Was Gott unter uns verloren hat - Predigt zu Lukas 15,1-10 von Rudolf Rengstorf
15,1-10

Es nahten sich ihm aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. 2 Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.
3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: 4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? 5 Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.
8 Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. 10 So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

Liebe Leserin, lieber Leser!
Der Hirte, der ein verlorenes Schaf sucht, die Frau, die einen ihrer Silbergroschen wiederfindet – das sind ja leicht eingängige Bilder. Aber für eine Predigt vielleicht doch ein bisschen harmlos – und dazu auch noch wohl etwas unter unserer Würde: Wer möchte sich schon gern mit einem Schaf vergleichen lassen? Und so ein in die Fußbodenritze gefallenes Geldstück möchte ich auch nicht gerade sein! Das geht mir übrigens mit den Menschen, die da um Jesus auftreten, nicht viel besser: Auf der einen Seite die Schriftgelehrten und Pharisäer, die wie üblich sauertöpfisch dreinblicken, weil Jesus sich mal wieder mit einem gottlosen Völkchen abgibt. Und auf der anderen Seite die als gottlos geltenden Zöllner und Sünder, habgierige Betrüger, schwere Jungen und leichte Mädchen – nein, das wäre nicht mein Platz. Wäre ja auch noch schöner für einen Superintendenten in Ruhe!

Am ehesten erkenne ich mich schon wieder in den beiden Personen, von denen so viel Bewegung ausgeht, weil sie rastlos auf der Suche sind: Also in dem Hirten, der sein Schaf, und in der Frau, die ihren Silbergroschen sucht. Ich weiß ja nicht, wie Ihnen das geht. Aber wenn ich etwas verloren habe, was zu mir gehört und was ich dringend brauche, meine Brille etwa oder meinen Kalender, dann bin ich völlig von der Rolle, genau wie die beiden da in den kleinen Gleichnissen. Da bricht der gewohnte Tagesrhythmus plötzlich ab, da lasse ich alles andere stehen und liegen, denke zunächst noch: Ganz ruhig bleiben, es gibt doch nur diese zwei, drei Stellen, wo es sein muss. Doch dann gerate ich zunehmend in Panik, laufe – wie meine Frau sagt – wie ein Huhn ohne Kopf durchs Haus, suche drei, vier Mal an derselben Stelle, kriege einen fürchterlichen Zorn, weil mir die Zeit nutzlos davonläuft, und falle im nächsten Augenblick in tiefe Resignation: Was soll werden, wenn die Brille, ohne die du nicht lesen und auch nicht amtieren kannst, verschwunden bleibt! Also wieder zum Augenarzt und zum Optiker, die Warterei und das viele Geld! Oder wenn der Kalender nicht wieder auftaucht – nicht auszudenken, was du da zwangsläufig an Terminen verschwitzen wirst!

Die Suche des Hirten und der Frau, von denen Jesus erzählt, verlief wohl noch dramatischer. Schließlich spielte sie sich nicht in Norddeutschland, sondern im Orient ab. Und da regen Mann und Frau sich schneller und heftiger auf als unsereins, zumal es für beide um viel geht. Wenn einem Hirten eines der ihm anvertrauten Schafe verloren geht, gerät er in Existenznot, und mögen da noch so viele andere Schafe sein. Die Besitzer erwarten von ihm, dass er jedes der Schafe kennt, es im Auge behält und sicher zurückbringt. Ohne das verlorene Schaf muss er damit rechnen, gefeuert zu werden. Also, da gibt’s nur eins: Die anderen beim Hund lassen und sich schleunigst auf die Suche machen und sich erst wieder zu beruhigen, wenn er‘s gefunden und sicher zurückgebracht hat. Und der Silbergroschen ist für die Frau, die im Haus das Unterste zuoberst kehrt, ein wertvolles Schmuckstück, das zu ihrer Brautkrone gehört, und die steht für ihre Würde, ihren Stolz, ihr Liebling- und Schatzsein. Wenn die nicht intakt ist, was für eine Schande! Spätestens beim nächsten Fest wird das auffallen und sie ins Gerede bringen.

