Weihnachtssehnsucht - Predigt zu Gal 4,4-7 von Christiane Quincke
4,4-7

1. Zwischen Sehnsucht und Überforderung
Weihnachten lässt niemanden kalt. Manchen ist Weihnachten too much und sie fliehen. Möglichst weit weg. Dorthin wo es warm ist und möglichst keine Verwandten.
Manche können nicht genug von Weihnachten kriegen und fahren alles auf, was sie haben. Die Wohnung blitzblank. Weihnachtsschmuck auf jeder Fensterbank. Die Gans schon vor Wochen bestellt.
Und dazwischen bin ich. Die Fenstersterne haben es dieses Jahr nicht an die Fenster geschafft. Aber der Käse fürs Raclette liegt im Kühlschrank. Die Krippe aus der Garage ist da, wenn auch staubig. Irgendwo liegen noch Weihnachtskarten, die ich schreiben wollte. Und meine Gedanken kreisen zwischen Geiseln und AfD-Bürgermeister, zwischen dem kleinen Lord und Ottolenghi-Rezept. Das bin ich. Und du vielleicht auch. Irgendwie dazwischen. Zwischen Sehnsucht und Überforderung – auf dem Weg zum ganz eigenen Weihnachten.

2. Meine kindliche Sehnsucht
Ich bin ja kein Kind mehr. Aber je älter ich werde, desto größer die Sehnsucht.
So richtig beschreiben kann ich sie gar nicht.
Ja, nach Frieden sehne ich mich natürlich. Aber wie sieht er aus? Und kann er mal endlich nicht so verletzlich sein?
Sehnst du dich auch nach Heilsein? Dass die kleinen Risse in deiner Seele nicht mehr so weh tun. Dass du zufrieden bist mit dir selber. Dass du dein Leben besser auf die Reihe kriegst. Dass du dir selbst verzeihen kannst.
Und willst du auch wie ich endlich vertrauen können? Ganz und gar und nicht nur ein bisschen. Keine Angst mehr haben, dass jemand dein Vertrauen ausnutzt. Überhaupt keine Angst mehr haben – weder vor der Nacht noch vor deinen Gedanken, weder vor bösen Menschen noch vor einer 4 Grad wärmeren Zukunft.
Und vielleicht sehnst du dich auch einfach nur danach, dass alles übersichtlich ist. Ganz schlicht. Ganz einfach. Wesentlich. Damit du hinterher kommst mit deiner Seele und deinem kaputten Knie.
Du bist kein Kind mehr, aber das Kind in dir hat große Augen und ein großes Herz und will einfach geborgen sein.

3. Erwachsen sein
Als ich noch ein Kind war, wollte ich endlich erwachsen sein. Gerade auch an Weihnachten. Endlich selber bestimmen, wie es gehen kann. Ich musste damals in die Christvesper und eine Predigt hören, die ich nicht verstanden habe. Die Lieder mochte ich schon damals. Aber der laute Gesang meiner Mutter war mir peinlich. Am 1. Weihnachtstag Verwandte besuchen, Weihnachtskarpfen essen, den ich als Kind nicht leiden konnte. Die Erwachsenen redeten und redeten. Es ging oft laut zu, nicht selten auch wurde es ungemütlicher, wenn vergangene Streitpunkte wieder hoch kamen, oder weil wir pubertierenden Kinder keine Lust mehr auf diese Großfamilie hatten. Manche meine Freunde haben sich damals losgeeist und sind zumindest am späten Heiligen Abend auf Kneipentour gegangen. Irgendwie hab ich sie beneidet, hätte mich das aber nie getraut.

Und heute? Ich mache vieles anders. In der Familie einigen wir uns auf das Essen. Der Baum wird so geschmückt, wie ich das will. Ich singe immer noch gerne die Weihnachtslieder. Aber vor allem spüre ich, dass ich manchmal gerne wieder Kind wäre. Ich würde gerne wieder die Stimme meiner Mutter hören. Würde mich gerne wieder einfach treiben lassen. Ohne Druck. Ohne alles richtig machen zu müssen.
Kennst du diesen Wunsch auch? Keine Verantwortung übernehmen. Die Tage sollen so endlos sein wie damals. Schwarzweißfilme schauen. Und diese warme stickige Luft auf der Haut spüren, die lauten Stimmen der Erwachsenen vorbeiziehen lassen und nicht mitreden müssen.
Oder wie der kleine Lord alle Herzen verzaubern und alle sitzen vereint am Tisch.
Ist das die Ur-Sehnsucht? Wieder Kind zu sein? Womöglich ein Kind zu sein, das du nie warst?

4. Gottes Kind
Dabei bist du ja ein Kind. Ein ganz besonders geliebtes. Ein von Gott geliebtes Kind.
Mit Haut und Haaren, Runzeln und Falten, geschminkt und ungeschminkt, festlich gekleidet oder in bequemer Jogginghose, mit gewaschenen Haaren oder dreckigen Fingernägeln – du bist ein geliebtes Kind. Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar. Gottes Kind. Du.
Und dafür musst du nichts tun. Nichts.

Paulus hat dazu was geschrieben – noch bevor die Weihnachtgeschichte aufgeschrieben wurde –, die mit den Hirten und mit der Krippe, mit Maria und Josef und dem Kind im Stall, mit den Engeln und mit Bethlehem. Paulus schreibt ungefähr so*:

Als die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.
Der wurde geboren von einer Frau. Ein Kind wie andere Kinder.
Dadurch machte Gott alle Menschen zu seinen Kindern.
Frei zu einem Leben, das ihrer Würde entspricht.
Auch du bist ein Kind Gottes. Und du trägst das Erbe Gottes weiter.

