Von Traumtreppen und Himmelspforten - Predigt zu 1. Mose 28, 10-22 von Jochen Arnold
28,10
Von Traumtreppen und Himmelspforten
I Magische Momente an heiligen Orten?
Erst wenige Monate ist es her, liebe Gemeinde, da hatte ich mit meiner Frau das Glück, einen der größten Schauplätze  menschlicher Kultur zu besuchen. Früh morgens – gleich nach Sonnenaufgang -schreiten wir über eine 2500 m lange kerzengerade Allee. Sie ist gesäumt von 365 Sphingen zur Rechten und zur Linken. So erreichen wir den Eingang eines ehrwürdigen Tempels, der Amun, dem Hauptgott des alten Theben, geweiht ist. Ein dichter Wald von beinahe 50 m hohen Säulen tut sich vor uns auf. Ein faszinierendes Farbenspiel von gleißendem Licht und mystischem Dunkel. Dann treten wir hinaus an einen strahlend blauen heiligen See, auf dem der Gott einmal im Jahr in einer Barke eingezogen sein soll.
Staunend, beinahe sprachlos stehen wir vor diesem Wunderwerk der Religionsgeschichte. Weltkulturerbe… wie unsere Michaeliskirche. Auf dem Rückweg kommen wir an einem eher unscheinbaren  Gebäude im modernen Luxor vorbei. In englischer Sprache steht ein Bibelvers an der Wand: „How awesome is this place. This is none other than the house of God!“ – Wie ehrfurchterregend – könnte man übersetzen – ist dieser Ort…Hier ist nichts Anderes als das Haus Gottes. (Das muss wohl eine Kirche sein, denke ich…, ob man das dort noch erleben kann?)
Heilige Orte? Plätze an denen Gott uns näher ist, als anderswo? Gibt es das? Sind es Wallfahrtsorte wie Lourdes und Fatima? Pilgerorte wie Santiago oder Jerusalem? Eher die Klagemauer oder  eher der Ölberg?  Orte, die selbst einen erfolgreichen Entertainer sagen lassen: Ich bin dann mal weg. Was macht diese Orte aus? Ich lade sie ein zu einer kleinen Fantasiereise… Wo haben Sie zum letzten Mal einen heiligen Moment erlebt? Den Atem angehalten…. Herzklopfen bekommen, Gänsehaut gespürt und gemerkt: Ja, jetzt, jetzt spüre ich ihn, er ist ganz nah bei mir… War es: Ein Sonnenaufgang im Gebirge? Der wunderbare Sternenhimmel? Das Rauschen des Meeres? Die dunkle Dorfkirche mit ihrem schlichten Altar? Von einem solchen magischen Moment erzählt unser heutiger Predigttext… Ich lese uns 1. Mose 28 in kleinen Abschnitten.
II Nächtliche Flucht
Aber Jakob zog aus von Beerseba und machte sich auf den Weg nach Haran. Und er kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen.
Wenn es dunkel wird, liebe Gemeinde, dann werden die Schatten länger. Dann pocht das Herz schneller, dann wird einem bange vor der Finsternis, bange vor der Nacht. Besonders dann, wenn wir Dinge mit uns herumtragen, die nicht geklärt, die nicht ausgesprochen sind. Böse Worte, handfester Streit, Intrigen, vielleicht sogar ein Betrug. Wie bei Jakob. Suppe gegen Segen. Ihr wisst schon.
Zwei Wochen ist er jetzt weg von zuhause. Wie eine Ewigkeit kommt ihm das vor. Niemand wartet abends auf ihn, stellt ihm ein Essen hin. Nicht einmal Tiere gibt es an diesem Ort, geschweige denn Zelte. Nur Steine. In wenigen Augenblicken ist es stockfinster.  
Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
Der kleine Bruder des Todes ist der Schlaf. Jakob ist ihm ausgeliefert. Noch klingt in ihm die Stimme der Mutter: „Esau, dein Bruder  droht dir, dass er dich umbringen will. Deshalb mach dich auf und  flieh.“ Ja, die Geschichte treibt ihn um. Vater und Bruder zu betrügen, auf den Rat der Mutter hin, ob das richtig war?  Vielleicht hat sie ihm das Leben gerettet. Vielleicht hätte man mit dem Bruder aber auch alles klären können…. Ach, er weiß es nicht. Erschöpft fällt Jakob in einen tiefen Schlaf.
