I.
Ein Mensch steht vor Gericht. Es ist früh am Morgen. Der Angeklagte wurde die ganze Nacht verhört. Es ging nicht um die Wahrheit. Es ging darum, Schuld zu finden. Man wirft ihm Amtsanmaßung vor, Anstiftung zum Aufruhr gegen die religiösen Führer und gegen den Staat. Gotteslästerung. Infragestellung des Systems. Das muss aus der Welt geschafft werden. Der muss aus der Welt geschafft werden.
Sie bringen ihn zum obersten Richter. Nur dieser, Vertreter der staatlichen Gewalt, hat die Macht, ein Urteil über Kapitalverbrechen zu sprechen. Eine Verteidigung ist nicht vorgesehen. Der Richter ist befangen, durch Unkenntnis und Desinteresse.
Das Verhör wird fortgesetzt, aber es kommt nichts dabei heraus. Was soll die Schuld sein? Größenwahn? Herrschaftsphantasien? Der ist doch harmlos. Ein Wortverdreher, kein Volksverführer.
Aber die Ankläger sind nicht harmlos. Sie behaupten: Ein Aufruhr droht. Also wird der Prozess kurz: Noch ein Angebot zum Ausgleich – ein Ersatzopfer. Es wird abgelehnt, sie verlangen eine regelrechte Verurteilung.
Dann noch die übliche Folter, Schläge mit speziell präparierten Geißeln. Vielleicht sagt er noch etwas Substantielles, das sich gegen ihn verwenden lässt. Aber nichts. Schweigende Unschuld. Der Angeklagte wird noch einmal vorgeführt: Seht, ein Mensch! Also schnell jetzt. Bringt es zu Ende.
II.
Ein Jude steht vor Gericht. Jesus von Nazareth, Jeshua, Wanderprediger aus Galiläa. Angeklagt von anderen Juden, von der obersten Religionsbehörde. Religion hat Gewicht in dieser Zeit. Es geht um Wahrheit und Macht. Der Grund der Anklage lässt sich aus den überlieferten Texten kaum rekonstruieren: Missbrauch des Gottesnamens? Unruhestiftung im Tempel? Missachtung der Reinheitsgebote? Aber war das alles genug, um die Todesstrafe zu fordern? Kreuzige ihn – deshalb?
Der Prozess gegen den Juden Jesus aus Nazareth beginnt mit einem Streit über religiöse Fragen, über die Auslegung der Gebote der Thora. Aber geführt wird dieser Prozess bis zum Urteil vor einem römischen, weltlichen Gericht. Nur der Prokurator Pontius Pilatus darf ein Todesurteil fällen und vollstrecken. Und er tut es. Aus Unkenntnis, aus Dummheit oder Lust an der Gewalt, aus politischem Kalkül, zur Abschreckung anderer Aufrührer oder einfach, um diese Sache loszuwerden? Dieser Fall, dieses Urteil, wird ihn berühmt machen über den Untergang des römischen Reiches hinaus. Sein Name, über die Jahrhunderte hinweg bekannt durch das christliche Glaubensbekenntnis: Gelitten unter Pontius Pilatus. Gekreuzigt – auf Befehl dieses Prokurators.
Der Evangelist Johannes beschreibt die Gestalt des Pontius Pilatus wie weichgezeichnet: Einer, der Fragen stellt, die Wahrheit sucht. Einer, der sich bemüht, den schuldlosen Jesus von Nazareth doch noch freizugeben. Andere Quellen beschreiben einen hartherzigen, bestechlichen und grausamen Gewaltherrscher.
Was ist Wahrheit – im Blick auf diesen Richter?
Wahr ist auch, dass mit diesem Prozess, mit diesen Zuschreibungen in den Berichten der Evangelien, eine Gewaltgeschichte beginnt, die bis heute anhält: „Die Juden“ – so heißt es im Johannesevangelium. Sie suchen nach Gründen für ein Todesurteil gegen Jesus. Sie fordern seine Kreuzigung. So schreibt es Johannes. Was ist Wahrheit?