5. Gottes Familie
Ob Weihnachten dich kalt lässt oder nicht:
Weihnachten verstrickt dich hinein in die Gottesfamilie.
Sie ist Patchwork pur. Alleinerziehende, Stief- und Schwiegerkinder, Adoptiveltern und Pflegekinder, Singles, Paare, Geschiedene, Verwitwete. Eine unverheiratet Schwangere gehört genauso dazu wie der Träumer Josef, harte Arbeiter genauso wie Büchernarren wie Flügelwesen. Und diese Gottesfamilie hat so gar nichts von heiler, bürgerlicher, glücklicher Familienidylle. Im Gegenteil.
In Gottes Familie musst du nicht brav den Erwachsenen zuhören, sondern darfst deinen Mund aufmachen. Du musst keine Bedingungen erfüllen, um dazuzugehören. Du musst nichts geputzt haben, auch keine Fenster. Du musst keinen Weihnachtsbaum aufgestellt haben, keine Gans im Ofen. Du kannst dich schwer tun mit Geschenken, schreibst vielleicht keine Weihnachtskarten, schaltest das Radio vielleicht aus bei „Last Christmas“. So wie du bist, bist du Kind Gottes. Zwischen Sehnsucht und Überfordertsein.

6. Gottes Sehnsucht
Gott selbst ist ein Kind. Sehnsüchtig nach Liebe. Ein Niemand von Niemandseltern. Geboren inmitten von Tiergestank, aufgewachsen in einem ganz normalen Dorf. Und erwachsen geworden lebt dieses Kind Gottes Sehnsucht. Berührt Augen und Ohren und Seelen von lauter Leuten, die nicht dazu gehören. Sie sind Teil seiner Familie, seiner Gottes-Familie. Auf Du und Du mit Gott.

Und da sind sie nun, die Kinder Gottes: Der Krankenpfleger, erschöpft und ausgelaugt. Die jüdischen Geschwister hier in Pforzheim und die, deren Liebsten als Geiseln ausharren müssen. Die palästinensischen Kinder, geopfert von Terroristen, weil sie deren Schulen als Versteck benutzen. Die Frauen im Iran und Afghanistan, zum Schweigen gebracht. Die jesidischen Geschwister, die aus Deutschland abgeschoben werden. Die jungen Eltern, die mit ihrem autistischen Kind alleingelassen sind.
Kinder der Gottesfamilie. Deine Geschwister. Meine Geschwister.
Wertvoll, königlich, würdevoll, klug, schön, wichtig, unverzichtbar.
Sehnsüchtig und überfordert.

Wir haben uns diese Gottesfamilie nicht ausgesucht. Aber Gott hat uns sehnsüchtig zusammengesucht. Umarmt diese Welt wie der kleine Lord am Weihnachtsabend seinen Großvater.

7. Sehnsuchtsgeschichte
Und deine, meine Sehnsucht? Die an Weihnachten besonders groß ist? Die nach dem Heilsein und dem Vertrauen und dem Frieden?
Ich hab sie als Erwachsene. Und ich hab sie als Gottes geliebtes Kind. Die Sehnsucht bleibt bei mir. Und manchmal öffnet sie mein Herz. Wenigstens einen Spalt breit. Und dann schau ich, was passiert.

Liebes Gotteskind, mit unserer Sehnsucht sind wir nicht allein.
Sie kommt im Stall zur Welt, im Niemandsland, dort, wo heute Krieg ist. Die Sehnsucht nach Heilsein, nach Vertrauen und Frieden – sie ist klein und runzlig und menschlich. Vielleicht ist sie auch ganz leise. Und kaum zu hören. Vielleicht versteckt sie sich in den unaufgeräumten Ecken bei mir zu Hause?
Vielleicht entdeckst du sie bei dir? Gottes Sehnsucht nach dir.

Diese Sehnsucht ist die gemeinsame Geschichte der Gottesfamilie, aller Kinder Gottes. Sie ist unsere Geschichte. Unsere Weihnachtsgeschichte.
Sie lässt dich nicht kalt und mich auch nicht.
Gott strickt uns zusammen zu einer Familie.
Mit Hirten und Maria und Josef und Engeln.
Mit Tieren und Sternen und Fürchtet euch nicht.
Mit großen Augen und hellen Liedern.
Und einem warmen Herzen voller Sehnsucht.

Amen.

 

*) Danke an Birgit Mattausch für die Anregung

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Gottesdienstbesucher*innen zur Christvesper kommen oft aus hektischen Wochen. Dieses Jahr ist es – so mein Eindruck – besonders heftig. Vielleicht auch, weil die Adventszeit so kurz war? Jedenfalls kommen in die Christvesper Menschen mit unterschiedlichen Erwartungen und Gefühlen, sind in der Regel erwachsen (Familiengottesdienst mit Krippenspiel ist bei uns ein eigener Gottesdienst). Dazu ist die weltpolitische Lage sehr bedrückend.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Peter Meyer hat bei einem Vorbereitungstreffen zum Thema „Familie Gottes“ gesagt: „Taufwasser ist dicker als Blut“. Diesen Gedanken fand ich so inspirierend, dass ich damit spielen wollte. Finde es aber nicht einfach, dies ohne Überforderung zu denken.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Spannung zwischen Gotteskindschaft und Erbe sein – und damit das Thema Erwachsen sein und Gottes Kind sein.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Im ersten Entwurf hatte ich im Schluss noch mehr „Anforderungsätze“, die aus dem Gedanken der Gottesfamilie erwuchsen. Eine kluge Freundin hat mir gesagt, das würde sie ausgerechnet an Weihnachten doch sehr unter Druck setzen. Daraufhin habe ich insbesondere das letzte Drittel nochmal überarbeitet und gekürzt!

Perikope
24.12.2023
4,4-7