"Von jenseits der Stille" - Predigt über Johannes 5, 19-21 von Martin Schmid
5,19
Von jenseits der Stille
Da antwortete Jesus und sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn. Denn der Vater hat den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er tut, und wird ihm noch größere Werke zeigen, so dass ihr euch verwundern werdet. Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, so macht auch der Sohn lebendig, welche er will.
Liebe Gemeinde,
eigentlich kennen wir uns doch aus mit Karfreitag und Ostern. Karfreitag ist dunkel – Ostern ist hell; Karfreitag ist traurig und schwer – Ostern ist froh und leicht. Eigentlich entspricht die Legende von den Glocken, die fortfliegen, doch dem, wie auch wir den Karfreitag einschätzen. Diese Legende sagt, zwischen Gründonnerstag und dem Ostermorgen läuten keine Glocken in den katholischen Kirchen, weil diese weggeflogen sind, nach Rom. Es gibt nichts zu läuten. Es gibt nur die Stille und die Traurigkeit. Und die liegt auch über allen, die mit dem Mann verbunden sind, der am Karfreitag am Kreuz gestorben ist. In die schwere, traurige Karfreitagsstille sind sie eingeschlossen wie die Jünger Jesu eingeschlossen waren in jenem Haus, in das sie sich nach dem Tod ihres Herrn verkrochen hatten. Dort hockten sie angstvoll und hoffnungsleer hinter verschlossenen Türen. Erst an Ostern gehen die Türen auf, kehren die Glocken zurück, schwingt die Freude sich wieder empor und bekommt die Hoffnung wieder Flügel. Eigentlich ist das alles klar; Karfreitag ist Karfreitag, und was Ostern ist, steht auf einem anderen Blatt.
Nur dass es die Bibel so nicht sieht. Sie sagt: der Vater im Himmel stimmt mit dem Sohn, der am Kreuz gestorben ist, überein. Der Vater, der auch am Karfreitag nicht etwa Tod und Teufel das Regiment überlassen hat, und der Sohn, der den Tod am Kreuz auf sich genommen hat, sie stimmen überein. Die Karfreitagsbotschaft und die Osterbotschaft, die Stimme von Karfreitag und die Stimme von Ostern, sagen nicht dasselbe, aber sie stimmen überein. Es ist eine Übereinstimmung für die es nur ein Wort gibt: Liebe; „denn der Vater hat den Sohn lieb“.
So tun wir gut daran, auch am frühen Ostermorgen die Stimme von Karfreitag noch einmal und noch immer bei uns ankommen zu lassen. Die Stimme von Karfreitag trägt uns den Schrei eines Sterbenden und den fast nicht vorstellbaren Schmerz eines Gefolterten zu und die Stille, die darauf folgt. Mit der Stimme von Karfreitag werden uns aber auch die Schreie der Ungezählten zugeweht, die außer dem Einen sonst gekreuzigt worden sind. Und die Schreie von Gefolterten und Verwundeten überall auf der Welt. Und das Weinen der Kinder neben niedergestürzten Häusern, das Klagen der Mütter, der Aufschrei der Getroffenen, das Seufzen der Sterbenden in den Gebieten von Krieg und Grauen; Syrien zum Beispiel ist ein solches Gebiet. Die Stimme von Karfreitag gleicht dem Sturm, der Elia entgegenbrüllte auf seinem Weg zum Berg Horeb, und gleicht dem Erdbeben und dem Feuer, die diesem Sturm folgten. Was danach aber kam, war eine Stille. Und wenn wir die Stimme von  Karfreitag bei uns ankommen lassen, dann kommt auch bei uns hinter Sturm und Erdbeben und Feuer eine Stille an. Auch sie lastet noch auf uns mit schweren Gewichten. Aber hinter der lastenden Stille folgt eine andere Stille. Bernhard von Clairvaux, einer der bedeutendsten Christen des Mittelalters, hat gesagt: „Das Kreuz Christi ist eine Last von der Art, wie es die Flügel für die Vögel sind. Sie tragen aufwärts.“ Er hätte das auch von der Karfreitagsstille sagen können. Auch sie ist schwer und belastend. Und sie erweist sich dann als eine Last von der Art, wie es die Flügel für die Vögel sind. Wenn man diese Stille in Worte fassen wollte – so wie man einen Edelstein einfasst oder wie manche Musik die Stille in Töne fasst - , dann gäbe es dafür eigentlich nur das eine Wort Liebe und den Grund für dieses eine Wort: Denn der Vater hat den Sohn lieb.
