Weihnachten bewegt die Menschen - Predigt zu Lk 2,1-20 von Isolde Karle und Christoph Dinkel
2,1-20

Liebe Gemeinde,

Weihnachten bewegt die Menschen. Zunächst werden Maria und Josef ganz wörtlich in Bewegung gesetzt. Ein kaiserliches Dekret zwingt sie zur Reise nach Bethlehem, so erzählt es uns Lukas. Auf Marias Schwangerschaft wird dabei keine Rücksicht genommen. Als die beiden in Bethlehem ankommen, bleibt ihnen nur ein Stall als Bleibe, „denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Dort im Stall kommt das Kind zur Welt. Das ist nicht so romantisch, wie wir uns das oft vorstellen und es in unseren Wohnzimmerkrippen aussieht. Im Stall ist es kalt und schmutzig – man mag sich nicht vorstellen, was Maria während der Geburt durchmachte. Doch Maria bekommt das Kind auf die Welt, das Neugeborene wird in Windeln gewickelt und in eine Futterkrippe für Tiere gelegt. Welch ärmliche Verhältnisse! Für Maria und Joseph ist es eine Erfahrung größter Gefährdung und extremen Ausgeliefertseins. Nur knapp schrammen sie an einer Katastrophe vorbei.

Weihnachten bewegt die Menschen. Die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem hatten sich auf eine ruhige Nacht eingestellt. Doch daraus wird nichts. Mitten in der Dunkelheit wird es hell. Der Engel Gottes tritt zu ihnen, sie werden von göttlicher Klarheit umleuchtet. Für uns, die wir die Geschichte kennen, ist der Auftritt des Engels etwas Schönes, für die Hirten war er zunächst aber ein gewaltiger Schrecken. Strahlendes Leuchten mitten in der Nacht. Die Hirten „fürchteten sich sehr“ – so beschreibt Lukas die Reaktion der Hirten. Aber es bleibt nicht beim Schrecken. Der Engel bringt die Freudenbotschaft: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Da löst sich die Erstarrung der Hirten und sie geraten in Bewegung. Sie sind ergriffen von der Botschaft und vom Licht der Engelschar und wollen „die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ Schnell machen sie sich auf und finden „Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen“ im Stall von Bethlehem. Die Erwartung der Hirten wird nicht enttäuscht, der nächtliche Aufbruch hat sich gelohnt. Was sie von den Engeln gehört und im Stall gesehen haben, hält die Hirten weiter in Bewegung: „Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kinde gesagt war.“ Die Hirten werden zu den ersten Boten der Christusbotschaft. Sie halten die weihnachtliche Bewegung in Gang und sind die Evangelisten der ersten Stunde.

Weihnachten bewegt die Menschen, aber nicht nur die Menschen, auch die Engel im Himmel geraten in Bewegung. Zunächst ist es nur ein Engel, der vom Himmel herab aufs Hirtenfeld nach Bethlehem kommt. „Fürchtet euch nicht!“, sagt der Engel. „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“. Doch kaum hat der eine Engel seine Botschaft verkündet, hält es auch die übrigen Engel nicht mehr. Das ganze Engelsheer setzt sich in Bewegung und bevölkert das Hirtenfeld von Bethlehem. Die Menge der himmlischen Heerscharen tritt auf, alle guten Geister Gottes sind da. Sie bilden einen Chor, der die Welt mit himmlischem Gesang erfüllt. Sie loben Gott, der die Welt verwandelt und mit Weihnachten einen Neuanfang setzt. „Ehre sei Gott in der Höhe“ singen die Engel. Sie verkünden den Frieden Gottes „bei den Menschen seines Wohlgefallens“. An Weihnachten setzt sich der ganze Himmel in Bewegung, diese Bewegung erfüllt die Erde und breitet Hoffnung und Frieden aus.

