Was hindert es zu taufen? - Predigt zu Kol 2,12-15 von Bert Hitzegrad
2,12-15

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater und dem Herr Jesus Christus! Amen.

Liebe Gemeinde!

„Ist die Kleine schon getauft?“ Die ältere Dame im Zugabteil schaute von ihrer Lektüre auf. Lotte war unruhig geworden, Jan hatte die Windel überprüft und festgestellt, dass sie übervoll war. Er tauschte kurz die Blicke mit Nina, seiner Frau und Mutter von Lotte – und es war klar: Er war dran. Das musste  schnell hier im Abteil gehen. Im kleinen Koffer war alles für diesen Notfall dabei. Nur nicht die passenden Antworten auf die Fragen irgendwelcher Mitreisenden. „Sie meinen?“ „Na, ob die Kleine schon getauft ist? Sie trägt doch ein Kettchen mit einem Engel …. Als meine Kinder so klein waren, da durften wir bis zur Taufe das Haus nicht verlassen …! Es hätte ja was passieren können!“

Eigentlich war Jan jetzt zu sehr mit seinen väterlichen Pflichten beschäftigt, um auf den leisen Vorwurf einzugehen. Ja, Lotte hatte von Ninas Schwester eine Kette mit einem Engel bekommen. „Der soll Dich beim Start ins Leben beschützen“, hatte sie gesagt. „Denn so ein kleiner Mensch wie Du braucht ganz viel Schutz!“ Inzwischen hatte sich der Duft des Windelinhalts im Zugabteil ausgebreitet. Jan schaute entschuldigend zu seinem Gegenüber. Die winkte nur lächelnd ab. „Wer selbst fünf Kinder groß gemacht hat, der kennt das und freut sich, wenn die Kleinen mit trockener Windel wieder strahlen … Wenn’s immer so leicht wäre im Leben!“ Jan spürte: Sie bleibt dran an der Frage: Ist die Kleine schon getauft? „Nein, ist sie nicht!“, hätte er am liebsten trotzig gerufen. Aber dann hätte sich Nina sicherlich auch zu Wort gemeldet und ihre Position zum hundertsten Mal verteidigt: „Sie soll sich später selbst entscheiden!“

In Ninas Familie, die urspünglich aus der DDR kam, gibt es diese Tradition nicht, dass ein Kind gleich in den ersten Monaten seines  Lebens getauft wird … „Selbst entscheiden!“ Wofür wird Lotte sich entscheiden – für die Geschenke bei der Konfirmation oder das fehlende Geld für den Führerschein? Jan erinnert sich noch gut an die „ungetauften“ Mitkonfirmanden in seinem Jahrgang, wie es ihnen peinlich war, kurz vor der Konfirmation vor der ganzen Gemeinde getauft zu werden. Taufe – da schwingt doch Freude und Glück für das Leben mit  …

Er hätte Lotte gern getauft. In seiner Familie gibt es ein altes Taufkleid, in dem Kinder aus vier Generationen schon getauft wurden, auch sein Großvater. Das war kurz bevor sie sich 1944 mit dem Treck auf die Flucht von Ostpreußen in Richtung Westen gemacht haben. Das Kind war getauft. Ob die Last der Flucht und die Sorge um das Leben dadurch leichter waren?“ Bald würde Lotte das alte Taufkleid nicht mehr passen!

„Meine Kinder sind alle getauft, auch meine Enkel“ meldet sich die mitreisende Dame wieder zu Wort. „Jürgen hat sogar eine Nottaufe bekommen – er ist mit einem Herzfehler geboren, hat sich aber später zurecht gewachsen. Der ist ein kräftiger Kerl geworden!“ Ob das an der Taufe im Krankenhaus lag?

Lotte ist kerngesund. Sagen die Ärzte. Gut, die Koliken, so wie gerade eben, quälen sie immer wieder. Aber mit sechs Monaten sollte das bald vorbei sein. Auch die Zeit zum Taufen? Aber irgendetwas wird immer sein in ihrem Leben, das sie quält. Bei den Koliken liebt sie es, wenn sie ihr im Uhrzeigersinn über den Bauch streichen … Aber wie wird es sein, wenn der erste Liebeskummer kommt, die Erfahrung, dass Menschen auch unehrlich sein können, die Angst vor der Klimakatastrophe, Kriege, die diese Welt erschüttern … ob ihr da der kleine Engel an dem goldenen Kettchen hilft und über den Kopf streicht? Oder müsste da nicht einer kommen, der im Leben und im Sterben etwas mehr stemmen kann?

