Was gut ist - Predigt zu Micha 6, 6-8 von Martin Schmid
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Was gut ist - Predigt zu Micha 6, 6-8 von Martin Schmid

Was gut ist
„Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?“ – „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlichdas Recht wahren, die Treue lieben und demütig wandeln vor Gott.“
Liebe Gemeinde!
Wir werden geprüft. Prüfende Blicke in der Straßenbahn, prüfende Blicke im Büro, prüfende Blicke in der Schule, beim Einkaufen, beim Sport, prüfende Blicke erst recht beim Arzt, vielleicht auch in der Kirche. Für viele bedeutet jeder Tag eine Prüfung. Und jeder Tag will bestanden sein. Denn wir möchten’s ja bringen. Die Angst ist groß, wir könnten es nicht schaffen, und es hieße von uns: er bringt es nicht mehr oder: sie ist überfordert.
Es ist uns bisweilen, als müssten wir vor einer Jury erscheinen. Sie bewertet uns und entscheidet, ob uns Einlass gewährt wird in eine erfreuliche Zukunft. Ein Leben unter den Augen dieser Jury ist anstrengend. Ich arbeite dann an meinem Outfit und Auftreten. Ich versuche, Aktivitäten nachzuweisen und meine noch immer sprudelnde Lebendigkeit unter Beweis zu stellen. Ich knausere mit meiner Zeit und verbiete es mir, unbeschwert in den Tag hinein zu leben. Unter dem strengen Blick der Jury sind viele zu Opfern bereit. Und manchmal übertreiben wir dabei gewaltig.
Ein ähnliches Lebensgefühl kannte auch der Prophet Micha. Es ist, so schreibt er, als müsse man leben vor den Schranken eines Gerichts. Als sei man angeklagt, Unrecht getan zu haben, und man müsse nun der vorwurfsvollen Frage des Klägers standhalten: Was habe ich dir getan? Und Gott selbst wäre es, der gegen uns klagt. – Auch hier überlegt der Befragte, welche Opfer er bringen muss: Womit soll ich mich dem Herrn nahen?  Soll ich Brandopfer auf den Altar legen, besonders wertvolle Kälber zum Beispiel oder viel tausend Widder? Soll ich Ströme von Öl vergießen oder mir gar das Liebste vom Herzen reißen, das eigene Kind? – Was wieder verwundert, sind die Übertreibungen. Als würde vom Menschen vor diesem Gericht das Menschenunmögliche verlangt. Es könnte freilich sein, dass es – gerade auch beim Opferbringen – eine Versuchung gibt, das Maß zu verlieren. Als könne einer gerade dies, dass er etwas opfert, zu seiner Selbstdarstellung benützen. So jemand setzt sich selbst unter Druck und ebenso seine Mitmenschen, und seine Familie wird unter Belastungen leiden. Die Versuchung, maßlos zu werden in der Selbstdarstellung findet sich aber nicht nur bei einzelnen Menschen, sondern auch bei Gemeinschaften, bei Städten, Ländern, auch bei Kirchen, nicht bloß in Limburg. Man könnte diese Versuchung babylonisch nennen. Denn es gab einst nicht nur den babylonischen Turmbau, sondern auch den babylonischen Mauerbau; um die antike Stadt Babylon wurde zur Zeit des Königs Nebukadnezar eine fünffache Mauer gelegt, eine mächtiger als die andere. So hielt man es für gut. Es war aber nur maßlos.
