Nina will Polizistin werden.
Jonas studiert Jura und wäre später gern Richter.
Felix ist in eine demokratische Partei eingetreten, vielleicht stellt er sich irgendwann zur Wahl für ein politisches Amt.
Drei Menschen, am Anfang ihres Erwachsenenlebens, die sich engagieren. Alle drei sind getauft, christlich geprägt in ihren Familien und ihren Gemeinden. Sie denken nicht daran, dem gesellschaftlichen Leben nur zuzusehen. Sie wollen mitmischen, mit entscheiden, mit urteilen. Das Motto: Die da oben machen sowieso nur, was sie wollen – wir hier unten haben eh nichts zu melden – dieses Motto passt nicht in ihre Lebenspläne. Diese drei Menschen wollen genau da hin, wo entschieden, geurteilt, gehandelt wird. Parlament, Polizei, Gericht - Legislative, Exekutive, Judikative – das sind die drei Bereiche der staatlichen Gewalt in einer Demokratie, in unserer Demokratie. Das ist Obrigkeit. Ob die drei das selbst so sehen: „Wir sind Obrigkeit.“?
Wenn ich an die drei denke, wird mir klar: Die da oben – wir hier unten – das ist zu kurz gedacht, zu vereinfacht und undifferenziert. So funktioniert staatliche Gewalt nicht, jedenfalls nicht hier und heute, bei uns, in einem demokratischen Gemeinwesen. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ So heißt es im Grundgesetz (GG Art. 20, 2). Das ist der Maßstab, ein hoher Anspruch.
Wer Polizistin ist oder Richter, Abgeordneter in einem Parlament oder auch Lehrer oder Schuldirektorin – der und die beteiligt sich an der Gestaltung und Ausübung staatlicher Macht. Ein Glück, dass Nina und Jonas und Felix sich darauf einlassen. Offenbar sehen sie Möglichkeiten, in diesen Berufen und mit ihrem Engagement etwas Gutes zu bewirken. Sie erleben sich nicht als von oben beherrschte Untertanen. Sie wollen mitgestalten. Und sie sehen staatliche Macht offenbar auch nicht als etwas, wovon man sich als Christin oder Christ fernhalten sollte. Sie sehen die Chancen, die sie haben, wenn sie sich beteiligen. Und ich bin heilfroh, dass sie sich auf diese Verantwortung einlassen. Ich bin heilfroh über eine Polizistin, die in der Bibel liest. Über einen Richter, der zum Gottesdienst geht und über einen Abgeordneten, der betet.
Wie sollten Christen zur staatlichen Gewalt und Machtausübung stehen?
Wie steht unser Glaube zur Politik – und was heißt das für unser Handeln, unsere Lebensgestaltung?
Paulus lebte in einer anderen Gesellschaft als wir. Als er an die christliche Gemeinde in Rom schreibt, beherrscht das römische Imperium die Welt rund ums Mittelmeer. Obrigkeit, staatliche Macht – das lag gut strukturiert und zentralisiert in der Hand des Kaisers und seinen Institutionen. Klare Strukturen und klare Machtverteilung, Stabilität und langjähriger Frieden nach außen eingeschlossen. Schwertgewalt hieß aber auch Macht über Leben und Tod der Untertanen. Wer keine Steuern zahlte, wer den Kaiser nicht anerkannte, wer den Aufstand probte – bekam diese Gewalt zu spüren. Der Prozess gegen Jesus von Nazareth verlief nach römischen Prinzipien, sein Todesurteil sprach der römische Prokurator Pontius Pilatus. Paulus war gegenüber dieser Staatsmacht sicher nicht blauäugig. Er wusste, welche Grenzen ihm gesetzt waren vom römischen Recht. Aber er wusste auch, welchen Schutz dieses Recht ihm bot. Auf sein römisches Bürgerrecht berief er sich gegen religionspolitische Willkür (Apg 22,25).
An die Gemeinde in Rom schrieb er keine christliche Staatslehre, er stellt in diesem Brief keine politischen Grundsatzprinzipien auf. Ihm ging es um die Frage, wie christliches Leben in diesem widersprüchlichen und oft auch undurchsichtigen Staat gestaltet werden kann. Seine Sicht darauf ist sehr pragmatisch. Wie Christen glauben und leben – das soll eben auch daran sichtbar werden, wie sie sich zum Staat, zur politischen Macht verhalten. Paulus beschreibt in diesem Brief auch die Ansprüche, die er an die staatliche Obrigkeit stellt: „Wo Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.“(V. 1) Das ist die Grundlage. Der Kaiser, die Richter, die Statthalter: sie haben ihre Macht nicht aus sich selbst. Vor allem: Sie sind nicht göttlich. Sie sind menschlich. Sie machen Fehler. Sie haben Macht in die Hand bekommen – und sie werden sich dafür letztlich vor Gott verantworten müssen. Es ist also nicht angebracht, sich vor ihnen zu fürchten.
