Von der Wahrheit und ihrer Leugnung - Predigt zu Johannes 5, 39-47 von Ralf Hoburg
5,39-47

Es gibt die alte Volksweisheit: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht.“  Ob diese Skepsis dem Menschen, der wissentlich oder unwissentlich nicht die Wahrheit sagt, immer gerecht wird oder ob es auch Situationen für sogenannte Notlügen gibt, bleibt der Phantasie des Lesenden und der Deutung der jeweiligen Situation überlassen. Aber existiert auch die Umdrehung dieser Volksweisheit, nämlich dass demjenigen, der die Wahrheit spricht, oft kein Vertrauen und Glauben entgegen gebracht wird? Die Weltgeschichte kennt Beispiele dafür, dass die Wahrheit – weil sie so unfassbar und unwahrscheinlich klingt – nicht geglaubt wird! Dieses Phänomen fällt wohl in den Bereich der „Prophezeiungen“, deren Beweis in der Zukunft liegt.  

Wer die Wahrheit dann ausspricht, der wird von den Anderen gescholten, verschmäht oder gar für verrückt erklärt. Denn oftmals verfährt die Mehrheitsmeinung nach der Devise und Lebensweisheit: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“. Die Propheten des Alten Testamentes sprachen die Wahrheit aus, dass JHWE das Gericht über das Volk Israel ergehen lässt. (Jes. 8) Der Reformator Martin Luther sprach die Wahrheit aus, dass der Ablasshandel nicht der Hlg. Schrift entspricht und wurde für „vogelfrei“ erklärt. Mancher Zeitgenosse ahnte in Deutschland schon 1933, dass der Zweite Weltkrieg kommt und heute inszeniert sich ein kleines Mädchen, das „freitags nie kann“ (Zitat – Die Fantastischen Vier) und spricht vor laufenden Fernsehkameras die Wahrheit aus, die sowieso schon jeder kennt und alle glauben es und machen fröhlich freitags schulfrei! Aber wer beim Dieselskandal die Wahrheit sagt, dass hier maßlos übertrieben wird, wird niedergebrüllt. Journalisten werden in Russland verhaftet, wenn sie die Wahrheit sagen, die keiner hören will – aber wer in der SPD die Wahrheit sagt, dem wird nicht geglaubt.  Vielleicht kommt es auch manchmal darauf an, „wer“ die Wahrheit ausspricht, die von der Allgemeinheit nicht gehört werden will.

Zur Wahrheit haben wir inmitten der Medienwelt einen ganz eigenen Bezug – eben mal so und mal so! Die Frage, was Wahrheit denn inmitten der Meinungsfreiheit und der digitalen Bilderwelten ist, kann nicht mehr eindeutig beantwortet werden. Repräsentieren die Medien noch die Wahrheit der Geschehnisse oder bilden sie nicht vielmehr ein gedeutetes Bild von der Wirklichkeit ab, das nicht selten die Waage zwischen Wahrheit und Lüge zu Gunsten der Lüge verschoben hat? Sprechen Politiker die Wahrheit und wird auf die, die die Wahrheit – die oft unbequem ist – aussprechen, gehört? Wohl kaum.

 

1-Die Wahrheit in Person

 

Von der Tragik von einem der die Wahrheit sagt, aber nicht gehört wird, spricht der Predigttext aus Joh. 5,39-47. Wer ist der, der die Wahrheit spricht? Das Johannesevangelium gibt schon am Anfang die Antwort auf diese Frage sehr elementar, aber verschlüsselt: Er ist das Wort selbst oder genauer – das Wort, das Fleisch geworden ist und unter uns wohnte. (Joh. 1,14) Mit dieser Formel beschreibt das Evangelium anders als die übrigen synoptischen Evangelien das, was die Theologie „Offenbarung“ nennt. Damit ist gemeint, dass Gott selbst in Person sich der Welt zeigt und auf die Welt in Form eines Menschen kommt. Dies bildet in der antiken Vorstellung von Religion eine doppelte Provokation: Für die Griechen bleibt der Gott Zeus dem Menschen unnahbar – für die Juden lebt in der Antike die Vorstellung eines nahenden Weltendes, an dem dann der Herr selbst erscheinen wird. Für beide Weltauffassungen bildet also die Idee, dass Gott selbst in Person eines Menschen auf die Welt kommt, eine Ungeheuerlichkeit. Den Römern wiederum war die Religion der Juden egal – Hauptsache sie machen keinen politischen Aufstand.   

