Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns ans andre Ufer fahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm.
Nichts Besonderes eigentlich. Eine Überfahrt, wie es schon viele gab und wie es noch viele geben wird. Ruhig und gemächlich schippert das kleine Boot auf dem See der Abendsonne entgegen. Die Sonnenstrahlen tanzen auf dem Wasser, die Mücken tanzen über dem Wasser und ein sanfter Wind versetzt das Boot in gemächliches Schaukeln. Müdigkeit stellt sich ein und diese merkwürdig wohltuende, gefüllte Leere nach einem Tag langer und erfüllender Arbeit.
„Das Leben geht seinen Gang“ – sagen wir manchmal – und meinen damit vielleicht ja auch genau dieses: Dass es sanft vor sich hinschaukelt (nicht zu viel, das macht Übelkeit und allerlei Beschwerden) auf ruhigen und bekannten Gewässern. Man darf die Augen schließen, ohne etwas zu verpassen. Der Weg ist bekannt, die Umgebung vertraut. Furchtlos kann man sich fallenlassen und: schlafen legen. Jedenfalls, wenn man kann...
Aber nicht jeder kann!
Es erhob sich ein großer Windwirbel, und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde.
Wie soll man da schlafen! Wie soll man ruhig bleiben? Wind und Wasser überall, von jetzt auf gleich. Sie bedrohen nicht die anderen in weiter Ferne – das ist jetzt keine Tagesschau und keine Reportage aus fernen Ländern! – das passiert hier und jetzt!
Da, wo noch eben Sicherheit war und gewohnte Ruhe, da wo noch eben wohltuende Langeweile war – eine Weile, die lange zu währen schien, weil eben nichts da war, das sie hätte erschüttern können – da bricht der Wind, da brechen die Wellen und bricht das Wasser mit voller Wucht herein!
Wehe dem, der jetzt nicht schwimmen kann. Wehe dem, der keinen Halt hat und keinen Rettungsring. Nein, wir lesen die Geschichte jetzt noch nicht weiter. Wir halten dieses stürmische und nasse Hier und Jetzt noch einen Moment aus.
Denn wie oft ist das doch nicht weniger als das wahre Leben!
Die Menschen, die übers Meer fliehen aus Hunger und Not und Elend und Krieg, die können wohl ein Lied singen von den Gefahren des Meeres, von den Ängsten und Nöten auf tosenden Wassern und in eisigen Winden auf dem Weg ans rettende Ufer. Wenn sie es denn noch singen können und nicht die Sehnsucht nach Leben mit dem Leben bezahlt haben in dem, was Leben schenkt und Leben nimmt.
Die Menschen, die die böse Diagnose bekommen haben bei dem Besuch, der doch reine Routine hätte sein sollen, denen der Boden unter den Füßen weggerissen ist, weil das Leben keine Balken hat, die könnten wohl auch ein Lied davon singen, wie Wind und Wellen plötzlich und mit voller Wucht hereinbrechen in das Boot, das noch eben gemächlich vor sich hinschaukelte. Wenn ihnen denn nach Singen zumute wäre und es ihnen nicht die Sprache verschlagen hätte, weil das Wasser ihre Lungen und Herzen füllt und der Atem vergeht.
Und viele andere könnten wohl ein Lied singen von dem Tod und dem Verderben und der Angst und der Kälte, die das Wasser bringt... Das des Krieges und der Unfälle, das der zerbrochenen Beziehungen und geplatzten Berufsträume und und und...sie alle könnten ein Lied des Lebens singen, das untergeht und in den Wellen versinkt – und wer weiß, vielleicht singen sie es sogar und wir hören es nur nicht, weil wir in unserem kleinen, gemütlichen und vermeintlich unsinkbaren Lebensbötchen sitzen und die paar Planken unter uns und um uns herum, das Buffet an jedem Abend und die geführten Landausflüge, die uns das Leben vorführen als wäre es ein Museum, für das Leben halten.
Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen.