Und jedem, der Jesus damals zuhörte, war sofort klar: Wie der Hirte und die Frau würde ich es auch machen. Alltags- und Jedermannsgeschichten waren das, die er da erzählte. Und dennoch waren sie ganz und gar unerhört und eine unerträgliche Provokation auch für die liberalsten unter den Pharisäern. Und das deshalb, weil Jesus es wagte, in dem verzweifelt suchenden Hirten und der außer sich geratenden Frau ganz unverhohlen Gott zu zeigen. Ihn, den allein Heiligen, den Unantastbaren, den Unnennbaren, den fromme Juden bis heute mit letztem Ernst auf Abstand halten gegenüber allen Vorstellungen und Wünschen, die Menschen so von ihm haben können. Er – der Allmächtige, gelobt sei sein Name – vergleichbar mit einem Menschen, mit einem Mann und – ja tatsächlich! – einer Frau, denen etwas fehlt und die fast verrückt werden vor Aufregung, bis sie gefunden haben, was sie suchen und sich dann vor Freude nicht mehr einkriegen, so menschlich, so alltäglich. So hochemotional, in aller Öffentlichkeit so ungeschützt und naiv und theologisch völlig undiskutabel von Gott zu reden – das war einmalig zur Zeit Jesu, und es ist anstößig geblieben bis heute.

Denn wenn bei uns von Gott die Rede ist, gehen die Gedanken – so erlebe ich das jedenfalls – unwillkürlich über diese Welt hinaus. Steht er mit seiner Allgegenwart, mit seiner Zeitlosigkeit, seiner Unsichtbarkeit und seiner Allmacht doch außerhalb all dessen, was wir hier erleben. Und weil der Gedanke an Gott aus dieser Welt herauszieht, ist hier, wo er nicht zu fassen ist, auch so wenig die Rede von ihm. Zwar ist das Wort Gott in Redewendungen wie „O Gott, o Gott!“ oder auch „Gott sei Dank!“ in der Alltagssprache noch vorhanden. Aber dass Menschen im Alltag ernsthaft üb Gott reden, erlebe ich so gut wie nie.

Also während Gott bei uns im Denken wie im Sprechen im Nebulösen einer jenseitigen Welt zu verschwinden droht, sieht es bei Jesus ganz anders aus. Der konnte gar nicht anschaulich und konkret genug von Gott reden und ging damit vor allem unter die Leute, die sich Gott gegenüber auf verlorenem Posten sahen und sich entsprechend eingerichtet hatten. Ihnen sagte er unumwunden: Gott hätte seinen Beruf verfehlt, wenn er euch auf verlorenem Posten ließe, und Gott wäre ärmer, wenn er euch nicht hätte und sich nicht mit jedem einzelnen von euch schmücken könnte. Darum werden hier auch keine Moralpredigten gehalten; das Schaf bekommt weder Prügel noch Schelte, sondern erleichterte Freude und Jubel beherrschen die Szene und es wird fröhlich gefeiert.

Und zu uns, die wir uns in unserem Christsein oft genug verloren und armselig vorkommen, sagt Jesus ebenso wie damals zu denen, die sich schon aufgegeben hatten: Gott wird nicht ruhen noch rasten, bevor er dich gefunden und nach Hause gebracht hat. Und er wird mit dem Suchen nicht aufhören, bevor er dich nicht aus der dunklen Ritze hervorgeholt hat. Und wie er sich freuen wird, wenn du im Licht der Sonne an zu strahlen fängst und jedermann sehen kann, was du wert und was für ein Schatz du bist.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Superintendent i.R. Rudolf Rengstorf

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mit stehen Leserinnen und Leser vor Augen, die zum Sonntag eine Predigt lesen wollen, zumal die Teilnahme an einem Gottesdienst in der Kirche nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist.
Ich denke aber auch an Kolleginnen und Kollegen, die noch auf der Suche nach Ideen für ihre Sonntagspredigt sind.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Anschaulichkeit, mit der Jesus von Gott zu reden wagt. In einem Umfeld, aus dem Gott längst verschwunden zu sein scheint.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gott von Jesus redet, als sei er ein Mensch auf der rastlosen Suche nach Verlorenem und erleichterter Freude beim Finden. Und das ausgerechnet beim Suchen und Finden von Leuten, bei denen sonst niemand etwas sucht oder vermisst.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Einige Straffungen und Klarheit darüber, wie die Transzendenz Gott zum Verschwinden bringt.

 

Perikope
20.06.2021
15,1-10