„Nein, Lotte ist noch nicht getauft! Wir haben noch keinen Termin gefunden!“ Gut, das war nur die halbe Wahrheit. Nina straft Jan sofort mit ihren Blicken. Für sie ist der Gang in die Kirche nicht so wichtig. Sie sagt: „Wenn es einen Gott gibt, dann braucht er keine Häuser, in denen er wohnt, dann ist er hier bei uns, jetzt und überall …“ Sie hat recht, aber Jan hätte das gern an diesem besonderen Ort noch einmal gehört – besonders, weil er in der Kirche auch getauft und konfirmiert wurde. Er mag sie, die Worte Jesu aus dem Taufbefehl: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“

„Jan, du weißt ganz genau, dass es nicht nur am Termin bisher lag, sondern auch an  den Paten. Wir hatten zwei gute Freunde ausgesucht und meine Schwester. Alle haben uns mitgeteilt, dass sie nicht mehr Kirchenmitglieder sind. Also: Dieses Kapitel ist beendet – Lotte wird sich später allein entscheiden können, ohne dass wir ihr etwas aufzwängen. Und Engel auf ihrem Weg sind die drei auch ohne Patenschein …“

„Aber es fehlen nicht nur die Patenscheine, Schatz, es fehlt auch ein schönes Willkommensfest!“ Nina mochte es gar nicht, wenn Jan sie „Schatz“ nannte. Sie mochte weder das Kosewort noch die Diskussion, die durch die ältere Dame, die mit im Abteil saß, wieder angefacht wurde. „Die Feier hat uns vor allem Corona genommen – wir durften ja nur mit 10 Personen zusammen kommen“, entgegnete Nina. „Das hätte nicht für die ganze Familie gereicht … und so bleiben Lotte auch die Familienfotos mit Mund-Nase-Schutz erspart, die an diese unselige Zeit erinnern“, spottet Nina.

„Ja, gerade deshalb ist mir die Taufe wichtig, um ein Zeichen zu setzen für Lotte, gerade in diesen so belasteten Zeiten – ein Zeichen für den Segen, den Gott gibt, auch und gerade in schweren Zeiten, ein Zeichen des Schutzes, mit denen Gott Lotte und uns alle spüren lässt: Ich bin bei Dir …“

„Du meinst wie eine Impfung gegen Corona oder Masern, und dann gehen alle bösen Mächte auf Abstand?“ Alle im Abteil spürten, dass Nina nun doch noch einmal unsicher wurde. Lotte gluckste vor sich hin. Die neue Windel tat ihr gut, die Diskussion, ob Taufe Ja oder Nein, ging an ihr vorbei. Sie war glücklich, zumindest jetzt im Augenblick.

Jan nahm den Gedanken von der Impfung auf. „Natürlich gibt es weder beim Impfen noch bei der Taufe 100-prozentige Sicherheit. Aber die Krankheitsverläufe und die Symptome sind mit einer Impfung meistens geringer … Mit der Taufe wird sozusagen die Widerstandskraft gegen all die negativen  Kräfte, Mächte und Gewalten gestärkt. Das wollen wir doch für unser Kind …!?“