Und ihm träumte… Wovon träumt ein Flüchtling, liebe Gemeinde? Wovon träumen Flüchtlingskinder wohl heute in Syrien? Ich denke sie werden gehetzt und gejagt. Können auch noch in ihren Träumen kaum atmen in Wolken von Giftgas…Am Ende werden sie gestellt von den Häschern.  Zu viel Blut haben sie schon gesehen. Schrecklich.
Vielleicht geschieht aber auch etwas Anderes. Vielleicht träumen sie von einer anderen Welt. They have a dream: Wieder ein Dach über dem Kopf, Sicherheit vor bösen Menschen und ihren Attacken, oder einfach genug zum Essen und zum Anziehen. Davon könnte auch Jakob träumen
MUSIK (instr. zu EG 165)
III Himmelstreppe
Und ihm träumte… Und siehe eine Treppe stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel,
und siehe die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
Schier unglaublich, was wir mit dem Träumer zu sehen bekommen. Eine andere Welt entsteht vor unseren Augen, eine ganz andere Welt. Und doch ist sie nicht außerhalb der Welt. OB es eine Leiter ist oder eine Rampe oder eine Treppe, um die es hier geht? Wahrscheinlich das letztere. Wendeltreppen und Treppenhäuser, Rolltreppen und Steintreppen kommen mir in den Sinn… Stufen am Altar. Die Treppe in den hohen Chor vorbei an den Engelsschranken hier in St. Michael. Sie verbindet Hohes und Tiefes, Himmel und Erde. Was Menschen beim Turmbau zu Babel  versuchten, einen Turm zum Himmel zu errichten, und kläglich gescheitert sind, wird hier Wirklichkeit. Lautlos gleitet sie herab, berührt die Erde. Und  Jakob muss nicht – wie auf der heiligen Stiege in Rom – mühsam hinaufkriechen, um Gott näher zu kommen…. Der Himmel kommt zu ihm. In erhabener Schönheit  schreiten lebendige Wesen herab und wieder hinauf, nehmen seine Wünsche und Ängste mit und bringen göttliche Zeichen zurück.
Ein Bild dafür, dass es doch eine  Verbindung gibt zum Jenseits? Ja mehr noch: Nicht auch ein Symbol für den Gottesdienst? Hinabsteigen und Hinaufsteigen! Schauen und Heilwerden!? Doch es bleibt nicht beim Traumbild, das wortlos, mehrdeutig und flüchtig ist trotz seiner einzigartigen Schönheit.
èEG 165,1-2 gemeinsam
IV Segensversprechen
Und oben stand der Herr und sprach: „Ich bin der HERR dein Gott, deines Vaters Abraham und Isaaks Gott. Das Land darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden Und du sollst ausgebreitet werden gen Westen und Osten, Norden und Süden. Und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.“
Da ist es wieder das Wunderwort des Segens. Es hat seine Geschichte mit dem Bruder und den Eltern bestimmt. Und kommt hier an ein erstes Ziel. Jakob, der kleine Betrüger, als Gesegneter und Segensträger. Wie der große Abraham. Beglaubigt und besiegelt mit dem Gottesnamen, den der Vater und der Großvater schon angerufen hat. ANI JHWH. Ich bin der HERR. Aus dem Traumbild wird so eine Offenbarung. Gott öffnet sich und sein Herz. Gott öffnet den Himmel, um sich dem Flüchtling auf dem Weg zu zeigen. Er steht selbst an der Treppe mit ausgebreiteten Händen. Dir will ich es geben, dir will ich es schenken, das Land, die Nachkommen, alles, was du brauchst. Ja mehr noch: auf andere soll der Funke des Segens überspringen. Und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden Hier, liebe Gemeinde, beginnt Gott die Geschichte mit einem Volk, mit seinem Volk. Sie reicht bis zu uns, über den Juden Jesus von Nazareth, aber auch bis in die jüngste Geschichte Palästinas. Israel und die Kirche haben Anteil am Segen Gottes für alle Völker. Können wir ihn weitergeben, auch jetzt in der beinahe ausweglosen Situation in Syrien?
Ich bin mit dir, ich will dich behüten, wo du auch hinziehst. Und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles getan habe, was ich dir zugesagt habe.
