Liebe Gemeinde!
1. Hagar
Sie hat früh gelernt: Du musst tun, was Dir befohlen wird! Aber diese eine Aufgabe ist anders: Sie wird Mutter des Erben! Ihr Leben bekommt einen neuen Glanz. Kaum beginnt sie zu strahlen, verdunkelt die Herrin ihr Leben. Es bleibt nur die Flucht. „Lieber sterbe ich als noch länger gedemütigt zu werden.“ Gott sieht ihr Elend und hört ihre Klage. Gott schickt einen Engel, der sie stärkt. Wie wohltuend!
Gott schickt sie zurück in die Sklaverei. „Geh zurück und lass dich demütigen!“ Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart!
2. Predigttext
Ich lese den Predigttext aus dem 1. Buch Mose:
Doch Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Sie hatte aber eine ägyptische Sklavin, deren Name war Hagar. Da sagte Sarai zu Abram: »Sieh doch, Adonaj verhindert, dass ich Kinder bekomme. Geh doch zu meiner Sklavin, vielleicht wird durch sie mein Haus gebaut.« Und Abram hörte auf die Stimme Sarais. Als Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, nahm deshalb Abrams Frau Sarai ihre ägyptische Sklavin Hagar und gab sie ihrem Mann Abram zur Frau. Da ging er zu Hagar und sie wurde schwanger. Doch als sie merkte, dass sie schwanger war, verlor ihre Herrin an Gewicht in ihren Augen. Da sagte Sarai zu Abram: »Die Gewalt, die mir geschieht, treffe dich! Ich selbst habe dir meine Sklavin ins Bett gelegt. Doch kaum merkt sie, dass sie schwanger ist, verliere ich an Gewicht in ihren Augen. Adonaj soll richten zwischen mir und dir.« Abram sagte zu Sarai: »Deine Sklavin ist doch in deiner Hand. Mach mit ihr, was dir gefällt.« Da demütigte Sarai sie so, dass sie die Flucht ergriff, weg von ihr.
Adonajs Bote fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur, und sprach sie an: »Hagar! Du Sklavin Sarais, woher kommst du und wohin willst du?« Sie sagte: »Weg von Sarai, meiner Herrin! Ich bin auf der Flucht.« Da sprach Adonajs Bote zu ihr: »Kehr zurück zu deiner Herrin und lass dich von ihrer Hand demütigen.« – Da sprach Adonajs Bote erneut zu ihr: »Ungeheuer vermehren will ich deine Nachkommen, so dass man sie vor Menge nicht zählen kann.« – Da sprach Adonajs Bote wieder zu ihr: »Sieh dich an, du bist schwanger und wirst einen Sohn gebären, den sollst du Ismaël nennen, ›Gott hört‹, denn Adonaj hat deine Demütigung gehört. Der wird ein Wildesel-Mensch sein, er gegen alle, und alle gegen ihn. Allen Kindern Sarais und Abrams zum Trotz wird er sich niederlassen.«
Da schließlich gab sie Adonaj, der Gottheit, die mit ihr redete, einen Namen: »Du bist El Roï, Gottheit des Hinschauens.« Denn sie sagte: »Sogar bis hierher? Ich habe geschaut hinter der her, die mich anschaut.« Daher heißt der Brunnen: ›Brunnen der lebendigen Schau‹. Siehe, er liegt zwischen Kadesch und Bered. Und Hagar gebar dem Abram einen Sohn, und Abram nannte seinen Sohn, den Hagar geboren hatte, Ismaël, ›Gott hört‹. Abram war 86 Jahre alt, als Hagar für Abram den Ismaël gebar.
Gen 16, 1-16 (Bibel in gerechter Sprache)
3. Kein Happy End für Sarah?
Kein Happy End für Hagar. Kaum beginnt sie zu strahlen, wird Sarahs Zorn immer dunkler. Hagar leidet. Da bleibt scheinbar nichts Tröstendes. Sogar Gott schickt sie wieder zurück in die Unterdrückung. Hagar merkt deutlich, dass sie keine andere Wahl hat. Aber es hat sich etwas verändert. Sie weiß jetzt, dass sie nicht allein ist. Sie hat erfahren, dass Gott weiß, wie es ihr geht. Sie spürt Gott an ihrer Seite. Die Aussicht „Dein Sohn wird Vater eines ganzen Volkes werden!“ scheint mir wie Hohn. Söhne, Väter und Volk! – und sie, die unterdrückte Frau? Wird sich denn für sie nichts ändern? Kann Gott nicht jetzt handeln?
So viele Frauen sind in schwierigen Situationen: Sklavinnen, Leihmütter, Unterdrückte, Verfolgte, Gequälte und Misshandelte. Für sie ändert sich ebenfalls nichts. Sie leben in schwierigen und menschenverachtenden Verhältnissen. Manch eine wünscht sich, dass Gott eingreift und die Machtverhältnisse ändert. Stattdessen wird Hagar von Gott einfach zurück geschickt. Man könnte es so lesen, als würde Gott damit die schwierigen Verhältnisse, die Gewalt und die Unterdrückung legitimieren.
Aber es ist anders: Für Hagar hat sich etwas geändert. Die äußeren Umstände sind immer noch so, wie sie vorher waren. Hagar geht zurück und lebt ihr Leben, zu dem sie anscheinend bestimmt ist. Sie ist Sklavin, auch wenn sie den Erben in sich trägt. Das Wissen, von Gott gesehen und gehört zu werden, gibt ihr Kraft. Sie ist gestärkt und weiß, dass sie nicht allein ist. So kann sie ihr Leben annehmen. So kann sie den Erben zur Welt bringen und die Demütigungen ertragen.
