Von Gott auf die Schultern genommen - Predigt zu Micha 5,1-4 von Friederike Erichsen-Wendt
5,1-4

Von Gott auf die Schultern genommen - Predigt zu Micha 5,1-4 von Friederike Erichsen-Wendt

Winterurlaub
Michel schaut aufs Meer.1
Er ist klein genug, um auf Mutters Schultern zu dürfen. Und groß genug, um der kalten Brise seine eigenen Gedanken entgegenzuhalten. Mutters warme Hände halten seine Fußgelenke fest, mit dem rechten Unterarm stützt er sich auf ihrem Kopf ab.

Kind, von der Mutter getragen.
Zwei Menschen, die in die Ferne schauen.
Den Blick in die Zukunft richten.

Weit über das Wasser, hin zum Horizont, den man so ‚Zukunft‘ nennt.

Und wo die Dinge klein sind.
Die Schiffe, die die Kontinente verbinden.
Die Inseln, die die Wellen brechen und ihnen die Kraft nehmen, bevor sie das Land zerstören mit ihrer Macht.
Überhaupt, die Macht des Meeres, aus dem das Leben kommt und das so viele Tote birgt.
Und dann ist da das Land auf der anderen Seite des Meeres. Nur zu erahnen.
Wenn überhaupt zu sehen, dann nur, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt. Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.

Bethlehem – Stadt ohne Brot
Kind, von der Mutter getragen.
Nicht an der Grenze von Land und Wasser. Mitten im Land. Das „Heilige Land“, sagen sie.
Einem Land ohne Frieden.
Einem Land mit machthungrigem König, der Kinder ermorden lässt.
Kind und Mutter. Jesus und Maria. Zwei Menschen, die nur auf den nächsten Schritt schauen. Auf die Felder. Auf Stoppeln und zertretene Halme.
Auf die Häuser, in denen immer die Anderen ein Zuhause haben: Hell und warm und geborgen. Das Leben der Anderen ist das gute Leben.
Sie schauen auf beschlagene Fenster und verschlossene Türen. Auf einen blutverschmierten Säugling im Stroh. Weit über die Ebene in der schlaflosen Nacht, hin zum Horizont, den wir Zukunft nennen. Und wo die Dinge klein sind.
Menschen backen Brot. Sitzen um einen Tisch. Das Kind wächst heran, lernt zählen, schreiben und Holz zu bearbeiten. Nur zu erahnen. Wenn überhaupt zu sehen, dann nur, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt.
Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.
Die Sterne am Himmel, die nur für Dich Bedeutung haben, und die Stimmen von Engeln, die flüstern: Fürchte Dich nicht.

Die eigene Geschichte liegt in den Wehen
In solchen Momenten fängt die Geschichte an.
In solchen Momenten verstehst Du Dein Leben.
Eine Frau liegt in den Wehen und sehnt sich danach, endlich ihr Kind in den Armen zu halten.
Du weißt nicht wann – aber es geschieht.
So ist das mit dem Frieden. So ist das mit dem Reich Gottes. So ist das mit dem Retter, nach dem sich so viele sehnen.

Und die Geschichte beginnt nicht dort, wo tagsüber alle alles richtig machen wollen.
Die Geschichte beginnt in den Schmerzen des Nachts. Bei denen, die nach Hause wollen. Die in der Zugluft sitzen. Die unter Herrschern leiden, die ihrem Volk fremd geworden sind.

Ihnen legt Gott einen Säugling in die Mitte. So schutzlos, so ohnmächtig. Irgendwie wird dieses Kind auch schon irgendwie groß werden. Und lernt die Worte, die Anderen wichtig sind. Und das Werk der Hände, das Anderen Lebensunterhalt und Lebenskunst ist.

Worte wie diese:
Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Söhnen Israel. Er aber wird auftreten und weiden in der Kraft des HERRN und in der Macht des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist. Und er wird der Friede sein. (Micha 5,1-4)

Prophetisch: Von Gott auf die Schulter genommen
Micha schaut in die Ferne.
Er ist Mensch genug, um auf Gottes Schultern zu dürfen.
Die Fußgelenke von warmen Händen festgehalten, mit dem rechten Unterarm stützt er sich ab. Er ist einer, den Gott in seine Richtung schauen lässt.

Propheten nennt man die Leute.
Und manchmal ist es ja so, dass wir Kleinen, Unbedeutenden, von Gott selbst festgehalten werden, er unseren Blick lenkt, auf das, was seine Geschichte mit den Menschen wichtig macht.
Eine Frau vor verschlossenen Türen in Wehen.
Hirten auf dem Feld.
Ein Herrscher, der sagt: Ich bin der gute Hirte.
Und ein sicheres Dach über dem Kopf für alle.
Darauf schaut! Was zum Himmel schreit. Und was den Frieden ansagt.
Zukünftig wird abgerüstet. Das Kleine ist bedeutend, nicht das Mehr-und-Mehr.
Nicht, weil es per se gut wäre, sondern weil es beschützt und hilft, tröstet und heilt.
Und da ist Gott. „Meine Schafe hören meine Stimme“, sagt dieser herrschende Hirte, Gott selbst, auf den Feldern unseres Lebens.

Winterurlaub II
Michels Mama hält inne. Spürt die Last auf den Schultern und die Stiche im Herzen. Und doch hört sie, was die kleinen Dinge ihr anempfehlen. Sie hört, weil ihre Sehnsucht sucht. Wo Menschen suchen, beginnt Gott sich zu zeigen, sich Gehör zu verschaffen.
Du musst dafür nicht loslaufen, nichts tun wollen, um Gott zu finden. Aber sei gewiss: Wo Du umgetrieben bist von Enttäuschung und Schmerz, von unverständlich großer Freude und Mut – da ist Gott da. Völlig ausgeliefert, gleich einem Mann, der ans Kreuz geschlagen ist. Vielleicht blutverschmiert, wie ein Säugling, der das erste Mal ins Licht schaut. Da steht Gott an der Hobelbank neben Dir, um den Dingen den rechten Schliff zu geben. So, wie es sich für einen Zimmermann gebührt. Er geht hier und da umher und erzählt vom Reich der Himmelsherrschaft. Er tut unerwartet Unglaubliches und redet in Bildern.

Jetzt.
Und er wird es wieder tun.
Und er wird der Friede sein.

Zugluftexistenz
Schau über die Weite Deines Lebens. So viele Geschichten, auf deren Schultern du ruhst.
Geschichten aus Bethlehem. Geschichten voller Zugluft. Geschichten unterm Weihnachtsbaum.
Du bist gehalten von warmen Händen an den Fußgelenken. Getragen, um gemeinsam zu schauen. Den Blick in die Zukunft richten.

Weit hinaus, hin zum Horizont, den wir Zukunft nennen. Und wo die Dinge klein sind. Nur zu erahnen. Wenn überhaupt, nur zu sehen, wenn Du die Augen ganz weit aufmachst, genau hinschaust, eine Weile bei dem bleibst, was es zu erkennen gilt.
Was Du siehst, nur weil Du weißt, dass es da ist.
Sehnsuchtsvoll suchend.
Gott sieht. Gott hört.

Jetzt.
Und er wird es wieder tun.
Und er wird der Friede sein.
Amen.

1 Der Predigteinstieg ist motiviert durch eine Zeichnung von Quint Buchholz: „Am Leuchtturm“ (2010), abgedruckt beispielsweise in: Die Bibel in Bildern von Quint Buchholz, Gütersloh 2010, 204 (zu Lk, 2, 1-20).