“Vor denen, die Gewalt haben, muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke.“(V. 3)
Gut und Böse unterscheiden – das ist die Aufgabe der Obrigkeit. Dazu hat sie ihre Macht. Was ist gut? Was ist böse? Wie sollen Menschen handeln? Für Paulus gibt es dafür einen klaren Maßstab: das Gesetz, die Thora. Du sollst nicht töten, nicht Falsches über andere reden, nicht fremdes Eigentum dir aneignen. An diesen Maßstab soll die staatliche Macht sich halten und ihn schützen – so, wie alle anderen auch. An die Mächtigen werden von Paulus hier dieselben Maßstäbe angelegt, wie an die „Untertanen“. Jemand muss darauf achten, dass diese Maßstäbe eingehalten werden, das ist die wichtigste Aufgabe staatlicher Gewalt. Recht und Ordnung haben keinen Selbstzweck, sie sollen das Gute schützen, das Böse bestrafen.
Paulus traut der Obrigkeit, unter der er lebt, das offenbar zu. Das ist erstaunlich, vielleicht auch leichtsinnig. Schließlich wird er am Ende doch selbst Opfer der Willkür römischer Staatsgewalt. Das Schwert, das das Gute schützen sollte, hat ihn selbst getroffen. Die Lebensgeschichte des Apostels zeigt hier vielleicht deutlicher als seine Worte, wie staatliche Gewalt missbraucht werden kann: Wenn Kaiser und Staat sich selbst für göttlich halten, für unfehlbar und allmächtig, dann missbrauchen sie ihre Macht. Dann schützen sie das Gute nicht, sondern nützen nur sich selbst. Dann müssen Christen ihnen auch wiedersprechen.
„Steuer, wem Steuer gebührt.“Anbetung gebührt ihm nicht, diesem Staat, damals nicht und heute auch nicht. Ein Staat, der Glaubensbekenntnisse fordert, ist für Christen – und für alle anderen auch – eine Zumutung. Einem Staat, der das Gute nicht schützt, gebührt weder Furcht noch Ehre.
Und wie stehen wir zu dem Staat, in dem wir heute leben? In einer demokratischen Gesellschaft, die den Anspruch hat, dass in ihr „alle Macht vom Volk ausgeht“. In der es aber auch oft schwierig ist, Gut und Böse zu unterscheiden. In der wir uns nicht so einfach auf die Seite derer schlagen können, die „da unten“ sind. Als ob wir keine Verantwortung hätten und nur „regiert“ werden von „denen da oben“. Also: Was sollen wir tun?
„Vor allem nicht so viel Angst haben.“ Diese Antwort gab der Theologe Karl Barth 1952 auf diese Frage. 1952 – wir erinnern uns: Ein verheerender Krieg lag hinter Europa und der ganzen Welt. Unsägliche Schuld vor allem auf Deutschland. Die Supermächte formierten sich zum Kalten Krieg und zur atomaren Aufrüstung. In Westdeutschland kam das „Wirtschaftswunder“ in Gang und damit Selbstzufriedenheit und Wohlstand. In Ostdeutschland verhärteten sich die ideologischen Fronten. Politisch ganz sicher keine bequeme Situation. Genug Gründe, Angst zu haben.
Mindestens so viele Gründen finden auch wir heute, um Angst zu haben: Vor Klimakatastrophe und Umweltzerstörung. Vor politischer Dummheit und vor den Beschwörern des „Christlichen Abendlandes“. Vor der Verhärtung neuer ideologischer Fronten oder dem sozialen Absturz. Vor „denen da oben“, die ja doch machen, was sie wollen.
Paulus erinnert uns daran, dass „die da oben“ keine Götter sind, sondern Menschen mit Verantwortung. Und er erinnert uns daran, dass wir uns als Christinnen und Christen und als Kirche aus eben dieser Verantwortung nicht verabschieden dürfen. Genauso wie „die da oben“ sind wir, als Bürgerinnen und Bürger dieses Gemeinwesens, mitverantwortlich für die Unterscheidung von Gut und Böse. Den Maßstab für diese Unterscheidung lesen wir einige Verse später im Römerbrief: „Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.“ (Röm 13,10)
„Die da oben“ – ob es Nina, Jonas und Felix bewusst ist, dass sie durch ihre Berufswahl und ihr Engagement zur „Obrigkeit“ gehören werden? Sie werden Mut brauchen und Ausdauer. Sie werden Fehler machen und streiten müssen für ihre Maßstäbe von Gut und Böse. Vielleicht werden sie auch angegriffen und infrage gestellt werden. Sie übernehmen Verantwortung, und ihr Glaube wird ihnen dabei helfen – das hoffe ich. „Nicht so viel Angst haben“ – das möchte ich ihnen sagen auf diesem Weg in die Verantwortung – und auch uns, an den verschiedenen Orten, an denen wir arbeiten und leben. Fasst Mut, bleibt beharrlich, macht Fehler und lernt daraus. Habt keine Angst vor der Verantwortung! Und vor allem: Haltet an der Liebe fest, die aus dem Glauben an Jesus Christus wächst.
Amen.