So gerät die Wahrheit von der Offenbarung regelrecht zwischen die religiösen Fronten der damaligen Welt. Es ist also nur zu verständlich, dass der, der die Behauptung aufstellt, selbst die Offenbarung zu sein, angefeindet wird. Er wird zwar von allen gesehen und gehört, seine Taten sind unübersehbar, geglaubt wird ihm dennoch nicht. Aber: Behauptet er das eigentlich? Oder anders: Was wird in dem Text eigentlich genau gesagt? Schauen wir hin.

Der Predigttext aus Joh. 5,39-47 ist in einen größeren Textabschnitt eingebettet, nämlich in Joh. 5,19-47, in dem es vor allem um das Verhältnis von Gott Vater und Sohn mit dem Stichwort der Vollmacht geht bzw. dem Zeugnis für den Sohn. Aber es ist eine merkwürdige Konstruktion, denn nirgendwo spricht der Bibeltext die Wahrheit offen aus, dass Jesus von Nazareth die Offenbarung ist. Vielmehr wird in Wendungen gesprochen, die nebulös bleiben, die etwas ahnen lassen, aber es nicht wirklich sagen. Und dennoch sind sie keineswegs nichtssagend! Parteipolitiker von heute können hier wahrlich Rhethorik und unklar bleibende Argumentation lernen. Einen Schlüssel zum Verständnis liefern die Verse in Joh. 5,31-32, die in etwa wie folgt zu verstehen sind: Wenn der irdische Jesus von Nazareth von sich selbst sagen würde, er sei das Wort Gottes, die Offenbarung oder der Sohn Gottes, so wäre sein Zeugnis „nicht wahr“. (Joh. 5,31) Daraus folgt: Wenn ein anderer dies tut, so lässt sich feststellen: „ich weiß, dass das Zeugnis wahr ist, das er von mir gibt.“ (Joh. 5, 32) So hat etwa Johannes der Täufer die Wahrheit bezeugt, indem er von sich selbst auf den Anderen verwies.

Von hier aus gesehen erschließt sich dann die Wahrheit Stück für Stück. Den Beginn findet man in Joh 5,19, in dem es heißt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht.“ Da ist die Ver-drehung oder besser Um-Drehung wieder: Alle Aktion geht vom Anderen aus – hier Gott selbst. In moderner Sprache könnte man sagen, dass der Sohn Jesus von Nazareth ein Medium ist oder anders ausgedrückt ein Gefäß, durch das etwas bewirkt wird. Aber was? In verschiedenen Wendungen kommt zur Sprache, dass es um das Ziel der Seligkeit geht (Joh. 5,34) oder das ewige Leben (Joh. 5,39). Und dies geschieht aus Glauben und Bekenntnis.  Zu diesem Zweck sollen die Menschen „den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.“ (Joh. 5,23) Damit ist eine harte Wahrheit ausgesprochen, die es auszuhalten gilt.   

 

II - Die Wahrheit in Wort und Schrift

 

In der eigentlichen Predigtperikope aus Joh. 5,39-47 wird dieser „Stachel im Fleisch“ von dem Sohn seinem eigenen Volk vor Augen geführt. Jesus von Nazareth – so wie ihn das Johannesevangelium hier darstellt – geht in die Auseinandersetzung und Konfrontation. Über den historischen und authentischen Charakter dieser Verse lässt sich verständlicher Weise nichts aussagen – die You-Tuber und Blogger von heute waren mit ihren Smartphones leider nicht „live“ dabei und es findet sich auch nichts im Internet. So lassen sich die Verse, die eine schmerzvolle Auseinandersetzung wiederspiegeln, nur aus dem Kontext der Theologie des Johannesevangeliums verstehen.  

