Sich selbst mit allen Schattenseiten zu betrachten. Aber das alles bin ich, ganz ohne dämonisches Wirken. Das alles bin ich, mit meinen Makeln im Leben. In meiner ganzen Zerbrechlichkeit. Mit meinen Scherben und Brüchen.

Ich glaube an Jesus, der all’ das sieht. Der all meine Scherben sieht. Er sieht das noch ehe der Tag beginnt. Manchmal ist er vielleicht auch etwas müde, ratlos. Aber er sieht und versteht. Er sieht und versteht, weil er selbst als Mensch auf die Welt kam. In all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Mit dem Kreuz von Golgatha. Er nimmt meine Scherben in die Hände. Er fügt das Zerbrochene wieder zusammen. Er nimmt Goldlack und überzieht damit Scherbe und Scherbe. Setzt alles Stück für Stück zusammen. Bis es wieder ein Ganzes bildet. Nur schöner als zuvor. Durchwirkt mit goldenen Fäden. Bezaubernd in der Zerbrechlichkeit.

Ich glaube, Jesus ist immer noch mitten unter uns. Er zieht von Ort zu Ort. Von einem Ort zum nächsten. Sein Wort wirkt in den Kirchen. Sein Geist weht in den Gemeinden. Und so fügt sich das Zerbrochene wieder zusammen, es heilt zusammen, mit Goldlack überzogen. Das ist es, was Jesus für uns tun kann. Und vielleicht kommt er morgen schon zu uns, wenn der erste Schein des Tages karmesinrot leuchtet und sich sanft an den Wellen des Sees bricht. Wenn der Morgenstern im Dämmerlicht verblasst und der Wind sanft durch die Farne und Gräser weht. Bis wir zu einer Gemeinschaft werden, in all’ ihrer Zerbrechlichkeit. Und doch leuchtend im Goldglanz der Gnade Gottes.

Denn „Gott ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind, und hilft denen, die ein zerschlagenes Gemüt haben.“ (Ps 34,19) Amen.

Perikope
22.10.2017
1,32-39