Welche Farbe hat Gerechtigkeit? - Predigt zu Jer 23,5-8 von Anne-Kathrin Kruse
VIOLETT – DIE FARBE DER MORGENDÄMMERUNG
„Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen, dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“
Ein Adventslied, voller Sehnsucht in der Nacht,
1938 gedichtet von Jochen Klepper,
als es finster war in Deutschland.
Und doch mit einer unglaublichen Hoffnung:
der Tag ist nicht mehr fern!
In Violett sind heute Altar und Kanzel gehalten.
Violett – die Farbe der Morgendämmerung, des Übergangs,
unwägbar, zweideutig, geheimnisvoll.
Nicht mehr ganz finster, aber auch noch nicht hell.
Wach liegen und spüren, was wir Morgen-grauen nennen.
Dunkle Träume machen sich davon.
Nicht mehr lang bis zum Blinzeln in die aufscheinende Sonne im Gesicht.
Vor einer Woche haben wir unserer Toten gedacht.
Die Zeiten verschwimmen
zwischen dem Jetzt und „weißt du noch?“ und „was wird jemals sein?“.
Neuer Himmel – neue Erde?
Und heute das große „Siehe“.
Siehe, es kommt die Zeit.
Vorsichtig tastend betreten wir neues, unbekanntes Land aus schwarzer Erde,
darüber ein tiefes Himmelblau und das Blutrot der aufgehenden Sonne.
Zartgelber Schimmer am Horizont.
ZEIT FÜR MEHR GERECHTIGKEIT
Wo stehen wir?
Krisenzeit.
Was darf man noch, was nicht?
Alles wird zu viel und ist doch zu wenig.
Und irgendwie reicht es jetzt auch!
Wer unterdrückt hier eigentlich wen?
Angesichts der Spannung zwischen denen, die sich für Andere aufopfern,
und denen, die auf ihre persönlichen Freiheitsrechte pochen.
Angesichts von unbezahlbaren Mieten und Minijobs, von denen niemand leben kann.
Diese Spannungen sind fast nicht zu aushalten.
Was ist gerecht?
Siehe, es kommt die Zeit,
hören wir heute von dem Propheten Jeremia.
Siehe es kommt die Zeit von Recht und Gerechtigkeit!
Nicht eine strafende Gerechtigkeit ist gemeint.
Gott setzt sich ein für die Armen, die Schwachen, die Verlierer,
die ein Recht auf ein würdiges Leben haben und deren Lebensrechte bedroht sind.
Es kommt die Zeit einer verantwortungsvollen Regierung,
die Verheißung, dass Israel endlich sicher wohnen kann.
VERBRANNTE ERDE
Während er diese kräftigen Worte spricht,
steht er inmitten des rauchenden Trümmerfeldes Jerusalem.
Jerusalem, der Sehnsuchtsort war zerstört.
Schwarze verbrannte Erde.
Die Menschen ermordet, versklavt, vertrieben.
Zerstört der Traum vom herrlichen Reich Davids.
Der hoffnungsvolle Spross am Stamm Davids: verkohlt.
Und der Tempel: in Rauch aufgegangen.
Schwarze Rauchsäulen im Violett des Morgengrauens.
Der siebenarmige Leuchter, die Schriftrollen, die Bundeslade geplündert.
Und Gott: längst fort ist er.
Der Glaube der Menschen –
verstummt angesichts der Grausamkeit der Siegermächte.
Die Könige haben in Israel fast immer versagt.
Stürzten das Land und die Menschen in den Ruin.
Sie bestimmten, was gerecht ist, nämlich das, was ihnen selber nützte.
Meine Gerechtigkeit, so hieß der letzte König Zedekia.
Jeremias Antwort: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.
Gott – und niemand sonst.
Er war es, der uns aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat.
Er wird uns auch aus der Fremde zurückbringen,
wo wir sicher wohnen können.
Und Gott mitten unter uns.
VOM KÖNIG UM DIE ECKE
Und wir Christen?
Allzu eilig sehen wir in dem erhofften Spross Davids Jesus.
Wir nennen ihn Christus, Gesalbter, Messias.
Aber König?
Er selbst tut alles dafür, dieses Bild nicht aufkommen zu lassen.
Auf einem kleinen tippelnden Eselchen kommt er angeritten.
Kein Macher,
der alle komplexen Probleme dieser Welt mit einem Handstreich vom Tisch wischt.
Eigentlich ist Violett ja gar keine richtige Farbe.
Es setzt sich zusammen aus dem Blau des Himmels, des Göttlichen,
und dem Rot des Blutes, des Menschlichen.