„Als mein Mann damals starb“, meldet sich nun deutlich leiser und nachdenklicher in der Stimme die Reisebegleitung zu Wort, „Jürgen war erst 12 und noch nicht konfirmiert. Sie können sich vorstellen, wie es mir und den Kindern ging ... Der Pastor kam zu uns nach Hause, er war noch ganz jung, hatte gerade mit dem Dienst in unserer Gemeinde begonnen. Er wirkte ziemlich hilflos – eine Mutter mit fünf Kindern, ohne Mann, ohne Vater …!“  Nina hob den Blick von ihrer Zeitschrift, in der sie eher lustlos geblättert hatte. Sie betrachtete zum ersten Mal die Dame, mit der sie schon eine ganze Weile das Abteil teilte, etwas näher. ‚Eine schreckliche Vorstellung‘, dachte sie. ‚Allein mit fünf Kindern … Ich fühle mich schon mit Lotte oft überfordert, wenn Jan tagsüber im Büro ist und ich mich allein um meine Tochter kümmern muss. Aber fünf …‘ „Und was hat der Pastor gesagt?“, fragte sie. Man spürte, dass ihr das Thema nahe ging. „Der Pastor hat wenig gesagt. Er war überfordert – wie wir alle. Wir haben uns alle lange angeschwiegen, bis Jürgen sagte: ,Der Vati ist bei Gott und Gott ist bei uns, also ist Vati auch immer noch bei uns.‘ Sein einfacher Kinderglaube hat uns damals  viel Mut gemacht. Im Konfirmandenunterricht hatten sie gerade über die Taufe gesprochen. Sie sollten alles über ihre eigene Taufe aufschreiben – Datum, Paten, Taufspruch. Seinen Taufspruch hatte er sich gemerkt: „Lass dich durch nichts erschrecken und verliere nie den Mut, denn ich, der Herr, dein Gott bin bei dir, wohin du auch  gehst!“ (Jos 1,9b) Wir waren uns gleich einig, das ist auch der richtige Vers für die Trauerfeier. Gott ist und bleibt bei uns, das gibt uns Mut auch in den schweren Tagen.“

Es blieb lange still im Zugabteil. Betroffene Stille. Nur Lotte quasselte in einer Tour vor sich hin. Wie werden ihre Lebenswege verlaufen? Welche Schicksalsschläge muss sie verkraften und was und wer wird ihr dabei helfen? Nina schloss die Augen und hatte die aktuellen Bilder von Krieg und Flucht vor Augen, Überschwemmungen, tote Fische in verschmutzten Gewässern. In ihren Gedanken war sie plötzlich auf einem Friedhof. Ihr Blick fiel auf einen Grabstein. Nina machte schnell die Augen wieder auf. Was kommt auf sie zu? Und was wird Lotte Mut und Kraft geben, die Hoffnung zu bewahren und Dinge zu ändern, die sich ändern müssen? Jetzt trafen sich ihre Blicke, Lottes Augen strahlten. „Jan, haben wir eigentlich Gott schon gedankt für das Geschenk, das er uns gemacht hat? Ich bin mir sicher: So viel Wunderbares ist kein Zufall, sondern da meint es jemand gut mit uns. Das habe ich mit dem ersten Ultraschallbild gespürt. Bei all den schlechten Nachrichten – das war die beste für uns!“
War es Zufall oder nicht? Lotte lachte laut auf, als ein Zug am Fenster vorbeirauschte. Jan schüttelte den Kopf. „Die Tage sind so voll, das Leben rast an einem nur so vorbei und plötzlich ist sie groß, unsere kleine Lotte! Nina, wir sollten noch einmal über einen Tauftermin nachdenken. Trotz Corona ist ja vieles wieder möglich …“

Über den Lautsprecher im Abteil wurde knarrend und rauschend der nächste Stopp angesagt. Die Reisebegleiterin, die zu dem angeregten Gespräch zum alten Streitpunkt mit neuer Wendung beigetragen hatte, stand auf. Jan wollte ihr bei dem Gepäck helfen. „Lassen sie mal – ich reise, seitdem ich allein bin, nur noch mit leichtem Gepäck, auch wenn die Gedanken schwer sind, aber ich habe immer noch die Worte „Verliere nie den Mut!“ im Ohr. „Kümmern Sie sich gut um ihre kleine Familie!“ „Und“, sagte sie augenzwinkernd zu Nina, „ich hoffe, das wird was mit dem Tauftermin!“ Zum Abschied wendet sie sich noch einmal Lotte zu: „Sie ist entzückend! Ich wünsche ihr immer einen Engel an ihrer Seite“, und streichelt liebevoll über den kleinen Anhänger. Dann hält der Zug, sie steigt aus und ist fort. Nina und Jan schauen sich fragend: „Du, Jan, wie sehen eigentlich Engel aus?“

 

Liebe Gemeinde!