Was aber hält Jesus – der Sohn – seinem eigenen Volk konkret vor? Die Theologie des Johannesevangeliums, in die die Worte eingebettet sind, weist hier eine gewisse Nähe zur Theologie des Apostel Paulus auf. (Röm 7) Beide kritisieren die ausschließliche Bezogenheit des Judentums auf das Gesetz der Tora und ihrem religiösen Gebrauch. Für Paulus und Johannes sucht das Judentum allein aus dem Halten der Gesetze und der Tora-Observanz das „ewige Leben“. Der Konflikt wird in V. 39 offenbar: „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist’s, die von mir zeugt.“ Das Johannesevangelium entstand in einer Zeit ab ca. 70 n. Chr. in einem eher hellenistischen, d.h. griechisch geprägten Kontext. Ganz offensichtlich ist das Evangelium von einer sehr ambivalenten Position gegenüber dem Judentum durchzogen. Wahrscheinlich wird es durchaus konfliktreiche Kontakte zu jüdischen Gemeinden gegeben haben, deren Reflex zum Teil im Text mitschwingt.

Liest man die Verse vor dem Hintergrund der auch aktuell in Israel sehr kontrovers geführten Diskussion um die sog. Ultra-Orthodoxen, dann haben diese Verse von vor 2000 Jahren nichts an ihrer Brisanz verloren. Vielmehr zeigen sie einen tiefen Riss im Judentum, der gegenwärtig wieder sehr lebendig ist. Dieser Riss macht die Schwierigkeit deutlich, wie in der modernen Gesellschaft die Religion gelebt werden soll und kann. Während die Ultra-Orthodoxen in Israel ihr gesamtes Leben dem Schriftstudium widmen, ihr Seelenheil im ausschließlichen Gebet finden und in ihrem Leben „jenseits“ der Gesellschaft soziale Unterstützung vom Staat Israel erhalten und so die Gesellschaft spalten, lehnen andere Teile der Gesellschaft dies als religiösen Fundamentalismus ab. Dieser religiöse Konflikt prägt die aktuelle Politik Israels und belastet auch den Dialog mit Palästina.

Diese Ausschließlichkeit der Heilssuche prangert im Bibeltext der Sohn an und verweist auf einen alternativen Umgang mit der Heiligen Schrift, denn dort wird ja gerade das lebendige Wort bezeugt, das der Sohn selber ist. Die Perspektive des Sohnes vermischt sich hier mit der Perspektive des Evangelisten Johannes. Und aus der Sicht des Evangelisten Johannes verweigern sich die Juden diesem lebendigen Wort. In V. 43 kommt dies unmissverständlich zur Sprache: „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an.“

An dieser Stelle darf natürlich heute ein Wort zum Antijudaismus nicht fehlen. Ganz im Sinne des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 und den vielen Denkschriften seitdem zum Verhältnis von Christen und Juden muss klar gesagt werden: Es gibt eine Schuldgeschichte, in die auch Martin Luther mit seinen Schriften wider die Juden eingebettet ist. Es verbietet sich von der „Verstocktheit“ der Juden zu reden. Vielmehr bleiben Judentum und Christentum – und dann auch der Islam – unverbrüchlich miteinander verbunden. Sie sind aber auch unterschieden. Und dies betrifft vor allem die Deutung des Verhältnisses von Gott Vater und Sohn. Jeder Religion ist es aufgrund ihrer eigenen Tradition selber überlassen, die eigene Wahrheit zur Sprache zu bringen. Es ist die Freiheit der Religion sich jeweils zu den anderen Religionen zu verhalten und – wie dies der Text bezeugt – dann auch Elemente daraus abzulehnen. Es zählt zu den kleinen versteckten Wahrheiten dieses Textes, die in diesem Zusammenhang benannt werden können. In Vers 45-46 erwähnt der Predigttext Moses. Auf ihn beziehen sich alle drei semitischen Religionen und an ihm zeigen das Johannesevangelium wie wiederum der Apostel Paulus auf, was Glaube ist. Martin Luther hat sich in seinen Bibelauslegungen ebenfalls auf Moses bezogen und hat den Glauben als „fides“ – als Vertrauen – beschrieben. Moses vertraute der Verheißung und sie wurde erfüllt. Nicht die Übergabe der Gesetzestafeln wie im 2. Buch Genesis beschrieben allein begründet für Luther den Glauben, sondern das Vertrauen auf die Verheißung, die aus christlicher Sicht in der Offenbarung Mensch geworden ist. Nichts anderes betont auch der Text aus dem Johannesevangelium, aber es ist das Recht und die Freiheit des Judentums dies anders zu sehen.   

