Was beim Abschied gesagt werden kann...
"Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht."
Liebe Gemeinde,
der sehr kluge, alltagsweise Philosoph Michel de Montaigne, der einen großen Teil seines Lebens in einem Bibliotheksturm verbracht hat, hat einmal gesagt: "Ein Abschied verleitet immer dazu, etwas zu sagen, was man sonst nicht ausgesprochen hätte." Genau das will ich jetzt verfolgen, beim Hören auf die Abschiedsworte Jesu.
Viele Menschen fürchten jede Art von Abschied. Denn Abschiede enthalten stets beides, Aufbruch und Trauer. Wenn die Bahn einmal nicht streikt, steht das junge Liebespaar eng umschlungen vor der offenen Wagentür des wartenden ICE und umarmt sich innig. Die Liebste fährt für mehrere Wochen zum wichtigen Praktikum in der übernächsten Großstadt, und der Liebste kann leider nicht mitfahren, weil ihn im Büro Stapel von zu bearbeitenden Akten erwarten. Der Zugchef hebt schon die grüne Seite der Signalkelle in die Höhe und schaut schon ganz unruhig: Wollen Sie nun mitfahren oder nicht? Für innige Worte ist jetzt keine Zeit mehr, die beiden Liebenden umarmen sich nur ein letztes Mal, dann reicht der Mann seiner Liebsten den vollgepackten Rucksack in den Zug. Wartende am Bahnhof, am Flughafen oder an der Bushaltestelle beobachten solche Szenen regelmäßig. Der Abschied fällt immer schwer, die Liebe bleibt hoffentlich. Übrigens nicht nur bei jungen Liebespaaren, sondern auch bei kleinen Enkeln und Großeltern oder bei heranwachsenden Söhnen, die nach dem Abitur für ein Jahr ein freiwilliges soziales Jahr ableisten. Abschied bildet eine Schwelle, einen Übergang, von Wohnung und Heimat in die weitere oder nähere Fremde. Wer auf dieser Schwelle steht, empfindet zugleich anhaltende Zuneigung und Schmerz über die Trennung.
Genauso nimmt Jesus Abschied von den Jüngern, aber es kommt noch einiges dazu, an Vertrauen, an Angst, an Einsicht in die Welt und Gott. Dem Liebespaar reicht eine innige Umarmung und ein Kuß, um widerstreitenden, aufwallenden Gefühlen spürbare Gestalt zu geben. Im Johannesevangelium findet Jesus von Nazareth zu den richtigen Gesten passende Worte für eine besondere Trennung.
Die wenigen Worte, die er an die Jünger richtet, wirken weit über die Jünger hinaus. Der Evangelist Johannes hat sie in einer Gruppe zu einer Rede zusammen gestellt. Spätere Leser sollen sich in die Jünger hinein fühlen, die sich stellvertretend für alle Christen, die ihnen gefolgt sind, die tröstenden Liebesworte Jesu anhören. Die Menge der Jünger vergrößert sich also durch die Zeit, wir hören die Worte Jesu, als ob sie für heutige Christen gesprochen seien. Darum halte ich den Predigttext für eine der ergreifendsten, schönsten Stellen der Bibel, voll von Trost, Liebe und Geduld, aber genauso auch nüchtern, nah am Leben, frei von Illusionen. Pfingstfreude soll überschäumend und überschwänglich über die Ränder der Gemeinden quellen, aber in dieser Rede Jesu mildert die Nüchternheit des Abschiednehmens den Enthusiasmus über den Heiligen Geist. Das ist der große, manchem trocken erscheinende Wirklichkeitssinn, der sich durch die gesamte Bibel zieht. Im Predigttext findet er einen seiner Höhepunkte. Rote Farben der Pfingstfreude auf der einen Seite stehen nicht den schwarzen Tönen der traurigen Welt auf der anderen Seite gegenüber. Zum Vorschein kommt eine ganz realistische, angemessene Mischung zwischen Abschied und Freude. Denn Rot der Pfingstfreude und Schwarz des Abschieds lassen sich gar nicht paßgenau trennen, beide Farben fließen ineinander über, wie benachbarte Farbflächen auf einer Aquarellmalerei, wenn das Papier noch nicht getrocknet ist.
Die Worte Jesu atmen Trost, Liebe, Zuwendung, Menschenfreundlichkeit gegenüber den verängstigten Jüngern. Sie sehen das Risiko und die Gefahr, in Verzagtheit zurückzubleiben. Als Predigttext haben wir einen Auszug der Abschiedsrede Jesu im Johannesevangelium gehört. Es fehlt der für die Rede wichtige Kontext, der nachgetragen werden soll. Jesus nimmt Abschied von den Jüngern, weil er genau weiß, daß er gekreuzigt werden wird. Im Johannesevangelium weiß er aber mit derselben Gewißheit von seiner Auferstehung drei Tage danach. Er weiß, daß er zu seinem Vater zurückkehren wird. Und er weiß, daß er die Jünger, die für die erste Gemeinde stehen, zurücklassen muß. Den Jüngern wird diese Abwesenheit Jesu Schwierigkeiten machen. Deswegen versucht Jesus, die Jünger vorzubereiten. Er versucht die Jünger zu trösten, bevor er gehen muß.