Himmel und Erde,
Göttliches und Menschliches – in Christus verbunden.
Auch er hat die Verheißung Jeremias nicht erfüllt.
Noch immer gibt es ungerechte Machthaber,
leben Menschen unter unwürdigen Bedingungen,
sind Millionen weltweit auf der Flucht.
Und doch öffnet die Verheißung des Propheten ganz leise die Tür zum Advent.
Fangen seine Worte an zu leuchten –
so voller Trost und Hoffnung, dass einem Augen und Herz aufgehen.
Erinnern an den kleinen König aus einfachen Verhältnissen.
David, der Hirtenjunge, und Jesus, der Zimmermannsohn – beide kommen von ganz unten.
Wohnen quasi um die Ecke, wo man sie regelmäßig treffen kann.
Halten die Verheißung des Propheten offen, machen sie stark.
Lehren mich auf immer neue Weise staunen,
dass Gott seine Verheißungen immer wieder erfüllt.
Mitten in der Welt, mitten unter uns –
sieh hin, wo der König in den Menschen Spuren hinterlässt!
Die Menschen, die in der Krise genau wissen, wo ihr Platz ist,
nämlich ganz nah bei denen, die immer zu kurz kommen.
Die Schwestern, Pfleger und Ärzte,
die mit großer Professionalität den Kranken beistehen.
All die, die nicht auf die Politik warten, wo es um wertvollen Wohnraum geht,
die neue Miet- und Genossenschaftsmodelle entwickeln,
damit auch Arme sicher wohnen können, weil sie ein Recht darauf haben.
Die sich jetzt um die Geflüchteten kümmern,
die an der EU-Grenze zwischen die Fronten geraten sind –
sie alle machen mir Mut.
Lassen mich in die aufscheinende Sonne blinzeln.
Setzen die lahmen Glieder in Bewegung.
Machen mich lebendig und ich bekomme Lust aufzustehen und mitzumachen.
LEBEN IM VIOLETT
Ganz klein im Verborgenen erblickt Gottes Gerechtigkeit das Licht der Welt.
Leuchtet zartgelb am Horizont, gewinnt an Kraft - unaufhaltsam.
Braucht uns und traut uns das zu, Hoffnungsträger zu sein.
Ihr seid das Salz der Erde – ihr seid das Licht der Welt.
Also leuchtet.
Tragt das Licht der Gerechtigkeit in die Welt und leuchtet damit in jede dunkle Kammer.
Leben im Advent, im Violett.
Wenn Violett eine eigene Farbe sein sollte,
dann ist es die Farbe der Sehnsucht, der brennenden Erwartung.
Alle sollen sie sicher wohnen in ihrem Lande.
Gott steht zu seinem Wort.
Da kommt noch was.
Siehe, es kommt die Zeit…
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ort des Gottesdienstes ist die Kirche St. Michael in Schwäbisch Hall, die aufgrund ihrer besonderen Architektur und ihrer herausragenden Kirchenmusik überregional von Bedeutung ist, als Innenstadtgemeinde aber über eine überschaubare Kerngemeinde verfügt. Gerade am 1. Advent ist deshalb eine sehr heterogene Gottesdienstgemeinde an Tagestouristen, Eventbesuchern (Weihnachtsmarkt, Theatervorstellung etc. am Vorabend), in diesem Falle auch zwei Tauffamilien sowie die Kerngemeinde zu erwarten.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Spektralfarbe Violett fasziniert mich. Sie hilft mir, den Weg vom Toten- und Ewigkeitssonntag bewusst zu vollziehen. Was den Kirchenjahresanfang mit dem –ende verbindet, ist eine starke Sehnsucht, dass durch das Dunkel der Nacht ein Licht aufscheint mit der berechtigten Hoffnung, dass es gut wird. Violett wertet so den Advent, der häufig zur „(Vor-)weihnachtszeit“ degradiert wird, als eigenständige Kirchenjahreszeit auf.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Obwohl das Königtum Israels durch die Geschichte hindurch mehr oder weniger versagt hat und Jeremia ihr Versagen auch schonungslos anprangert, hält er an der Hoffnung auf den kommenden König fest. Das irritiert mich. In der Predigt möchte ich vermeiden, bei der Lösung aller (politischen) Probleme auf einen starken Mann zu setzen, der alles „richten“ wird. Zugleich möchte ich eine tiefe Sehnsucht, die sich mit dem Königsbegriff verbindet, ernstnehmen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Dem umsichtigen, wertschätzenden und ermutigenden Coaching durch Nico Szameitat verdanke ich die Predigt, so wie sie jetzt steht. Vielen Dank!