Was macht Vergebung - Predigt zu 1. Kor 6, 9-14 von Dr. Frank Hiddemann
6, 9-14

Die Gnade Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

 

1. Ist Vergebung spürbar?

Liebe Gemeinde!

Woran merken Sie eigentlich, dass Ihnen die Sünden vergeben sind?

Können Sie das spüren? Oder kann ich es beobachten? Oder wissen Sie es nur, ohne dass es eine größere Auswirkung auf ihr Leben hat?

Ich vermute, die meisten von uns würden - wenn sie eine längere Zeit darüber nachgedacht hätten -, auf ein Gefühl stoßen. Vielleicht ein Gefühl wie nach einer langen Trauer, wenn einer plötzlich wieder lachen kann, ein Gefühl der Erleichterung. - Ich vermute, Sie würden nicht antworten: Es ist so, wie bei einer Magen- und Darmgrippe. Man muss sich übergeben, übergeben, übergeben - und irgendwann weiß man: Es ist alles raus! - Und ich vermute, es ist bei Ihnen auch nicht so wie bei unseren Freunden den Katholiken, die vielleicht sagen würden: Erst wenn ich die Sünde wieder gutgemacht habe, und im Fall, dass sie nicht anders wieder gut gemacht werden kann: wenn ich eine Reihe von Gebeten gesprochen habe, ist die Sünde vergeben.

 

2. Eine chassidische Geschichte

Wollen Sie wissen, wie ich auf diese nahe liegende, aber doch selten gestellte Frage stieß? Ich las eine Geschichte, die Martin Buber aus dem chassidischen Judentum erzählt. Vor mehr als 100 Jahren gab es in den Landschaften des heutigen Polens und der Ukraine eine blühende jüdische Religionskultur, in der es inspirierte Gemeinden und vor allem auch sehr weise, manchmal sogar wundertätige Rabbiner gab. Anfang des 19. Jahrhunderts lebte dort Rabbi Simcha Bunam von Pzysha, von dem folgende Geschichte erzählt wird.

Zweite Stimme

Das Zeichen der Vergebung

"Woran erkennen wir wohl", fragte Rabbi Bunam seine Schüler, "in diesem Zeitalter ohne Propheten, wann uns eine Sünde vergeben ist?" Die Schüler gaben mancherlei Antwort, aber keine gefiel dem Rabbi. "Wir erkennen es", sagte er, "daran, dass wir die Sünde nicht mehr tun.“[1]

Auch den Schülern des Rabbi Bunan fällt die Antwort auf diese Frage schwer. So wie den meisten von uns. Dass die Frage heikel ist, merken wir schon an der Art, wie Rabbi Bunam sie stellt: Sie gilt nur für die Zeit ohne Propheten. Hätten wir unter uns solche, wäre die Sache klar. Sie würden uns als Gottes Stimme unsere Sünden verkünden und was wir tun müssten, um diese hinter uns zu lassen. Nur ohne Propheten sind wir auf uns selbst verwiesen. Und da kommt die Antwort so, dass sie allen Propheten gefallen würde: Vergebung der Sünde heißt:

Die Sünde nicht mehr tun.

Vergebung heißt:

Die Sünde nicht mehr tun müssen.

 

3. ALLES IST ERLAUBT!

Sieht unser Predigttext das anders? Er sagt: "Alles ist erlaubt!" Aber was heißt das? Hören wir zunächst genau hin! N.N. liest uns aus dem 6. Kapitel des 1. Korintherbriefs:

Zweite Stimme

Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht ererben werden? Irret euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habsüchtige, noch Trunkenbolde, noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und das sind euer etliche gewesen. Aber ihr habt euch in der Taufe abwaschen lassen, ja, ihr seid geheiligt worden, ja, ihr seid gerecht gesprochen worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unsres Gottes. Alles ist mir erlaubt; aber nicht alles ist heilsam. Alles ist mir erlaubt, aber ich darf mich von nichts beherrschen lassen. Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst angehört? Denn ihr seid teuer erkauft worden; so verherrlichet nun Gott mit eurem Leibe![2]

4. Wir lästern nicht

Unser Text enthält zuerst einen so genannten Lasterkatalog. Unzüchtige, Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Habsüchtige, Trunkenbolde, Lästerer, Räuber. - Katalog - das klingt ein bisschen nach Versandhaus, als ob man sich was aussuchen könnte. Und tatsächlich ist es wohl auch so gemeint. Irgendwo soll sich jeder von uns wiedererkennen. - Wo würden Sie sich selbst einordnen? Wenn Sie gar nichts finden, baue ich Ihnen eine Brücke. Neulich las ich im Internet:

Zweite Stimme

Wir lästern nicht. Wir beobachten, analysieren und bewerten.

Wir neigen in der Regel dazu, unser Verhalten eher in einem Tugendkatalog zu suchen als in einem Lasterkatalog. Paulus Aufzählung spekuliert damit, dass seine Zuhörer beginnen zu überlegen, was vielleicht auf sie selbst zutreffen könnte.

Zweite Stimme

Und das sind euer etliche gewesen.