Der heutige Sonntag trägt einen komplizierten wie schönen Namen: Quasimodogeniti. Aus dem Lateinischen übersetzt: „Wie die neugeborenen Kinder“ (1. Ptr2,2). Gemeint ist: Wie die neugeborenen Kinder nach Milch, so sollen Christen nach dem Heil in Christus verlangen. In der Taufe werden wir mit Christus verbunden, haben Teil an seinem Tod und Auferstehen. Das wurde in der frühen Christenheit auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Taufen in der Regel in der Osternacht stattfanden. Die Täuflinge trugen dazu weiße Gewänder, die an dem Sonntag nach Ostern noch einmal getragen wurden. Deshalb heißt dieser Sonntag auch „weißer Sonntag“: In den Gottesdiensten wurde noch einmal erklärt, was die Taufe für jeden einzelnen bedeutet. Vielleicht gehören die Verse aus dem heutigen Predigttext, aufgeschrieben im Kolosserbrief, zu solch einer Unterweisung:

12 Mit ihm – Christus - seid ihr begraben worden durch die Taufe; mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten.
13 Und er hat euch mit ihm lebendig gemacht, die ihr tot wart in den Sünden und in der Unbeschnittenheit eures Fleisches, und hat uns vergeben alle Sünden.

14 Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war, und hat ihn weggetan und an das Kreuz geheftet.
15 Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht in Christus.

Begraben und auferstanden mit Christus, tot in der Sünde, lebendig in Christus, den Schuldbrief ans Kreuz geheftet …  die theologische Bestimmung der Taufe im Kolosserbrief ist katechetisches Schwarzbrot und weniger die liebliche Milch, nach der die neugeboren Kinder verlangen.

Ob es das ist, was heute bei der Taufe eines Kindes im Mittelpunkt steht? Ist es das, was Nina und Jan für ihre Tochter suchen? Oder sind es ganz andere Fragen, die sich junge Eltern stellen? Oft geht es um ganz praktische Dinge – wie z.B. die Frage, wer von den möglichen Paten denn noch Kirchenmitglied ist. Oder ob das Kind noch in das Taufkleid der Familie passt.

Und als Antwort auf die Frage, warum sie ihr Kind taufen lassen wollen, muss die Antwort reichen: „Wir sind auch getauft …“ Denn letztendlich verbindet die Christen der frühen Kirche und die Eltern einer Volkskirche im 21. Jahrhundert nach und mit Christus die eine Sehnsucht, dass Christus triumphiert über Mächte und Gewalten oder wie Dietrich Bonhoeffer es formuliert: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag, Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ (EG 65) Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Bert Hitzegrad

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
An diesem „Weißen Sonntag“, der  an die Taufpraxis der alten Kirche erinnert, stehen mir junge Familien vor Augen, die die Frage bewegt, ob sie ihre Kinder taufen lassen sollen: ja oder nein. Ich frage mich, welche Sehnsucht sie mit der Taufe verbinden und welche Hindernisse sie überwinden müssen – und ob die theologische Begründung der Taufe letztendlich ausschlaggebend für die Entscheidung ist.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Als Einleitung und Hinführung zum Predigttext wollte ich eine kurze Szene beschreiben: In einem Zugabteil kommt es zu einem Gespräch über Sinn und Zweck der Taufe eines Kindes. Die Szene zu beschreiben hat so viel Spaß gemacht, dass ich fast bis zum Ende der Predigt die Einleitung „verlängert“ habe und der Predigttext so ganz ans Ende der Predigt gerutscht ist.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich habe mich bei der Beschäftigung mit dem Text, der für mich „katechetisches Schwarzbrot“ ist, gefragt, wie wohl Eltern oder Paten ihn verstehen, die ein Kind taufen lassen wollen. Ich vermute, es sind ganz andere Fragen, die sie bewegen, ganz praktische: Passt das Taufkleid, wer wird Pate, wer ist noch in der Kirche und wie kann man unter Corona-Bedingungen ein Familienfest feiern?

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Für mich war der Hinweis sehr hilfreich, dass das Predigtende zu offen ist. Nun ist es ohnehin schwierig von der Erzählstruktur zur Predigtstruktur zu kommen. Ein Bruch ist dort unvermeidlich. Ich habe versucht, nach dem Coaching nicht bei den offenen Fragen ohne Antwort stehen zu bleiben, sondern das verbindende Element herauszuarbeiten: Gottes gute Mächte.

Perikope
24.04.2022
2,12-15