„Wat haste jemacht mit dein Leben?“ – Predigt zu Römer 14,10-13 von Walter Meyer-Roscher
14,10-13

Liebe Gemeinde,
„Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.“ So hat vor kurzem ein Staatspräsident sich der parlamentarischen Opposition seiner Regierung zu entledigen versucht. Eine große Menschenmenge hat begeistert diese Aufforderung bejubelt.

Wir haben es mit Fassungslosigkeit gesehen und gehört. Das kann doch eigentlich keine Gesellschaft hinnehmen, in der alle ein Recht auf Gleichbehandlung haben. Da beginnt ein gefährlicher Weg der Ausgrenzung, der jede Gesellschaft spaltet und ein solidarisches Zusammenleben unmöglich macht.

Politische Verurteilungen und Ausgrenzungen Andersdenkender kennen wir durchaus auch bei uns. Sie finden sogar Eingang in Parteiprogramme und werden auf Parteitagen schonungslos ausgesprochen. Das macht uns Angst.

„Nehmt sie und richtet über sie!“ Der Nährboden für solche Aufforderungen, für ihre oft begeisterte Aufnahme und ein entsprechendes kompromissloses Denken und Handeln ist groß. Er findet sich in vielen Bereichen unseres Lebens und unseres privaten, auch gesellschaftlichen Zusammenlebens.

So neu ist das offenbar ja nicht. „Warum richtest du deinen Bruder?“, fragt schon Paulus in seinem Brief an die junge christliche Gemeinde in Rom.

„Nehmt sie und richtet über sie!“ Ein breites Fernsehpublikum wartet darauf. In meiner Tageszeitung las ich vor kurzem auf der Medienseite, dass die sogenannten Reality Shows, deren Menge auf allen Fernsehkanälen zunimmt, nach folgendem Grundprinzip funktionieren: „schlichter Kandidat dient als Lästeropfer, über das sich die Zuschauer erheben können“. Die Sender sind sich einer hohen Einschaltquote sicher.

Gleichzeitig twittert sich eine heranwachsende Generation durch die sogenannten sozialen Medien. Und da nimmt das gegenseitige Richten und Abqualifizieren beängstigend zu. Man verfolgt Andersdenkende, aber auch Versager, Menschen, deren Fehler man in der medialen Öffentlichkeit anprangern kann und die sich nicht wehren können gegen Häme und verletzenden Beleidigungen.

Wieder fragt Paulus: „Und du, was verachtest du deinen Bruder?

Sich über andere erhaben zu fühlen und sie auf vielerlei Weise herabsetzen zu können, hat schon immer Menschen angezogen. Warum tut ihr das, fragt schon damals Paulus. Warum richtet und verachtet ihr eure Mitmenschen? Er legt den Finger auf eine schon immer brennende Wunde: Das ist doch nichts weiter als der ständige Versuch, euch selbst zu rechtfertigen, indem ihr euren wachsamen, kritischen Blick zuerst auf die Menschen neben euch richtet. Verschließt doch nicht die Augen vor der Tatsache, dass jeder Mensch über sein eigenes Denken und Handeln Rechenschaft ablegen muss. Warum denkt ihr nicht zuerst an Gott, euren Gott und den aller eurer Mitmenschen? Vor seinem Richterstuhl werden wir alle stehen, ruft Paulus in Erinnerung. „So wird nun jeder von uns für sich selbst Rechenschaft geben.

In Carl Zuckmayers Theaterstück „Der Hauptmann von Köpenick“ erinnert sich der Berliner Schuster Wilhelm Voigt, dass auch er als von der Gesellschaft immer wieder Abgeschobener und Ausgegrenzter einer letzten Instanz gegenüber Rechenschaft schuldig ist. In seiner Berliner Mundart drückt er das so aus: „Denn stehste vor Gott, dem Vater, der allens jeweckt hat, vor dem stehste denn, und der fragt dir ins Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben?“ Die Antwort wird so unbefriedigend ausfallen, weiß Voigt, dass Gott sagt: „Dafür ha ick dir det Leben nich jeschenkt […] wo is et? Was haste mit jemacht?“

Sagt Gott nun auch, wie wir es in unserem politischen und sozialen Umfeld immer wieder hören: Abschiebung, Ausgrenzung?

Wilhelm Voigt will Gottes Frage nicht als höchstinstanzliche Aburteilung verstehen. Er will sie vielmehr als eine eindringliche Mahnung hören. „Ick wer noch was machen mit mein Leben“, nimmt er sich vor. Ob es ihm gelingt, haben dann – Gott sei Dank – nicht Menschen zu beurteilen. Gott richtet. Er richtet uns auf ihn hin aus. Darin liegt doch eine große Hoffnung, dass wir den Blick auf Gott lenken und daher den Willen und die Kraft nehmen können, unser Leben verantwortungsvoll zu gestalten.

In meinem griechischen Neuen Testament lese ich, dass einige alte Handschriften den Hinweis des Paulus auf den Richterstuhl Gottes durch das Bild vom Richterstuhl Christi ersetzen. Aus seinem Mund kommt in vielen mittelalterlichen Bildern zwar das Schwert, aber auch die Lilie als Zeichen von Gnade und Vergebung. Sicher, das Schwert deutet auf eine letzte Verantwortung hin, die wir alle für unser eigenes Leben, aber auch für eine mitmenschliche Ordnung des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft haben. Das Bild von der Lilie dagegen will Mut machen, die Menschenwürde, die Gott uns allen verliehen, und die Freiheit, die er uns allen mitgegeben hat, zu wahren und zu nutzen. Wilhelm Voigt hatte das verstanden, als er sich vornahm, noch etwas aus seinem Leben zu machen, das Geschenk des Lebens mit den Möglichkeiten zum Guten zu nutzen. Dann kann er sich auch an die Hoffnung halten: Gott will nicht ausschließen und ausgrenzen. Sein Urteil soll vor allem ein Aufruf zur Verantwortung für das eigene Leben und das unserer Mitmenschen sein.

Das bleibt unsere Hoffnung in allen Verwerfungen unseres Zusammenlebens: Gott nimmt seine Verheißungen nicht zurück. Im Leben seines Sohnes und unseres Menschenbruders Jesus Christus sind sie lebendig geworden.

Nein, keine Aburteilung durch einen ewig strafenden Richter. Eher ein nachdrücklicher Hinweis auf eine Ordnung von Leben und Zusammenleben, in der ein Dank für die Gaben, die jeder Mensch von Gott mitbekommen hat, ebenso seinen Platz hat wie die Achtung vor der Menschenwürde aller anderen, für Barmherzigkeit und Bereitschaft zur Verständigung statt Richten, Aburteilen und Ausgrenzen. Jesus hat diese Ordnung gelebt, für uns sichtbar und erfahrbar gemacht. Und so hat Paulus sie auch das „Gesetz Christi“ genannt, ein Gesetz der Mitverantwortung und Mithilfe gerade da, wo Menschen Hilfe brauchen, um ihre Lebenslast zu tragen.

Im biblischen Leitwort für die kommenden Woche lässt Paulus seine Gedanken in die Mahnung münden: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6,2).

Amen.

 

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
e-mail: meyro-hi@arcor.de

Perikope
19.06.2016
14,10-13