In unserer Szene stellt Judas, ein anderer Judas als der spätere Verräter, eine Frage. Judas fragt: Herr, was bedeutet es, dass du dich uns offenbaren willst und nicht der Welt? (Joh 14,22) Die Frage zielt auf den Unterschied zwischen der Gemeinde Jesu und der Welt. Der Welt, also allen Menschen, bleibt offensichtlich etwas verschlossen, was die Anhänger Jesu, seine erste Gemeinde, aber auch alle weiteren Gemeinden, die folgten, schon glauben oder verstanden haben.
Der Welt, von der Jesus spricht, bestimmt sich durch die Grundregel des Gebens. Die Menschen kämpfen um Nahrungsmittel, um Liebe, um Aufmerksamkeit und um jede Chance, welche ihr Überleben sichert. Jeder weiß, daß Kooperation mit anderen die Chancen des Überlebens vergrößert, aber es bleibt stets das Mißtrauen, betrogen, getäuscht oder hintergangen zu werden. Wer handelt, um zu überleben, der versucht, für seine eigenen Gaben auch eine Gegengabe zu erhalten. Wer liebt, tut das in der Erwartung, wieder geliebt zu werden. Wer einem anderen hilft, tut das in der Erwartung, daß der andere ihm umgekehrt hilft, wenn er selbst sich in Not befindet. Eine Gabe erfordert eine Gegengabe, wenn auch nicht notwendig in unmittelbarer zeitlicher Abfolge. Das ist gemeint, wenn Jesus sagt: So gibt die Welt.
Leider funktioniert dieses Prinzip von Gabe und Gegengabe nicht immer. Die meisten Menschen, die gegeben haben, können sich nicht sicher sein, ob sie irgendwann auch das, was sie investiert haben, zurückbekommen. Das Spiel von Gabe und Gegengabe ist durch einen Graben der Angst bestimmt, selbst wenn das Spiel am Ende zum Erfolg der Gegenseitigkeit kommt. Diese Angst lähmt die Menschen und zerstört Vertrauen. Vertrauen geschieht stets auf Hoffnung hin, sie enthält das Risiko, getäuscht zu werden. Deswegen haben die Menschen seit Jahrhunderten unterschiedliche Techniken der Absicherung entwickelt, um sich gegen Täuschung, Betrug und Übervorteilung zu wehren. Wer sich nicht sicher ist, ob er vertrauen kann, entwickelt Angst. Die Jünger haben Angst. Jesus versucht, ihnen mit seinen tröstenden Worten die Angst zu nehmen. Es geht ihm darum, den Kreislauf von Angst und Vertrauensrisiko zu durchbrechen.
Im Johannesevangelium redet Jesus vor der Kreuzigung zu den Jüngern. Ihm ist das bewußt, was auf ihn zukommt. Der Evangelist Johannes denkt theologisch Kreuz, Auferstehung und Pfingsten zusammen. Der Wendepunkt in der Geschichte Jesu wirkt sich auch auf spätere Gemeinden aus, die jeweils im Kirchenjahr die Geschichte Jesu an den Christusfesten Karfreitag, Ostern und Himmelfahrt, aber eben auch an Pfingsten nachvollziehen und mitgehen. Die ergreifende Abschiedsrede ist so gestaltet, daß Jesus sich im Wissen um sein Schicksal an die ängstlichen Jünger wendet. In der Abschiedsrede verdichtet sich der Trost für die Jünger – und folgend für die Gemeinden, die die Jünger nach Tod und Auferstehung gegründet haben.
Jesu Rede berührt deshalb so sehr, weil sie auf das Herz zielt. Der Rabbi aus Nazareth gibt sich mit den Oberflächen der Menschen gar nicht erst ab. Er weiß, daß Menschen ihre Ängste und Befürchtungen nur allzu gut verbergen können. Im Inneren von vielen sieht es oft anders aus als es nach außen, im Licht der Beobachtung durch andere, erscheinen mag. Der Unterschied zwischen beidem kann Persönlichkeiten zerbrechen lassen und in Beziehungen zu bitteren Enttäuschungen führen. Es zeichnet Jesus aus, daß er solche äußeren Bilder durchschaut. Genau deswegen enthält seine Rede nüchterne Wahrheiten, aber auch bleibenden, nachhaltigen Trost. Nach außen kann sich jeder als zufriedenen, glücklichen Menschen darstellen. Im Unterhaltungsfernsehen sind jeden Tag Beispiele dafür zu sehen, die einen manchmal in ihrer Naivität erschrecken. Im Herzen, vor der eigenen Selbstwahrnehmung brechen alle diese Formen der Selbstdarstellung in sich zusammen. Der Verstand ist nicht in der Lage, die Bewegungen des Herzens zu planen. Das Herz ist ein zerbrechliches, unbestechliches inneres Organ des Menschen, das von Kopf und Hand ganz unabhängig ist. Das Herz bestimmt die inneren Gedanken, die Stimmungen eines jeden Menschen.
