I. Mich rührt diese Ostergeschichte aus dem Johannesevangelium besonders an. Vielleicht deshalb, weil sie der Trauer Raum gibt. „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ Die anderen Jünger waren gegangen, nachdem sie gesehen hatten, dass das Grab leer und der Leichnam Jesu nicht da war. „Denn sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder zu den anderen zurück.“ Maria aber harrt vor dem Grab aus und weint. Bis auch sie wie die anderen vom Grab weggehen würde, ausgeweint, allein. Das wäre das Ende gewesen. Aber die Ostergeschichte erzählt nicht von einem Ende, sondern von einem Anfang. Auf den Maria sich einlässt, auf den sie zugeht, Schritt für Schritt.
Die Weinende erstarrt nicht, sie ist in Bewegung. Die, die draußen vor dem Grab steht, bleibt nicht stehen. Weder bei sich noch bei dem, was sie bedrückt. Maria bewegt sich. „Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein.“ Diese Bewegung ins Grab hinein öffnet ihr die Augen für den Lebenden. Aber nicht sofort. Sondern nach und nach. Schritt für Schritt, Wendung um Wendung. Maria sieht zwei Engel, sie hört eine Frage „Was weinst du?“ Maria lässt sich ansprechen, spricht aus, was sie bedrückt. „Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.“ Sie weint um den, den man ihr genommen hat, aber sie verschließt sich nicht in ihrer Trauer. Sie findet sich nicht ab mit der Leere im Grab. Sie sucht den Toten. Sie bewegt sich, wendet sich um, um weiter zu suchen. Da sieht sie den Gärtner, den Lebenden sieht sie noch nicht. Und wieder hört sie die Frage: „Frau, was weinst du? Wen suchst du?“ Und wieder lässt sie berühren von den Worten, wieder antwortet sie, bewegt sich heraus aus ihrer Trauer, spricht aus, was sie bewegt. „Sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.“ Wieder sucht sie den Toten, den sie weggenommen glaubt. Den Lebenden sucht sie noch nicht. Aber sie ist in Bewegung. Maria bewegt sich auf den Lebenden zu, unbestimmt und unbewusst. Da trifft sie das Wort. „Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister.“ Eine seltsame Szene, eigentlich eine Bewegung, ein Sich-Umwenden zu viel. Maria hatte sich schon zu dem zugewandt, den sie für den Gärtner hält, nun – nach dem Wort, das sie trifft: „Maria“ – wendet sie sich erneut um. Eine kleine Bewegung nur. Doch das ist der Wendepunkt in der Geschichte, die entscheidende Bewegung, das „entscheidende Mal, daß sie sich wendet und in diesem Sich-Wenden verwandelt wird […] in eine, die ihn erkennt“ (Patrick Roth) und bekennt: „Rabbuni“. Diese eine Sekunde zwischen zwei Worten: „Maria“- Rabbuni“ ist die Wende zum Leben. Maria hat Jesus erkannt. Nach und nach. Schritt für Schritt, Wendung um Wendung, jetzt ganz und gar. Nun sind sie – der Auferstandene und die, die neu aufersteht zum Leben – einander zugewandt, ganz nah, so als wurde sich in dieser Sekunde zwischen zwei Worten die ganze Wahrheit des neuen Lebens verdichten, licht und leicht. Am Ende geht auch Maria vom Grab weg ins Leben zu den anderen, befreit und beschenkt. Sie hat den Toten nicht gefunden, aber den Lebenden. Das ist mehr als sie je zu suchen gewagt hat. „Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen, und was er zu ihr gesagt habe.“ Das ist der neue Anfang für alle. „Im Tale grünet Hoffungsglück.“