 

III - „bezeugen“ in der Welt der vielen Wahrheiten

 

Viel wird in diesen Tagen und Wochen von der religiösen Indifferenz unserer Gesellschaft gesprochen und davon, dass die Kirchen in Deutschland weiter schrumpfen werden. Mittlerweile ist es wohl schon die Mehrheit in der Gesellschaft, die die Wahrheit, von der in diesem Text die Rede ist, nicht hören will. Ja, sogar noch drastischer: diese Wahrheit interessiert nur noch einen kleineren Teil der Menschen – die Mehrheit weiß eigentlich gar nicht mehr wovon die Rede ist. Hart klingt da der Satz des Bibeltextes: „Ihr nehmt mich nicht an“. (Joh. 5,43)

Was soll man da machen? Kinder haben bei solchen Gelegenheiten noch unverbaute Möglichkeiten ihres Kindseins, wenn sie nicht gehört werden: Schreien, toben, rumbrüllen. Erwachsene wechseln dann lieber die Methode durch gutes Zureden oder versuchen Überzeugungsarbeit zu leisten in der Hoffnung, dass die eigene Wahrheit von den Anderen dann doch noch gehört wird. Die Skeptiker würden einfach ihre Sachen einpacken und still den Saal durch die Hintertür verlassen und die ewig Naiven bauen Leuchttürmchen im Sand und wollen trotzig Wachsen gegen den Trend.    

Was rät der Bibeltext? Er argumentiert mit einer Logik durch die Hintertür. Die Position des „Nicht-glaubens“ wird ernst genommen. Es geht nicht darum diese Haltung zu verurteilen. Der Bibeltext spricht davon, dass der Sohn das Volk Israel nicht vor dem Vater verklagen wird (Joh. 5,45).  Gleichzeitig verweist das Evangelium hier erneut auf Moses. Die Argumentation – diesmal wieder in der Deutung des Evangelisten Johannes – wird geschickt aufgebaut, denn wieder wird der Glaube des Moses als Vorbild genommen. Die Schriften bezeugen in gleicher Weise Moses und den Sohn. Wer also dem nicht glaubt, was in den Schriften steht, der kann auch nicht den Worten des Sohnes glauben. (Joh. 5,47) 

Eine positive Wendung strebt dieser Bibeltext in Joh. 5,39-47 in sich selbst nicht an. Dafür muss der Interpret wieder zurückgreifen auf den Kontext des Textes. Die Kernbotschaft des Johannesevangeliums bildet der Zusammenhang von „Glauben und Verstehen“ (Rudolf Bultmann). Wer das Wort hört und der Botschaft vor der Offenbarung glaubt, der hat verstanden, welche Bedeutung in ihm steckt. (Joh. 3,16) Allerdings: In der heutigen pluralen Welt gibt es viele heilsversprechende Worte, die miteinander konkurrieren. Wer seine eigene Wahrheit bezeugt, der hat das Recht dazu. Aber er muss es in Anerkennung von Toleranz und Gleichheit unter Absehung eines Absolutheitsanspruches tun. Mit Recht gilt: Die Religion ist Privatsache und eines ist gewiss: an irgendeine Wahrheit glaubt jeder!

Perikope
23.06.2019
5,39-47