Vor dem Thron – Predigt zu Römer 14,10-13 von Kathrin Oxen
14,10-13

Vor dem Thron – Predigt zu Römer 14,10-13 von Kathrin Oxen

Da stehen sie: Ruben, Simeon, Naftali und Dan und die anderen Brüder, raue Männer, ein wenig ungelenk und eingeschüchtert von all dem Glanz, der sie hier umgibt. Da stehen sie jetzt vor diesem Thron, auf dem ihr Bruder Josef sitzt. Er hat Karriere gemacht in Ägypten. Er ist der Stellvertreter des Königs geworden. Man sieht es an den Kleidern, die er trägt. Man hört es an seiner leisen Stimme. So spricht einer, der es gewohnt ist, dass alles, was er anordnet, auch ausgeführt wird. Beinahe lautlos geschieht das. Kein Vergleich mit ihnen, deren Kehle manchmal rau ist am Abend vom Rufen nach dem Vieh und dem Antreiben ihrer Lasttiere. Da stehen sie und jetzt ist der Tag da, an dem sie nur noch Brüder sind. Ihren Vater haben sie begraben und sie sind allein miteinander, die Brüder, sich selbst überlassen. Ein Tag, der einmal kommen musste und den sie gefürchtet haben. Allein miteinander, kein Vater mehr da, der nachfragt, wo eigentlich der Bruder ist. Es ist niemand mehr da, der sie zusammenhält.

Und das ist eine Freiheit, die nicht so ist, wie sie es erwartet haben. Sie fühlt sich nicht gut an. Keine Mahnung mehr, kein Einspruch, keine Kritik an ihrem Tun und Lassen. Keiner, der einschreitet, ihren Streit schlichtet, sie schützt vor ihrem Zorn aufeinander und ihrer Wut. Die älteren Brüder und der Jüngste, der Liebling und die Zurückgesetzen, sie kommen zusammen und sie sind allein miteinander. Und sie wissen, was alles geschehen kann, wenn Brüder allein sind miteinander.

Dieser Tag ist ein Tag, der immer schon da gewesen ist. Als er damals vor ihnen stand in seinem bunten Kleid und ihnen von seinen Träumen erzählte. Als dann sie dann weggingen vom Brunnen, in den sie ihn geworfen hatten. Als sie das Geld nahmen von den Händlern und das blutige Kleid dem Vater brachten. Sie taten, was sie taten und wussten dabei: Einmal wird der Tag kommen, an dem wir nur noch Brüder sind. Das ist ein Wissen, das in die Nacht gehört, in einen unruhigen Schlaf, in die Träume, aus denen man lieber aufwachen will.
Nun knien sie vor ihm. Sein Traum ist wirklich wahr geworden. Und ihr Alptraum auch. Allein mit dem Bruder. Und da steht Josef auf von seinem Thron und kommt zu ihnen herunter. Nicht mein Platz, dieser Thron, sagt er. Ich habe nicht zu urteilen und nicht zu vollstrecken. Es steht mir nicht zu. Ich sehe nicht auf die Tage, die hinter uns liegen. Ich sehe, was jetzt am Tage ist. Was wir getan haben, haben wir getan, ihr und ich. Aber aus all unserem Bösen ist am Ende Gutes geworden. Gutes für euch und für mich.

Du aber, was richtest du deinen Bruder? Und du, was verachtest du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen.

Denn es steht geschrieben:
So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich beugen jedes Knie,
und jede Zunge wird sich zu Gott bekennen.
Es wird also jeder von uns für sich selbst Rechenschaft ablegen müssen vor Gott.
Wir wollen einander also nicht mehr richten! Achtet vielmehr darauf, dem Bruder keinen Anstoß zu geben und ihn nicht zu verführen.
(Übersetzung der Zürcher Bibel 2007)

Wir sind genauso gefragt, so wie Josef und seine Brüder. Wir werden angesprochen als Brüder und Schwestern. Wie lebt ihr eigentlich miteinander, in der Zeit, die uns bleibt, zwischen Leben und Sterben? Ist euer Leben ein Gerangel um den Platz auf dem Thron, ein Kampf um das Recht, Urteile zu fällen über andere?

Die einen richten gern gleich. Da gibt es Schnellverfahren gegen andere. Da ist man schnell mit einem Urteil bei der Hand. Denn es gibt in ihrer Welt nur schwarz und weiß und gut und böse und nichts dazwischen und keine Uneindeutigkeiten. Das macht das Leben schön einfach. Es wird sauber aufgeteilt in zwei Hälften und jeder kann sich seine Seite selber aussuchen.
Wer die falsche Seite gewählt hat, wird schon gewusst haben, warum, hat bestimmt auch etwas gehabt davon – und zwar etwas, worauf wir verzichten mussten. Über die Folgen seines Handelns darf sich dann aber niemand beklagen.
Die anderen dagegen würden niemals richten. Denn so einfach ist es ja nicht. Die komplizierte Welt lässt sich nicht einfach in gut und böse einteilen. Und wer das versucht, mit dem kann man eigentlich nur Mitleid haben. Solche Leute muss man bedauern, weil sie so ein schlichtes Weltbild haben und dadurch unfrei werden und in geistiger Enge leben müssen.
Gerade unter Christen sind die einen wie die anderen zu finden. Das ist schon von Anfang an so. Paulus kennt sie alle. Die Schwachen, die lieber genau einteilen und festlegen wollen, was man darf und was nicht. Und die Starken, die sich über solche einfachen Regeln und Vorschriften erheben. Sie sagen: Das kann jeder für sich entscheiden. Wir brauchen das nicht festzulegen.