II. Mich rührt diese Ostergeschichte an. Vielleicht deshalb, weil sie Missverständnisse zulässt, dem Weg ins Leben Raum und dem Suchen und Versuchen Zeit gibt. Leicht war das nicht für Maria, kein Osterspaziergang – „vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick“. Nein: „Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte.“ Leicht ist es eben nicht, von Tod und Trauer ins Leben zu finden. Manchmal braucht es viele Versuche, um aufzustehen, sich umzudrehen, aufzubrechen, neu zu leben. Dreimal musste Maria sich umwenden, bis sie den Lebenden gefunden hat, bis sie weitergehen und selber auferstehen konnte. Das berührt mich, diese Wendepunkte, dieses immer wieder neue Suchen, dieses Erkennen nach und nach, dieser Mut, immer wieder den nächsten Schritt zu tun. Da ist nicht alles mit einem Schlag leicht und licht, das sind alle Fragen und Tränen nicht mit einem Mal weggewischt. Diese Ostergeschichte ist kein triumphales Finale, kein Blitzsieg über den Tod, sondern ein langer Weg ins Leben Schritt um Schritt, nach und nach, Bewegung um Bewegung bis zum entscheidenden Wendepunkt, jener „Magdalenensekunde“ wie Patrick Roth sie nennt, wo die Weinende und der Lebende, wo Mensch und Gott einander zugewandt sind, wo Maria den Auferstandenen erkennt und selber neu zum Leben aufersteht. Sie rührt mich an, diese Maria Magdalena, die sich bewegt, die nicht bei sich und ihrer Trauer stehen bleibt, die sich immer wieder ansprechen lässt in ihrer Suche, sich immer wieder ins Leben wendet und am Ende mehr findet als sie jemals gesucht hat: Nicht den Toten, sondern den Lebenden. „Maria“ – Da spricht er, der vermeintlich Tote, der Verstummte, Verlorene. Eigentlich geht das nicht, eigentlich hat Maria das nicht erwartet. Aber Maria hört, lässt sich bewegen zu etwas Ungeahntem hin, bleibt nicht bei dem stehen, was erwartbar ist. Ein bisschen ver-rückt, ver-dreht, ver-kehrt, aber die Wendung zum Guten, zum Leben.
III. Mich berührt dieses Tasten und Suchen, dieses Sich-Wenden und Winden, dieses in Bewegung und in der Hoffnung Bleiben. Das möchte ich von Maria lernen: Angesichts der kleinen und großen Sorgen und all der Sackgassen im Leben nie aufhören, einen neuen Anfang zu suchen. Den Menschen, die mich weinen machen, immer wieder neu und offen zu begegnen. Bei den großen Plänen immer wieder wagen, den nächsten Schritt zu gehen, auch wenn ich das Ziel kaum erblicken kann. Das möchte ich von Maria lernen: Am Beginn eines jeden neuen Morgen dem, was auf mich zukommt, mit Hoffnung zu begegnen und offen zu sein für die Antworten auf meine Fragen, die erwarteten und die, die meine Erwartungen sprengen. All das möchte ich von Maria lernen und noch viel mehr. Maria – sie ist die, die ansprechbar ist für eine Gewissheit, die tiefer ist als alles, was ich je sehnen und suchen kann. Als Jesus sie beim Namen nennt, denkt sie nicht einen Moment: Ist das eine Täuschung? Woher kennt der Gärtner meinen Namen? Dass Jesus selbst es ist – wie könnte das sein? Nicht einen Moment stellt Maria solche Fragen, nicht einen Moment stellt sie die neue Wirklichkeit in Frage, bleibt nicht einen Moment bei dem stehen, was menschenmöglich ist, sondern bewegt sich auf das Wunder zu: „Da wandte sie sich um und spricht zu ihm Rabbuni!“ Eine kleine Bewegung, ein einziges Wort, eine Wendung hin zum Unmöglichen, das allein neues Leben ermöglicht. Von dieser Gewissheit möchte ich anstecken lassen, in all meinem Weinen und meiner Angst, in all meiner Mutlosigkeit und all meinem Suchen möchte durchlässig sein für das Wunder des Lebens. Dann kann es sein – in einer dunklen Stunde vielleicht oder dann, wenn das Leben vollkommen gelingt –, dann kann es sein, dass auch mich ein Wort trifft, ein Hauch, sein Geist, dann bin auch ich mitten drin jener Wende zum Leben, die alles neu macht, leicht und licht. „Halleluja, der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden, Halleluja. Im Tale grünet Hoffnungsglück.“
Amen