Wahrheit ist auch: Mit diesem Prozess nimmt eine Katastrophe ihren Lauf, die Schuld um Schuld über Jahrhunderte aufgehäuft hat. Der Evangelist Johannes wollte die Gegnerschaft zwischen den Juden des Hohen Rates und dem Juden Jesus von Nazareth herausstellen. Ihren Irrtum gegen seine Wahrheit. Unsägliche Gewalt erwuchs aus dieser Geschichte. Die Schläge, die Jesus trafen, der qualvolle Tod am Kreuz – sie stehen auch für die Verfolgten, Gequälten, Gemordeten seines Volkes. Auch dies: Wahrheit dieser Geschichte voller Gewalt.
III.
Gott steht vor Gericht.
Hat er das gewollt? Wollte er so dastehen vor aller Welt: entstellt, zerschunden, entwürdigt? Kann das Gott sein?
Das Wort wurde Fleisch – und nun hängt es ihm in Fetzen vom Rücken, Dornen drücken sich in dieses Fleisch, bis aufs Blut. Geboren von einer Frau, und nun nur noch Qual und Schmerz.
Das muss ein Missverständnis sein. Wäre dieser Gott, er wäre doch unverwundbar. Strahlend. Anbetungswürdig. Ein König aller Könige. Aber nicht ein Unschuldiger unter der Folter. Unerträglich ist dieser Anblick, auch ohne den Gedanken an Gott. Ein Mensch, der nur noch Schmerz ist. Seht ihn euch an.
Welchen Sinn soll das haben: Gott vor Gericht, ohne Verteidigung, ohne jede Macht. Angespuckt und geschlagen. Verwechselbar mit jedem Leidenden, mit jeder Geschlagenen. Er ist das Letzte – so endet dieser Prozess. Diesem Gott widerfährt, was allen gequälten, geschundenen Menschen widerfährt. Er macht sich austauschbar, verwechselbar. Das ist die Wahrheit Gottes, der sich vor Gericht ziehen lässt: Seht, welch ein Mensch!
IV.
Die Liebe steht vor Gericht.
Sie hätte dort nicht hingehen dürfen, ins Zentrum der Macht. Sie hätte still bleiben müssen, am Rand, nur für einige wenige sichtbar. Ein kleiner Kreis von Gleichgesinnten – hätte das nicht genügt? Es musste die Hauptstadt sein. Auf einem Esel durch das Stadttor, wie lächerlich.
Sie war die ganze Zeit dabei, beharrlich, direkt, ohne Scheu. Die Liebe war dabei, als er aus Wasser Wein machte und als er den Blinden heilte von seiner Blindheit. Sie war dabei, als er das Brot verteilte, als gäbe es keinen Mangel. Sie blickte verwundert auf, als er die Ehebrecherin freisprach. Sie lebte auf, als er den Lazarus aus dem Grab rief. Und sie beugte sich, als er seinen Freunden die Füße wusch.
Wahrheit und Liebe – die beiden können nicht ohne einander. Nun steht sie vor Gericht, die Liebe. Hat sie alles falsch gemacht? Hätte sie sich verstecken müssen, vorsichtiger sein? Sie scheint keine Angst zu haben vor den Schmerzen, vor dem Tod.
Was ist Wahrheit? Die Liebe antwortet nicht mit Worten auf diese Frage. Sie lässt sich vorführen und schlagen und umbringen. Es wird nichts nützen. Sie wird auch dabei sein, wenn er stirbt, qualvoll am Kreuz. Sie lässt sich begraben und kommt wieder ans Licht.
V.
Wenn ich vor Gericht stehe, wer gibt mir recht? Vor dem Gericht der Schuld und der Wahrheit? Wer verteidigt mich und steht für mich ein?
„Bist du Gott, dann tu mir Recht.
Ja, das Lügen regiert weit und breit:
Hochstapler sind an der Macht.
Du warst mein Gott, meine Barke und meine Burg.
Darf ich nicht mehr hinein?
Darum bin ich so heruntergekommen,
gequält und erniedrigt.
Schicke zu mir
Licht gebende Füße,
dass sie mir vorangehen
dorthin, wo du bist.
Dass meine Seele sich nicht verkriecht.
Dass du
Mein Angesicht befreist.
Mich wägst und sagst ja.“1
Amen.
1 I Huub Oosterhuis, Psalmen, Freiburg u.a., 2014, S. 94. Diese Übertragung von Ps 43 wird in der Eingangsliturgie des Gottesdienstes am Sonntag Judika aufgenommen.