Ganz kurze Zwischenmusik, evtl nur ein dissonanter Zwischenklang
4. Shireen Abu Akleh
Sie ist Journalistin. Sie erzählt über den Alltag in Palästina. Sie weiß, es ist gefährlich. Für die Besatzungsmacht Israel gilt sie als feindliche Aktivistin. Dabei macht sie ihre Arbeit. Als Journalistin macht sie das sichtbar, von dem offiziell nicht geredet wird. Sie berichtet von Übergriffen und Unrecht. Sie erzählt auch kleine Hoffnungsgeschichten. Sie zeigt, dass palästinensisches Leben zwar massiv eingeschränkt und bedroht ist, aber dass viele Menschen in Palästina leben und träumen. Viele hören ihre Stimme und sehen ihre Berichte. Sie fühlen sich von ihr gesehen. Damit ermutigt sie die Unterdrückten, weiter auszuhalten und weiter zu hoffen. Sie gibt ihnen Lebensmut. Shireen Abu Akleh ist gläubige Christin und weiß: Gott sieht das Elend. Gott hört die Klage. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur vor Gott zu klagen, sondern auch öffentlich zu machen, was Gott sieht und hört: Elend und Not, Klage und Fragen.
Sie wird ermordet. Bei ihrer Beerdigung werden Trauernde bedroht und angerempelt. Über den Tod hinaus gibt sie Hoffnung weiter: „Schweigt nicht! Berichtet weiter!“ In ihrem Leben und ihren Berichten hat sie Menschen miteinander verbunden. Sie hat öffentlich gemacht, was verborgen war. Dadurch ist etwas gewachsen, was die Besatzungsmacht und auch ihr Mörder nicht verhindern kann.
Kein Happy End für Shireen Abu Akleh. Aber die Hoffnung lebt weiter.
5. Dietrich Bonhoeffer
Er sitzt im Gefängnis. Sein Widerstand gegen die Nazis ist lebens-gefährlich. Er kann nicht anders. Er hält an Gottes Liebe fest. Das Leben ist wichtig. Bonhoeffer hat klare Vorstellungen davon, wie eine Kirche sein soll und welche Aufgaben er als Theologe und Christ hat: Er kritisiert sowohl die Politik als auch konkret die Verfolgung von jüdischem Leben. Er bezieht Stellung und positioniert sich. Damit lebt er gefährlich. Aber er kann nicht schweigen. Er redet und schreibt. Er lehrt und tröstet. Auch aus dem Gefängnis heraus wird er nicht ruhig.
Dietrich Bonhoeffer weiß: Gott sieht das Elend. Gott hört die Klage. Er selbst macht öffentlich, was Gott sieht und hört. Er schreibt von Gottes Liebe und Trost. Sie halten ihn auch in schwerer Zeit. Das versucht er weiterzugeben.
Er wird ermordet. Seine Worte leben weiter. Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart!
Kein Happy End für Dietrich Bonhoeffer. Aber seine Trostworte und seine Hoffnungsbilder berühren uns bis heute.
6. Von guten Mächten wunderbar geborgen
Ich sehe viele Menschen, die tagtäglich Schweres aushalten. Nicht nur in den Unrechtsregimen der Welt. Sie glauben an eine bessere Zukunft. Und sie lieben und wissen sich geliebt. Sie spüren: Ich bin gehalten von Gott. Ich bin von guten Mächten wunderbar geborgen. Der Alltag bleibt hart. Anders als im Märchen oder im Wunschtraum kommt keine Fee und kein Gott, der die Verhältnisse ändert. So viele Menschen treten für Gerechtigkeit und Frieden ein – und riskieren damit ihr Leben. Sie bleiben hartnäckig. Die Frauen im Iran, die für ihre Freiheit kämpfen. Sie selbst landen im Gefängnis, aber hoffen für ihre Töchter. Die Mütter in Russland, die für den Frieden beten und protestieren. Sie sorgen sich um ihre Männer und Söhne an der Front, im Krieg.
Von guten Mächten wunderbar geborgen ist das Leben trotzdem manchmal verdammt hart! Aber wir sind von guten Mächten wunderbar geborgen. Das ist manchmal nur sehr schwer zu fühlen und zu glauben. Menschen wie Hagar, Shireen Abu Akleh und Dietrich Bonhoeffer können uns Hoffnung und Trost geben: Sie haben erlebt, dass Gott sie stärkt. Sie haben erlebt, dass auch Sklaverei, Besatzung und Diktatur und Terror Gott nicht vertreiben. Gott bleibt da, an unserer Seite. Das hilft, weiter zu leben und zu hoffen, zu glauben und zu lieben.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Als Vertretungspfarrerin kenne ich die Gemeinde nicht, vor der ich predige. Ich werde diese Predigt einmal in Hamm halten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Ich habe in den Tagen der Vorbereitung eine Fortbildung zum Predigen besucht. Meine Grundidee ist in der Fortbildung entstanden, als wir mit „Ideen“ und „tiny tales“ gearbeitet haben. Ich bin gespannt, ob diese Form der kurzen Erzählungen trägt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
In diesem speziellen Predigttext hat mich die Ambivalenz herausgefordert zwischen Gottvertrauen und der Tatsache, dass Gott die schreckliche Situation nicht ändert, sondern Hagar zurück schickt in die Sklaverei. Ist sie dazu „verdammt“, in dieser Situation zu bleiben? Über dieses „verdammt sein“ habe ich nicht gepredigt. Aber es begleitet mich weiter.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Aus den tiny tales sind ausführlichere Erzählungen geworden. Aus dem verdammt-sein ist die Osterbotschaft kaum gehört worden. Nun ist sie hörbarer, hoffe ich.