Jetzt wird es nochmals ganz dicht… Morgens und abends, in Freud und Leid, ob du allein lebst oder zusammen bist mit einer großen Familie, ob du kämpfst oder Frieden hast, in Lust und Wehe bin ich bei dir, Jakob. Das, liebe Gemeinde, ist das Beste, was ihm – was uns – passieren kann. Gottes volles Programm für unser Leben… Welch ein Geschenk. Jetzt sind wir gespannt auf Jakobs Reaktion:
V Resonanzräume des Glaubens
Als nun Jakob von seinem Schlaf erwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte und ich habe es nicht gewusst. Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts Anderes als Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels.“
How awesome is this place…  Wenn ich diese Worte lese,  ist sie wieder da die Gänsehaut. Nicht im großen ägyptischen Theben, im unscheinbaren Bethel, 20 km nördlich vom heutigen Jerusalem. Keiner kannte es bis jetzt. Jakob hat es entdeckt. Er merkt: Gott spricht er zu mir. Jedes Wort behält er in seinem Herzen. Das Bild der Himmelstreppe wird ihn sein Leben lang nicht loslassen. Siehe, das ist Gottes Haus und die Pforte des Himmels. Hierher muss er zurückkommen. Wir hätten vielleicht Fotos gemacht… Bei Facebook stünde vielleicht ein kleiner Bericht mit dem Titel A hole in the heavens. Doch was tut Jakob?
Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl darauf und nannte die Stätte Beth-El (Haus Gottes). Und er tat ein Gelübde und sprach: Wird Gott mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brot zu essen und Kleider anzuziehen und mit in Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der HERR mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Steinmal, soll ein Gotteshaus werden; und von allem was du mir gibst, will ich dir den Zehnten geben.
Jakob richtet seinen Kopfkissenstein auf und gibt dem Stein einen Namen, salbt ihn mit Öl. Jeder, der vorbei kommt soll es sehen, riechen, spüren können: Hier ist etwas Besonderes passiert… Eine kleines Stonehenge im alten Kanaan.
Am Ende mündet das Ganze in ein Gelübde, ein Versprechen an Gott… Heute ist die Zeit der großen Gelübde vorbei. „Heilige Anna, ich will ein Mönch werden“…. Sagte Luther im Gewitter bei Stotternheim… Warum also ein Gelübde? Jakob zeigt damit  Gott und uns: Heute soll es eine Zäsur geben in meinem Leben. Ich mache nicht einfach weiter im alten Trott.  Gottes Wort hat mich getroffen. Ich bin angeredet. Ich bin gemeint.
Dies Gelübde zeigt uns einen ganz anderen Jakob….  Über Nacht ist aus dem  Muttersöhnchen ein selbstbewusster, gestärkter Mann geworden. Er will nicht mehr Marionette sein, Spielball in einer intriganten Familiengeschichte. Sondern selbst Verantwortung übernehmen. Aufrecht gehen. Aufgerichtet sein wie der Stein, auf dem er geschlafen hat. Fast möchte man von einer kleinen Ostererfahrung sprechen, einer nächtlichen Verwandlung, einer Traum-Metamorphose. Das ist für mich eine neue Entdeckung. Gottes Versprechen findet in Jakobs Versprechen Resonanz. Fast ein bisschen fordernd klingt das, wenn er sagt: Wird Gott mit mir sein und mich behüten, dann baue ich ihm hier ein Gotteshaus und gebe ihm den Zehnten. So ist es auch geschehen. Beth-El wird einer der großen Wallfahrtsorte im alten Israel Noch bevor in Jerusalem ein Tempel gebaut wird, entstand in Bethel ein Heiligtum. Und eine Segensspur Jakobs reicht bis zu uns nach St. Michael. Ein kühner Gedanke…. Ein Nachkomme Jakobs gibt nach dem Krieg Geld für den Wiederaufbau dieser Kirche, deren Steine zerbrochen und zerstreut waren. Das war vermutlich mehr als der zehnte Teil seines Besitzes. Auf große Träume folgen große Taten. Auf menschliche Schuld folgt Versöhnung, von Gott geschenkt.  I have a dream…
Nehmen wir unsere Träume ernst? Suchen wir Orte der Stille, lassen wir Gott zu uns sprechen?
Lassen wir uns gebrauchen, den Segen, der auch uns in der Taufe geschenkt ist, mit anderen zu teilen? Leben wir mit den unverbrüchlichen Verheißungen Gottes? Ich bin bei dir….
Ich finde es jedenfalls großartig, liebe Gemeinde, mit diesem Gott zu leben. Und ich weiß: Was auch kommt, er ist bei mir. Was auch geschieht in Syrien oder Amerika oder im alten Europa, die Pforte zum Himmel ist offen. Und Gott steht da mit offenen Armen und wartet auf uns. Amen.
 
Perikope
01.09.2013
28,10