Am Ostermorgen wurde Jesus aufgeweckt. Und auch wir sollen am Ostermorgen aufgeweckt werden. Nicht von jeder Stimme möchte man sich wecken lassen. Es gibt, verfasst von Eric-Emmanuel Schmitt,  eine Erzählung mit dem Titel „Oskar und die Dame in Rosa“. Sie besteht aus Briefen des kranken zehnjährigen Oskar an den lieben Gott. Der letzte Brief allerdings ist nicht von dem Jungen geschrieben, sondern von seiner Betreuerin, die er Oma Rosa nennt. Sie teilt dem lieben Gott darin mit, dass Oskar gestorben ist. Dem Brief ist dann noch ein P.S. hinzugefügt: „Die letzten drei Tage hatte Oskar ein Schild auf seinen Nachttisch gestellt. Ich glaube, es ist für Dich. Es stand drauf: ´Nur der liebe Gott darf mich wecken´.“ - Und wer darf uns wecken in der Frühe des Ostertages? Wir schlafen ja nicht mehr, vielmehr, wir schlafen auf eine andere Weise und in einem anderen Sinne als zum Beispiel der kranke Oskar. Aber den Zustand unserer Kirche könnte man vielleicht schon als Schlaf bezeichnen. Die Kirche wirkt müde. Und unser eigener Glaube, unsere eigene Hoffnung, unsere eigene Bereitschaft, uns für einander einzusetzen, kennt diese Müdigkeit möglicherweise auch. Oft drücken wir die Augen zu angesichts der Kreuze überall an unseren Wegen und angesichts der ringsum sichtbaren Spuren von Grausamkeit und Gewalt. Oft ziehen wir uns einfach die Decke über die Ohren, wenn wir merken, dass uns aus Wasser, Luft und Erde Vorwürfe entgegenschallen könnten, weil diese belastet sind, dass Tiere und Mitmenschen uns verklagen könnten, weil wir sie benützen für unsere Zwecke, und dass Gott selbst sich von uns abwenden könnte, weil wir uns von ihm abgewandt haben.
Wer dürfte uns wecken? Lieber die Vögel, die jetzt wieder singen in der Frühe, als die Alarmsirenen. Lieber die Krokusse und Osterglocken, die jetzt im Garten wieder herausschauen, als die Schreckensmeldungen. Ein guter Freund dürfte uns wecken, eine liebe Freundin. Jeder, der es gut mit uns meint. Die Stimme des Vaters dürfte uns wecken. Es wäre gut, von der Stimme des Vaters geweckt zu werden. Erst recht, wenn sie nicht von hier kommt, aus der Welt, wie wir sie kennen. Diese Stimme könnte uns bewegen aufzustehen. Wir könnten ihr zustimmen. Tatsächlich, sagt das Evangelium, weckt der Vater den Sohn. Aber der Sohn weckt im Sinne des Vaters die auf, welche er will; sein Wohlwollen ist dabei am Werk. Es ist nicht von hier, es kommt von der Stille jenseits der Karfreitagsstille. Und deshalb ist es nicht ein Schrecken, der uns in die Glieder fährt, noch eine Drohung, die uns Beine macht, es ist väterliche Liebe, die uns sagt: steh auf! Denn in dem Sohn, der uns so aufwecken will, spricht der Vater. Und der Vater hat den Sohn lieb.
Aus der Stille heraus, in die Christus am Kreuz vorgedrungen ist, aus der Liebe heraus, die nun ihre leise Stimme erhebt, werden wir heute an Ostern angeweht. Und alle Glocken läuten. Sie wecken uns auf mit einem doppelten Schlag. Sie wecken uns mit ihrer Karfreitagsstimme und mit ihrer Osterstimme, immer beides zugleich. Denn sie läuten zugleich zum Abschied und zum Anfang. In einem Gesangbuchvers wird Gott gebeten „ertöt uns durch dein Güte“. Es ist dies die Bitte um ein heilsames Sterben, um einen Schlaf, der zum Heilschlaf wird. So wird man seufzen und beten, wenn man es nicht mehr ertragen kann, dass wir nicht aus unserer Haut können, dass wir festgelegt sind auf unser Programm, dass unsere eigene Lebensgeschichte mit dem, was wir getan, und dem, was wir unterlassen haben, zu einer Fessel wird. - Wenn die Glocken uns zum Abschied läuten mit ihrer Karfreitagsstimme, dann sagen sie uns: ja, etwas darf sterben bei dir, etwas darf einschlafen und abfallen und muss dich nicht mehr belasten. Wenn die Glocken aber zugleich für uns läuten zum Anfang und mit ihrer Osterstimme, dann sagen sie uns: und nun darfst du aufstehen und darfst die Augen aufschlagen und darfst dem standhalten, was du siehst. Steh auf, steh auf! Geh hinaus und stelle dich den Aufgaben, die du findest. Denn so wie der Vater den Sohn lieb hat und so wie der Sohn dich im Sinne des Vaters geweckt hat, nämlich liebevoll, so wirst du nun auch sehen und gehen und handeln können – liebevoll.
An Ostern läuten alle Glocken zusammen. Sie läuten in Rom, wo ein neuer Bischof und Papst sein Amt übernommen hat. Sie läuten in allen Städten und Dörfern auch unseres Landes, wo die evangelischen Christen das Osterfest ebenso feiern wie die katholischen, wo es aber auch viele andere gibt, die nicht feiern. Die Glocken läuten zusammen. Ihr vielfacher Schall verbindet sich. Und ihr Schall möchte verbinden. Es ist ein schwer erträglicher Zustand, wenn Christen getrennt sind. Sie haben ja eine gemeinsame Aufgabe. Sie sollen wachsam sein in der Welt und andere aufwecken. Wie können sie das, wenn sie nicht mit der Liebe den Anfang machen? Denn die Stimme, die wir heute vernehmen, die sollen alle hören, in ihr klingen Karfreitag und Ostern zusammen: Der Vater hat den Sohn lieb! Amen.
Liedvorschlag: EG 111,1-5 Frühmorgens, da die Sonn aufgeht
Perikope
30.03.2013
5,19