Wegweiser – Predigt zu Johannes 3,22-30 von Nico Szameitat
3,22-30

Das Tote Meer stirbt. Der berühmte See mit dem unglaublich hohen Salzgehalt schrumpft immer mehr. Jedes Jahr fällt der Wasserspiegel um einen Meter. Das Wasser hat sich längst vom Ufer entfernt, so dass man weite Wege von der Böschung über Salzkrusten zurücklegen muss, wenn man ans Wasser will. Schiffsgerippe liegen auf dem Trockenen. Stege führen weit über dem Boden ins Nichts, enden irgendwo in der Luft.
Schuld ist der Jordan, der einzige Zufluss, der von Norden her im Toten Meer mündet. Jedes Jahr zweigen die Menschen mehr Wasser vom Jordan ab, um ihre Felder zu bewässern. Dafür leiten sie ihre restlichen Abwässer ein, so dass nur ein kleines Abwasserrinnsal das Tote Meer schließlich erreicht. Zwar gibt es im Toten Meer keinen Abfluss. Aber jedes Jahr verdunstet durch die Sonne die gleiche Menge an Wasser und zurück bleiben die Salzkrusten.
Unbeeindruckt davon pilgern die Menschen weiter an den Jordan zu einer der Taufstellen von Johannes dem Täufer. Denn da gibt es heute verschiedene Angebote, wo das gewesen sein könnte. Am beliebtesten sind inzwischen die Tauforte weiter nördlich, wo das Wasser noch reichlich und frisch ist und man noch immer wunderbar taufen kann. Denn wer will schon in einem Abwasserrinnsal nahe dem Toten Meer getauft werden?
Obwohl es nicht unwahrscheinlich ist, dass eben dort der Taufort des Johannes war.

Hier ist der Ort. Hier ist die Stätte. Johannes, die Worte seines Vaters im Ohr.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort, wo sie hindurch zogen, unsere Väter.
Von drüben kamen sie. Aus der Wüstenzeit. Ein Menschenleben lang zogen sie seit Ägypten durch die Wüste. Von drüben kamen sie. Dort am anderen Ufer tat Josua den ersten Schritt in das Morgen. Und die Wasser des Jordans stauten sich. Und trockenen Fußes zogen unsere Väter ein in das gelobte Land. Das ganze Volk kam hier an. Hier begann das Gelobte Land.
Hier ist die Stätte. Hier ist der Ort. Schau die zwölf Steine, das Zeichen des Josua.
Er richtete sie hier auf. Hier war der Ort des Durchzugs, die Stätte des Einzugs. Angesichts von Jericho, der Ort der Ankunft, die Stätte der Erfüllung.

Und Johannes wählte diesen Ort seiner Erinnerung, angesichts von Jericho, knapp oberhalb des Salzsees, bei den Steinzeichen des Josua und schickte hier die Menschen durchs Wasser: „Gott wird die Wasser für euch nicht mehr aufhalten! Ihr müsst durch die Wasser hindurch. Und auch ich werde euch keine Brücken bauen oder euch über das Wasser tragen. Ihr müsst hindurch. Lasst eure Lasten und Sünden hier und zieht durch das Wasser hinaus in ein neues Leben. Zieht aus eurem engen Land, wo doch kein Milch und Honig fließt, zieht hinaus!“
Und Johannes taufte die Menschen durch das Wasser hindurch, zurück in die Welt.

Die Jünger des Johannes sind frustriert. Erst hat ein Pharisäer sie in eine unbequeme Diskussion verwickelt, die zu keinem Ende kam. Und dann erfahren sie auch noch, dass Jesus von Nazareth ein Stückchen weiter oberhalb am Jordan ebenfalls angefangen hat zu taufen.
Es ist für sie schon schlimm genug, dass an jeder zweiten Jordankurve – und der Jordan hat viele Kurven! – ein anderer Scharlatan die Leute im Wasser untertaucht. Aber dieser Jesus, dem ihr Meister sozusagen die Füße geküsst und ihn den Christus genannt hat, ausgerechnet der macht jetzt Konkurrenz. Ist das der Dank dafür? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Nicht da oben, bei diesem Christus! Aber ihren Meister Johannes scheint das gar nicht zu stören. Der scheint sich über den Konkurrenten auch noch zu freuen.

Ich bewundere Johannes. Seine Aufgabe ist es, für die Ankunft Jesu schon mal alles vorzubereiten. Die Leute einzustimmen, schon mal zu predigen, die Leute zu taufen. Und dann kommt der Auftritt Jesu und Johannes nimmt sich zurück. Er macht Platz, schickt die Menschen eins weiter. Johannes ist der Vorläufer. Er ist der Wegweiser, der am Wegrand stehen bleibt. Er ist die Vorgruppe, die trotz der Jubelrufe der Fans die Bühne verlässt, um dem Haupt-Act Platz zu machen. Johannes ist der Trauzeuge, der die Ringe dabei hat, der eine halbe Stunde vorher noch schaut, ob in der Kirche alles vorbereitet ist, und der den Ablauf der Hochzeitsfeier geplant hat. Aber er ist nicht der Bräutigam, er ist nicht der Haupt-Act und er ist nicht das Ziel.