Genau darauf, auf das Herz eines jeden Menschen zielt auch die Abschiedsrede Jesu. Nebensachen und Oberflächen läßt er beiseite. Für Jesus ist der Zeitpunkt gekommen, über den Kern der Sache, über den Kern des ängstlichen Menschen zu reden. Die Jünger fürchten sich vor der Abwesenheit ihres Meisters Jesu, so wie heute Menschen an Gott zweifeln. Sie fürchten die Abwesenheit Gottes, denn das würde Angst machen, wenn die Welt nur durch Zufälle und den einen Urknall bestimmt wäre.
Jesus spricht nun vom heiligen Geist. Aber nicht so, daß er den Jüngern eine Information weitergibt, als könnten sie danach im Formular der Selbstverständlichkeiten des Glaubens eine weitere Position abhaken. Der Heilige Geist ist ein Tröster. Er hilft den Jüngern und allen Gemeindegliedern, die ihnen folgen, gegen die Angst. Die Formel läßt sich auch umdrehen: Wo Trost geschieht, ist der Geist anwesend, dort, wo eine schwere Last von einem Menschen abfällt, dort, wo sich Angst plötzlich in Luft auflöst, dort, wo Streit beendet wurde und neue zarten Verbindungen an die Stelle von bleibender Spannung und anhaltender Verhärtung treten. Geist ist dort, wo Trost geschieht, wo Hoffnung und Lebensmut, Glauben und Vertrauen wachsen, manchmal nur als ganz kleine, verletzliche Pflänzchen, die leicht übersehen werden oder die andere schnell wieder zerstören. Wo der Geist wirkt, fallen Mauern, weiten sich Verengungen, brechen Sperren in sich zusammen; Starre bricht auf, Langeweile verschwindet und Verletzungen beginnen zu heilen.
Der Geist tröstet, und in diesem Trost vertreibt er die Ängste, die zerplatzen wie Seifenblasen. Dieser Geist wirkt überall, keineswegs nur in den Gemeinden. Um ihn wahrzunehmen, braucht es Glauben und Vertrauen in Gott. Wer sich gegen die eigenen Ängste selbst helfen will, der verstrickt sich nur tiefer in Ängste, er bleibt in dem gefangen, was die Bibel Sünde nennt. Diese Sünde führt nur immer tiefer hinein in die Spirale der sich verstärkenden Ängste. Der Glaube an den Geist dagegen führt aus der Selbstbezogenheit heraus in die Welt, wo sich neue Entdeckungen des Glaubens machen lassen.
Wer sich auf den Geist einläßt, der begegnet dieser Welt im Glauben. Die Welt erscheint dann nicht mehr als bedrohliches Spiel von Zufällen, Katastrophen und Unglück, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Für den Glauben hat sich die Welt verwandelt. Sie wird von der Wüste der bedrohlichen Zufälle zu einer geistlichen Heimat. Dieser Heilige Geist, sagt Jesus, führt zu Gott, der uns Wohnung gibt und bei dem wir Wohnung nehmen. Wer das im Glauben annimmt, der sieht plötzlich die Oasen des Trostes, des Friedens und der Erbauung, die überall aus dem Vertrauen auf Gott wachsen. Deswegen beendet Jesus seine Trostworte auch mit dieser alten Formel, die in der Bibel an vielen Stellen begegnet, häufig dann, wenn in einer Erzählung ein Engel auftaucht und die Menschen wegen seiner ungewöhnlichen Erscheinung tief beunruhigt sind: Euer Herz fürchte sich nicht. Fürchtet euch nicht, sagt auch der Engel der Weihnachtsgeschichte zu den Hirten, deren Aufmerksamkeit behutsam auf das Kind in der Krippe gelenkt wird.
Wer auf den Geist als Tröster vertraut, der besitzt so etwas wie eine Wohnung bei Gott. Das ist kein Einfamilienhaus mit Fundament und Keller, aus dem die Glaubenden gar nicht mehr ausziehen wollen. Glaube begreift das Leben nicht als Dauerzustand, in dem Sicherheit herrscht, weil sich gar nichts mehr ändert. Eher geht es um eine transportable Wohnung, ein Zelt, das jeden Glauben auf seinem Weg und in den vielen Verwandlungen seines Lebens begleitet, bis es einmal endet in dem, was sich Christen in Glauben und Vertrauen erhoffen: in dem Reich, das Jesus genauso angekündigt hat wie den Geist, der tröstet. Der Trost im Abschied Jesu führt mitten ins Leben hinein.
Brechen wir auf! Amen.