Weihnachten bewegt die Menschen. Weihnachten bewegt ganz besonders Maria. Was die Hirten wohl berichtet haben? Sicherlich haben sie von den Engeln auf dem Feld und ihrer wunderbaren Botschaft erzählt. Von Maria heißt es: Sie aber „behielt all diese Worte (der Hirten) und bewegte sie in ihrem Herzen.“ Das ist die Stelle, die mich am Weihnachtsevangelium besonders berührt. Maria hört genau zu, sie ist aufmerksam und achtsam, so würden wir heute sagen. Obwohl sie gerade eine Geburt unter besonders schwierigen Umständen hinter sich gebracht hat, ist sie nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern offen für das, was die Hirten erzählen. Ihr Herz wird davon ergriffen und erfüllt. Maria lässt den Wärmestrom in ihr Herz, sie ist empfänglich für das Wunder der Heiligen Nacht, für die Liebe inmitten der Kälte und Dunkelheit. Vielleicht erinnert sie sich an das Magnificat, das sie nach der Ankündigung der Geburt gesungen hat: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.“ Die junge Maria sieht sich von Gott wahrgenommen und beachtet – Gott hat große Dinge an ihr getan (Lk 1,49). Sie weiß und fühlt: Gott geht wohlwollend und barmherzig, in verschwenderischer Liebe und Güte mit uns Menschen um, Gott will nicht unseren Schmerz, sondern unser Glück. 

An Weihnachten bewegen sich nicht nur Menschen und Engel, auch die Worte und Herzen geraten in Bewegung. An Weihnachten breitet sich ein ganz eigener Zauber aus. Ganz am Rande der damaligen Zivilisation, beim jüdischen Volk, von römischen Besatzungstruppen geschunden, mitten im Elend eines Stalles und mit ärmlichen Hirten als Zeugen beginnt die Welt mit der Geburt des göttlichen Kindes neu zu werden. In der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Neugeborenen strahlt diese andere Welt auf, auf die die Menschen warten, die Welt ohne Krieg und Hass, die Welt ohne Hunger und Unterdrückung, die Welt, in der Kinder behütet groß werden können. All das scheint im Stall von Bethlehem auf, ganz zart und vorsichtig, sehr unscheinbar und in jeder Hinsicht gefährdet. Marias Herz wird davon berührt und verwandelt. Und auch die Hirten geraten in Bewegung.

Weihnachten bewegt die Menschen. Auch Sie haben sich von Weihnachten in Bewegung setzen lassen. Seit Wochen waren Sie und wart Ihr unterwegs, um Geschenke zu besorgen und das Fest vorzubereiten. Und jetzt sind Sie und seid Ihr zum Gottesdienst in die Kirche gekommen. Die Bewegung von Weihnachten hat auch Sie und Euch ergriffen und hierher in den Gottesdienst geführt. An Weihnachten werden wir hineingenommen in die Geschichte von der Geburt des Heilands. Mit den Hirten zusammen gehen wir nach Bethlehem und sehen das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Wir hören auf den Gesang der Engel und stimmen ein in den Gesang ihrer Lieder.

Lassen wir uns dabei anstecken von Gottes neuer Welt. Vertrauen wir diesem kleinen, gefährdeten und zerbrechlichen Anfang im Stall von Bethlehem. Seien wir bereit, unser Herz zu öffnen und uns bewegen zu lassen von Gottes zarter, verwandelnder Macht.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Prof. Dr. Isolde Karle

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist Christnacht und damit einer der Höhepunkte im Kirchenjahr. Anders als bei der Christvesper kommen Menschen in den Gottesdienst, die die Weihnachtsfeier im engeren Sinn schon hinter sich haben und gerne nochmals zuhören und nachdenken und sich vom weihnachtlichen Glanz berühren lassen wollen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Weihnachten bewegt die Menschen – diese Predigtidee, die mein Mann vor zwei Jahrzehnten entwickelte und zu einer Weihnachtspredigt ausarbeitete, hat mich sehr inspiriert. Ich habe das Skript übernommen und überarbeitet. Deshalb ist es auch eine gemeinsame Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das bewegende Moment von Weihnachten – im konkreten Sinn, weil so viele Menschen zusammenkommen, aber natürlich vor allem im übertragenen Sinn: Weihnachten bewegt mein Herz, insbesondere Maria, die die Worte der Hirten achtsam und offen in ihrem Herzen bewegt.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Mann und ich haben das Schlussmanuskript wechselseitig redigiert. Dadurch ist die Predigtidee nochmals klarer geworden.

Perikope
24.12.2023
2,1-20