Was übrigens alle diese Sünden gemein haben, in größerer oder kleinerer Ausprägung, ist dies: Es sind alles Taten von Menschen, die nicht bei sich selbst bleiben können und dabei andere entehren oder verletzen. Gier nach den Körpern anderer Menschen, Gier nach ihrem Hab und Gut, die Sucht, über sie herzuziehen, die Sucht sich selbst auszuschalten, im Alkohol oder sogar im Verkauf des eigenen Körpers. Sich berauben oder andere berauben. Was Paulus hier als die Sünden der Vergangenheit aufzählt, ist eigentlich nur eine einzige Sünde: Über die eigenen Grenzen gehen. Und dabei sich oder andere verletzen. Meistens passiert beides.

 

5. Wir sind Ausbalancierte

Und so ist Paulus' seelsorgerlicher Rat zu verstehen. Er versucht nicht die Laster seines Lasterkatalogs bei seiner Gemeinde auszumerzen, als sei das eine Sache des Willens oder der Anstrengung. Sie sind Getaufte. Sie sind Gekaufte. Sie sind solche, die Christus gehören, der teuer für sie bezahlt hat, nämlich mit seinem eigenen Leben. Anders gesagt: sie sind Zentrierte, Balancierte, Austarierte, solche, die bei sich bleiben können. Solche, die das große gierige Ausschwingen zu den Gütern und Körpern der anderen nicht mehr brauchen. Jedenfalls eigentlich nicht mehr brauchen. Wie schnell sich das vergisst, wissen wir ja wahrscheinlich alle. Aber wer sich erinnert, der weiß es wieder: Ich darf mich nicht beherrschen lassen!

Zweite Stimme

Alles ist mir erlaubt; aber nicht alles ist heilsam. Alles ist mir erlaubt, aber ich darf mich von nichts beherrschen lassen.

 

6. In der Mitte des Tempels wohnt Gott

Das Schlussbild vom Tempel unseres Leibes wiederholt diesen Gedanken nur mit einem anderen Bild. Tragischer Weise stellt man sich unter einem Tempel oder eine Kirche immer einen Ort vor, der sehr steif ist und in dem man sich benehmen muss. Wenn wir hier Kita-Gottesdienst haben, zischen die Erzieherinnen immer den Kindern Sätze zu wie: "Phil, nimm dein Basecap ab!" Und: "Hier gelten die Kirchen-Regeln! Das heißt: Mund zu!" Da kann der Gottesdienst noch so bunt und fröhlich sein, die Haupt-Botschaft sendet der Benimm-Code.

Und in südlichen Ländern erzählt man sich, müssen Frauen ihre nackten Armen bedecken, wenn sie in eine Kirche wollen. Kirchenwächter stehen am Portal und mustern jeden Besucher und vor allem die Besucherinnen. Sie suchen nackte Haut, die bedeckt werden soll. Unbefangenheit ist nicht erwünscht. Es gelten die Kirchen-Regeln!

Wenn wir uns solche Bilder aufrufen, wenn wir an eine Kirche oder einen Tempel denken, scheint der Körper als Tempel des Heiligen Geistes ein sehr unangenehmer und steifer Ort zu sein. Das antike Bild des Tempels meint aber nur: Es ist die Wohnung Gottes. Gott wohnt in der Mitte des Tempels. Und wenn Gott in unserer Mitte wohnt, erübrigt sich eben das Ausschwingen und Ausgreifen nach dem Leben anderer, die verzweifelten Versuche, unser Leben durch Raub und Selbstweggabe zu intensivieren.

In klassischen Zeiten baute man gern griechische Tempelchen nach. Sie standen in Parks, gerne auf leichten Anhöhen. Ein paar Säulen trugen ein Baldachin artiges Dach. Darin eine Figur oder auch manchmal Leere. Ein luftiges Haus, nach allen Seiten offen. So stelle ich mir auch gerne Menschen vor, in denen Gott wohnt. Eigentlich mehr ein Teil der Landschaft, als ein Bunker gegen das Außen. Vielleicht entsteht die Offenheit des Gebäudes sogar, indem Gott in seiner Mitte wohnt und Angst und Schutzbedürfnisse überflüssig macht. Ist es Zufall, dass gerade die luftige Variante Gottes, sein Geist, in unseren Körpertempeln wohnen soll?

 

7. Wann geht die Sünde

Woran merken Sie eigentlich, dass Ihnen die Sünden vergeben sind? Wenn Sie spüren, dass es in Ihrer Mitte ruhig ist und sie keinerlei Bedürfnis verspüren, auszuschweifen. Wenn Sie der Meinung sind, ich kann so bleiben, wie ich bin. Wenn Sie merken, Gott wohnt in mir - und das ist genug. Oder wie sagte es Rabbi Bunam?

Zweite Stimme

Woran erkennen wir wohl (...) wann uns eine Sünde vergeben ist?" "Wir erkennen es (...) daran, dass wir die Sünde nicht mehr tun.

Amen.

Und der Friede Gottes, der weiter ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus

 

[1] Martin Buber. Die Erzählungen der Chassidim. Zürich: Manesse, 1987. S. 751.

[2] 1. Kor 6, 9-12, 19f. nach der Zürcher Bibel von 1942.

Perikope
22.07.2018
6, 9-14