Und schon zu Paulus Zeiten war es so, dass die einen wie die anderen Anspruch erhoben haben auf den Thron.
Die einen klettern mutig darauf und mustern alle, die sie vor sich haben und spüren, wie gut es ist, zu unterscheiden und zu urteilen. Wie einen das entlastet von der Unübersichtlichkeit des Lebens und der Welt.
Die anderen besetzen den Thron, indem sie ihn für leer erklären. Es gibt keine Urteile, so lautet ihr Urteil. Lächerlich machen sich doch die, die glauben, urteilen zu können. Es ist eben nicht alles einfach, nur weil man selbst eher einfach gestrickt ist.

Sie alle stehen da, wie damals Josefs Brüder. Sie stehen am Rand des Brunnens und blicken mitleidlos auf den da unten, der zu Fall gekommen sind, weil er glaubte, etwas Besseres zu sein, mehr zu wissen, mehr erreichen zu können.
Oder sie stehen da im bunten Kleid, wie Josef auf dem Thron des Pharao. Vor ihm die anderen, die die Träume nicht träumen können, die er träumte, die alltäglich bleiben und beschränkt, die anscheinend nur den Boden vor ihren Füßen sehen.
Die Anlässe für solche Verurteilungen haben sich geändert im Laufe der Zeiten. Bei Paulus damals ging es um etwas anders als bei uns heute. Es ging um eine Frage, die wir gar nicht mehr richtig nachvollziehen können. Aber strittige Fragen gibt es auch heute genug unter uns Christen. Und gleich geblieben über die Zeiten hinweg ist dieser kalte Blick auf die anderen. Die sind ja unerträglich in ihrer Sicherheit –  oder unerträglich in ihrer Unsicherheit.
Wir sind wie Brüder und Schwestern, die plötzlich alleine miteinander sind. Die um das Recht kämpfen, übereinander Urteile zu fällen. Ein Gerangel um den Thron.

Doch er ist nicht unser Platz, dieser Thron. Denn er ist nicht leer. Da ist einer. Einer, der uns zusammenhält, der mahnt und Einspruch erhebt, unser Tun und Lassen kritisiert. Einer, der einschreitet, den Streit schlichtet, der uns schützt vor unserem Zorn auf die anderen und vor unserer Wut. Einer, der immer wieder fragt: Wo ist dein Bruder, wo ist deine Schwester?
Egal, welches Gewand ich anlege, das bunte Kleid der großen Visionen, der grenzenlosen Freiheit oder die graue Uniform der Sicherheiten: Einer ist da, der mich sieht und mich fragt: Du da, im bunten Kleid, wie nutzt du eigentlich deine Freiheit? In Liebe und in Geduld mit denen, die ängstlich sind und unsicher und etwas brauchen, woran sie sich halten können? Bist du bereit, zu warten, bis sie mehr Sicherheit gewinnen und endlich mutiger werden?
Und du da, in der grauen Uniform, wie nutzt du eigentlich deine Sicherheit? In Liebe und mit Offenheit für die, die sich weiter vorwagen als du selbst, die sich genauso bemühen, das Richtige zu tun, aber dabei andere Wege gehen als du?

Einer ist da, der mich sieht und mich fragt. Ich stehe da, im bunten Kleid oder in Uniform und neben mir die Brüder und Schwestern, im bunten Kleid oder in Uniform. Sie sind anders als ich. Sie können nicht aus ihrer Haut, wie ich nicht aus meiner Haut kann. Mir kann das bunte Kleid besser gefallen oder die Uniform, aber niemand kann zu etwas gezwungen werden, was ihm oder ihr nicht passt. Das ewige Gezerre aneinander ist sinnlos.
Gefragt bin ich: Wie nutzt du deine Freiheit, wie nutzt du deine Sicherheit? Was bestimmt dein Handeln? Spürst du eine kalte Freude an der Unzulänglichkeit der anderen oder spürst du die Liebe, die geduldig ist und freundlich, die sich nicht erbittern lässt, die alles erträgt, auch die Brüder und Schwestern?

Gerade Christen tun sich schwer damit. Sie wollen nichts miteinander zu tun haben, kritisieren aneinander die Unfreiheit und geistige Enge oder die Unfähigkeit, eindeutige Antworten zu finden. Sie sind aufgeteilt in Gemeinden, Kirchen, Konfessionen und ein liebevoller Blick auf die anderen fällt schwer. Wir trennen uns, die Wege führen uns auseinander. Die einen geraten in die bunte Welt und bis an die Höfe der Mächtigen, die anderen bleiben in der Genügsamkeit des Vertrauten und Bekannten, in der kleinen Welt mit überschaubaren Herausforderungen.

Aber heute hören wir: Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes treten müssen. Eines Tages kommt ihr wieder zusammen, all ihr unterschiedlichen Geschwister, die ungelenken, die sehr gewandten, die einfachen und die anspruchsvollen. Vergesst das nicht und denkt immer daran. Denn dieser Tag soll kein Tag sein, den ihr fürchten müsst, weil unter euch die Erinnerung lebendig wird an den Brunnen, an dessen Rand ihr ohne Mitleid standet und ohne Liebe.

Kein Tag, der euch noch einmal vor Augen führt, wozu ihr fähig seid als Brüder und Schwestern, wie ihr euch gegenseitig Fallen stellt.

Und kein Tag, an dem ihr auf einen Thron klettert, der nicht euer Thron ist.

Denn der Tag kommt, an dem wir nur noch Brüder sind und Schwestern.

Amen.

(Anmerkung: 1. Mose 50, 15-21 sollte Lesung im Gottesdienst sein)