Die Maßlosigkeit, die mit einer Trübung der Wahrnehmung einhergeht, erinnert an eine bestimmte Erkrankung des Auges. Sie befällt den Augenhintergrund. Die dort befindlichen und krankhaft veränderten Blutgefäße erscheinen dann auf einmal im Blickfeld. Der Blick wird getrübt; man sieht Balken oder Flugapparate. Diese Krankheit kann zum Glück behandelt werden. Und um Abhilfe gegen eine bestimmte Trübung des Blicks geht es auch dem Propheten Micha. Offenbar geht er davon aus, dass auch in diesem Fall angesetzt werden muss bei dem Hintergrund, vor dem wir uns sehen. Wir sehen nicht klar, solange der Hintergrund unserer Seele besetzt ist durch Bilder und Vorstellungen, die von uns fordern, es unbedingt bringen zu müssen. Der Prophet Micha fängt damit an, unsere Verkrampfung zu lösen, indem er eine Erinnerung in uns wachruft: „Es ist dir gesagt, Mensch“. Und er meint damit: es wurde dir, Mensch, doch erzählt! Auf das Stichwort „erzählen“ hin, öffnet sich nun auf einmal der enge Gerichtssaal, und auch die Tische der Jury weichen zurück. Der Blick geht weit hinaus. Man sieht über die Wellen eines Meeres. Der Himmel ist dunkel, das Meer wirkt bedrohlich. Doch dann werden die Wellen plötzlich geteilt, und es zeigt sich ein Weg, mitten durchs Wasser. Viele ziehen hindurch.
So und so ähnlich hat man sich in Israel einst erzählt. Auch wir haben es oft gehört. Doch nun sollen wir es auch gelten lassen. Wir sollen geschehen lassen, dass es der Hintergrund wird, vor dem wir leben. Es will sich einsenken in unsere Seele. Es will uns frei machen von unserer Neigung zur Maßlosigkeit, damit wir Freude bekommen an einer Haltung der Menschlichkeit. Denn der Satz „es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist“, lässt sich beinahe umkehren: „es ist für dich gut, wenn du Mensch bist“.
Die Gottesgeschichten der Bibel möchten uns dazu helfen, auf die Herausforderungen des Lebens eine menschliche Antwort zu geben. Da fällt es zu allererst auf, wie knapp der Prophet Micha sich fasst. Er nennt keine tausend Dinge, die nun zu tun und zu beachten wären, sondern nur drei. Und der Mensch, den er anspricht, wird am Ende nicht dastehen wie eine ummauerte Stadt, sondern wird einem wohnlichen Haus gleichen mit Fenstern und Türen. Das Gute nämlich, das bei ihm nun anfängt zu wachsen, ist eine dreifache Öffnung: die Öffnung zum Recht und die Öffnung zum Nächsten und die Öffnung zu Gott. Oder mit den Worten der Bibel gesprochen: das Recht wahren, die Treue lieben und demütig wandeln vor Gott.
   
Unter dem Einfluss der Gottesgeschichten wächst etwas so unspektakulär Normales wie die Bereitschaft, das Recht zu wahren. Damit verbunden ist der Verzicht auf jeden anderen Schutz, den Reichtum, Einfluss und Ressourcen gewähren könnten. Denn wer das Recht wahrt, hört damit auf, sich auf andere als rechtliche Weise behaupten zu wollen. Also keine Absprachen hinter vorgehaltener Hand, kein Schmieren und Salben, keine Bevorzugung von Vettern und Freunden, keine Privilegien zum Nachteil von andern. Mancher mag sich da schutzlos vorkommen.
Unter dem Einfluss der Gottesgeschichten wächst auch die Liebe, seinen Mitmenschen treu zu sein. Diese Liebe ergänzt die Wahrung des Rechts. Sie verhindert das Missverständnis, es handele sich dabei um ein Herumreiten auf Paragraphen. Diese Liebe ist kreativ und flexibel. Sie sucht nach Lösungen. Und statt den Schlüssel umzudrehen und das Schild „geschlossen“ vor die Tür zu hängen, kommt sie dem Nächsten entgegen und hilft ihm, Gehör zu finden.