Er, dem Wind und Wellen gehorchen (aber das wissen wir ja noch gar nicht, das erfahren wir erst ein paar Verse später) schläft wie ein Kind in Abrahams Schoß. Kindliches Vertrauen. Göttliches Vertrauen. Aber wahrscheinlich ist das dasselbe. Vielleicht schätzt er die Gefahr anders ein als jene, die gleich kommen werden, um ihn zu wecken. Vielleicht traut er ihnen auch mehr zu als sie sich selber zutrauen. Ja, vielleicht muss man ja gar nicht bei dem ersten Wassertropfen schon schwere Geschütze auffahren, muss nicht jede Krise aufwändig therapiert werden und ist nicht jedes Problem gleich ein Fall für den Chef...
Es könnte ja sein – aber da prüfe jeder und jede sich selber und urteile nicht über andere! – dass manches Wasser durchschwommen und manche Welle ertragen werden kann, wenn man denn wirklich will und es sich zutraut – und der vorschnelle Ruf nach Hilfe nichts anderes ist als Faulheit oder Bequemlichkeit oder er zumindest doch aus einer Angst resultiert, die überwunden würde, wenn man sich selber zutraute, sich ihr zu stellen und sie zu durchschwimmen.
Doch hier nicht so. Egal ob gefühlt oder tatsächlich (und Angst ist eben erst einmal angst, ganz gleich, ob sie einen realen Grund hat oder nicht). Hier kommen sie und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?
Er ist ja da. Hilfe ist nahe. Allein: Man muss sie denn wenigstens haben wollen. Es ist schon interessant (oder auch komisch oder traurig, je nachdem) zu sehen, wie viele Menschen Gott vorwerfen, er würde in Notsituationen ja ohnehin nicht helfen, die ihn aber doch zugleich noch nie darum gebeten haben.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein lässt Gott sich gar nichts nehmen – es muss erbeten sein, heißt es bei Paul Gerhardt.
„Fragst Du nichts danach, dass wir umkommen?“ – „Warum muss ich fragen? Erstens traue ich Euch zu, manches Wellental alleine zu durchschreiten. Und zweitens: Ich bin doch da. Ich helfe Euch, wenn Ihr Euch zu schwach fühlt oder keine Lösung findet. Allein: Ihr müsst Euch schon die Mühe machen, mich zu rufen. Erbetene Hilfe macht den Bittenden zum wahrhaft Empfangenen und gibt ihm doppelte Würde: Im Bitten und im Empfangen. Ungebetene – manchmal vielleicht gar nicht gewollte – Hilfe ist Entmündigung und Entwürdigung. Darum: Ruft, schreit, weckt mich. Ich bin da.“
Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig! Verstumme! Und der Wind legte sich und es wart eine große Stille.
Die Ruhe nach dem Sturm. Das Wasser liegt glatt und fast bewegungslos. Der Wind nur noch ein sanftes Säuseln göttlicher Nähe, die Sonnenstrahlen brechen sich wie zuvor und überhaupt ist es plötzlich, als sei es nie anders gewesen. Und doch ist alles anders. Ist alles neu.
Die Ruhe nach dem Sturm ist eine andere als die vor dem Sturm. Die vergangene Gefahr eine andere als die, die vor mir liegt. Die Luft ist frisch und klar, der Ausblick ebenfalls, die Geräusche und Gerüche, das Licht, die Farben. Wie neu. Eine große Stille. Eine großartige Stille. Eine gefüllte Stille, in der sich neu sortiert was war, und was ist und was sein wird. Eine große, wenn auch ganz andere Stille wohl auch im Blick und in den Gedanken derer, die mit Jesus sind – die Stille staunenden Nichtverstehens und fassungsloser Ergriffenheit.
Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Das Gegenteil von Furcht ist nicht Mut, schon gar nicht Hochmut oder Übermut oder welcher Mut auch immer. Das Gegenteil von Furcht ist Glauben, Vertrauen. Das ist der Anfang von allem. Vielleicht hätten sie das Boot alleine durch Wind und Wellen steuern und selbst die auf Deck sich sammelnden und Schräglage verursachenden Wasser in den Griff kriegen können, wenn sie, anstatt panisch an Bord umher zu laufen und nur auf die Wellen und nicht auf die bereitstehenden Eimer zu schauen, getan hätten, was sie hätten tun können.