Lutherstadt Wittenberg im Jahr des Reformationsjubiläums. Ich gehe an den Luthersocken und Lutherpralinen vorbei und schlängele mich durch die Häuserzeilen durch zur Stadtkirche. Durch das Portal geht es ein paar Stufen hinunter, nach rechts durch die grünen Bankreihe und da steht er: Der berühmte Altar von Lucas Cranach, auf dem die Sakramente mit den Reformatoren dargestellt sind. Mich beeindruckt vor allem das schmale Bild unten. In einem kahlen langgestreckten Raum ist in der Mitte Christus am Kreuz zu sehen, mit wehendem Lendentuch. Ganz links in dem Raum ist die Gemeinde zu sehen, mit Frauen und Kindern. Und ganz rechts in dem Raum Martin Luther, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Und auf einmal erinnere ich mich an einen anderen Altar. Und in Gedanken wandere ich 800 Kilometer weiter südwestlich ins Elsass. Und aus Wittenberg wird Colmar, aus der Stadtkirche wird das Museum Unterlinden, aus Lucas Cranach wird Matthias Grünewaldt. Und da steht der Altar in derselben Aufteilung, nur düsterer. Im Mittelbild blutet und leidet Christus am Kreuz vor einem schwarzen Himmel. Links vom Kreuz die Frauen in Tränen. Rechts vom Kreuz Johannes der Täufer, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Christus in der Mitte zeigt. Um ihn geht es und um nichts anderes.
Luther wäre der ganze Personenkult, der um ihn in diesem Jahr getrieben wird, höchst zuwider. Luther weist auf Christus. Johannes weist auf Christus. Und damit weisen sie von sich selbst weg.

Manchmal habe ich den Eindruck, unserer Kirche könnte etwas johanneische Demut ganz gut zu Gesicht stehen. Auch die Kirche ist nicht der Bräutigam, nicht der Haupt-Act und nicht das Ziel.
In der kleinen Vorortgemeinde war man stolz auf die Thomasmesse, die man dort schon seit Jahrzehnten regelmäßig feierte: Ein Gottesdienst mit Angeboten zur persönlichen Segnung, Salbung und Gebet. Allerdings ließen die Besucherzahlen mit den Jahren immer weiter nach. Als dann die Innenstadtgemeinde im städtischen Kulturzentrum einen GoSpecial ins Leben rief, war der Argwohn groß: Ausgerechnet in derselben Stadt machen die Konkurrenz. Ist das der Dank für gute Nachbarschaft? Hier ist der Ort! Hier ist die Stätte! Hier bei dem Steinzeichen des Josua. Ich sage nur: „johanneische Demut“…

Die großen Kirchen schrumpfen. Wir werden immer weniger Menschen. Und wir werden auch immer weniger Geld haben. Wir werden uns verändern. Aber das muss nicht schlecht sein. Stege, die wir jahrzehntelang betreten haben, enden inzwischen längst im Nichts, irgendwo in der Luft. Und manches Kirchenschiff liegt als Schiffsgerippe schon lange auf dem Trockenen. Klammert euch doch nicht fest an den alten Steinzeichen des Josua! An den alten Steinhäusern, ob es Kirchen sind, Pfarrhäuser oder Gemeindehäuser. Sucht neue Wasserfurten. Schaut nur zwei Flusskurven oder Straßenkurven weiter! Vielleicht wartet Christus gerade dort.

Als ich die Stadtkirche verlasse, wandere ich links die Fußgängerzone hinunter Richtung Lutherhaus. Dahinter erhebt sich ein kleiner grüner Hügel: der Bunkerberg, der ein begehbares Kunstwerk geworden ist. Die Spazierwege auf dem Hügel gehen über in Stege, die weit über den Hügel hinausreichen und irgendwo in der Luft zwischen den Bäumen enden. Das Besondere an den Stegen ist, dass sie innen und außen verspiegelt sind. Wer die Stege betritt, sieht auf einmal überall seine Füße, links, rechts, vorne. Dazwischen die Füße von all den anderen, von Männern, Frauen, Jugendlichen, Kindern. Man schaut irgendwie nur noch auf gespiegelte Füße.
Wenn man aber über die Balustrade blickt, sieht man die anderen Stege, die in der Umgebung verschwinden, weil sie ja Hügel, Bäume und Büsche widerspiegeln. Aber man sieht auch über den Balustraden der anderen Stege, über der gespiegelten Natur, die staunenden und lachenden Köpfe der Menschen da drüben. Die Wittenberg-Stege enden nicht im Nichts. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.
Und das sind die Wege, die ich mir auch für unsere Kirche wünsche. Wege, die hinausziehen in das Leben. Sie enden in der Welt. Und sie nehmen die Welt auf mit einem Staunen und einem Lachen.

Amen.

Perikope
18.06.2017
3,22-30