Unter dem Einfluss der Gottesgeschichten wächst schließlich eine sehr menschliche Demut. Denn der Mensch sieht sich nun nicht mehr ummauert, sondern auf dem Weg. So wie alle anderen auch. Da stellt er sich nicht über den Mitmenschen und versucht auch nicht länger zu verbergen, wie gefährdet er eigentlich ist. Er hat nicht vergessen, dass er nackt auf die Welt kam und dass er mit leeren Händen von hier auch wieder weggeht. Sein einzig wirklicher Schutz, seine einzig haltbare Umhüllung, sein wahres Gut, das ihm nicht genommen werden kann und ihn die Prüfungen des Lebens bestehen lässt, ist Gott – genauer: das, was ihm von Gott erzählt wird.
Aber wie wird er am Ende dastehen, dieser Mensch, der sich von Gottesgeschichten leiten lässt? Wird er sich nicht arm vorkommen? Er wird wohl ein bisschen ähnlich werden jenem Jakob, den die Bibel uns schildert. Jakob hatte seinen Bruder betrogen. Den Segen des Vaters, der diesem Bruder, Esau, gegolten hätte, hatte er listig umgelenkt. Nun war Jakob gesegnet worden, Esau war leer ausgegangen. Jakob floh darauf vor Esaus Zorn. Nach Jahren kam er wieder zurück mit Frauen, Kindern, Tieren, reich geworden, aber in Sorge wegen der Zukunft. Er stand am Ufer des Grenzflusses, hinter dem die Welt Esaus begann. Und Jakob sah ihn schon vor sich, sah schon sein von Wut und Enttäuschung zur Fratze verzerrtes Gesicht und hörte nun auch von Boten, Esau ziehe ihm entgegen mit vierhundert Mann. Da kam ihm ein Gedanke, der uns jetzt geradezu babylonisch vorkommt. Er teilte seinen großen Besitz auf in mehrere Herden. Die schickte er vor sich her, zweihundert Ziegen und zwanzig Böcke, zweihundert Schafe und zwanzig Widder, eine Herde säugender Kamele mit ihren Füllen, eine Herde von Kühen und Stieren, eine Herde von Eselinnen und Eseln. Das würde helfen, dachte Jakob. Es würde die Gefahren abfedern, den Bruder versöhnen und das eigene Überleben sichern.
Die Rechnung ging aber nicht auf. Denn es kam die Nacht. Und als Jakob über den Fluss gehen wollte, wurde er von einem Gegner angegriffen, der ihm wie ein Dämon erschien, ein böser Geist mit drohender Fratze. Gegen den würde er nicht bestehen. Und weder die energiestrotzenden Stiere noch die belastbaren Kamele, nicht die ihre Kälber umringenden Rinder noch alle Schäflein oder geduldigen Esel würden es jetzt für ihn bringen. Schutzlos und wehrlos war Jakob dem ausgeliefert, was da über ihn kam. Nur eins blieb ihm, und daran hielt er sich fest. Es war die alte Geschichte vom Segen, die er nur allzu gut kannte. Sie sagte ihm, dass Gottes Segen auch auf solche kommt, die seiner gar nicht würdig sind. Indem er sich daran anklammerte, rief er aus: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Es war wie ein Wunder, aber das Geschick Jakobs wandte sich zum Guten. Der Dämon erwies sich als Engel, aus dem Kampf erwuchs Segen, und die Nacht wich dem Morgen. Die Sonne ging auf über Jakob, obwohl er nun hinkte.
  „Es wurde dir erzählt, Mensch, und nun weißt du, was gut ist. Nicht mehr als: das Recht wahren, die Treue lieben und demütig wandeln vor Gott.“ Oft wird er sich schwach vorkommen, dieser Mensch, und schutzlos ausgeliefert. Aber ein Mensch wird er bleiben, und ein Segen wird ihm aufhelfen und ein freundliches Morgenlicht ihn bescheinen. Wir fürchten uns Tag und Nacht davor, geprüft zu werden und nicht gut genug zu sein. Aber all Morgen zeigt sich frisch und neu, dass Gott uns gut ist. Amen.
Liedvorschlag: EG 440,1-4 All Morgen ist ganz frisch und neu