Vielleicht hätten sie die Gefahr überwunden, wenn sie sich nicht von der Gefahr hätten überwinden lassen. Vor allem aber – und darum geht es dem Evangelisten ja in erster Linie – hätten sie, anstatt sich panisch von Gott und allen guten Geistern verlassen zu fühlen, einfach hingehen können zu ihm und eingestehen: Herr, wir brauchen Deine Hilfe. Hilf uns, orientiere uns, hilf uns zu schauen auf das, was jetzt Not tut, weil es notwendig ist. Tu, was wir nicht tun können. Hilf. Rette. Seid nicht furchtsam. Habt Glauben. Vertraut.
Und jene auf dem Meer, die auf dem Weg der Sehnsucht nach Leben elendig verreckt sind? Und jene mit der bösen Diagnose, die gebetet haben und geweint und geschrien und gehofft? Und all jene mit den geplatzten Träumen, den zerbrochenen Beziehungen und gebrochenen Herzen und alle, deren Stimmen aus den Wassern gescheiterten Lebens sich erheben und nach und fassen, die wir sicher in unsren Booten sitzen und gleichwohl zumindest manchmal ahnen, dass Wind und Wellen uns näher sind als wir wahrhaben wollen? Haben sie nicht geglaubt? Haben sie nicht vertraut?
Wer bin ich, darüber zu urteilen. Rettung in Wind und Wellen ist möglich. Darauf vertraut der Evangelist. Und darauf will auch ich vertrauen.
Wie diese Rettung aussieht? Ich weiß es nicht. Nicht immer verstummt das Tosen. Vielleicht aber ist das Einstimmen in ihre Melodie auch so etwas wie Rettung? Vielleicht ist das Sich-Fallen-Lassen in die tosenden Wasser auch nicht gänzliche Verlorenheit? Ich weiß es nicht.
Der Evangelist lässt Jesus im ersten Kapitel angesichts einer Menge von Menschen, die auf Heilung durch ihn hoffen, weiterziehen. Er kann nicht allen helfen. Er hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Das Handeln Jesu ist zeichenhaft, gleichnishaft. Eines Tages vielleicht werden Menschen nicht mehr umkommen in Wind und in Wellen. Aber noch ist es nicht so weit. „Schon“ und „noch nicht“ – da kommen wir nicht raus in diesem Leben. Und doch habe ich auch jenen gegenüber, denen das Wasser bis zum Halse steht, keine andere Antwort und keine andere Hoffnung als die: Gott ist nahe, Gott ist da. Mitten in Wind und Wellen. Sei nicht furchtsam – vertraue. Und auch wenn Du furchtsam bist – vertraue.
Mal stillt er den Wind und die Wellen. Mal kommt er über Wind und Wellen Dir ganz entgegen. Mal verwandelt er Dich und Deinen Blick.
Das hoffe ich. Mehr weiß ich nicht.
Und sie fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der, dass ihm Wind und Wellen gehorsam sind! Merkwürdig eigentlich, dass sie untereinander sprechen, oder? Er steht ihnen doch gegenüber und hätte Antwort geben können. Manchmal könnte es helfen, nicht übereinander zu reden, sondern miteinander. Das gilt für uns Menschen – und das gilt wahrscheinlich doch auch für uns und Gott, oder?
Und doch, ob sie es verstanden hätten? Zumindest der Evangelist Markus ist skeptisch. Immer wieder lässt er Jesus Wunder tun und Gottes Wort sprechen und ihn das Gottesreich den Menschen anschaulich vor Augen malen. Und immer wieder verstehen sie nicht. Halten ihn für einen Wundertäter oder Propheten, für einen Therapeuten oder Superstar, für einen göttlichen Menschen und wohl manchmal auch einfach für ein bisschen ver- oder entrückt.
Es wird dauern, bis sie verstehen. Und der erste, der versteht, ist nicht einmal einer der Seinen, sondern ein Römer unter dem Kreuz. Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wir sind noch nicht einmal in der Passionszeit angekommen, geschweige denn beim Kreuz.
Und selbst, wenn wir dort stehen werden: Verstehen wir besser?
Amen.