Wenn Gott die Lasten verteilt, wirds bunt - Predigt zu Num 11, 11-12. 14-17. 24-25 von Michael Greßler
11,11-12.14-17.24-25

I. Was zu schwer ist zu tragen

»Mose sprach zu dem Herrn:
Was bekümmerst du deinen Knecht?

Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen,
dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst?
Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren,
dass du zu mir sagen könntest:
Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt,
in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast?
Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber,
wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe,
damit ich nicht mein Unglück sehen muss.«

»Ich kann nicht mehr«.
Ich höre Mose klagen. Und ich fühle, wie es ihm geht.
Als würde er einen Riesenstein tragen müssen, die ganze Zeit …

Die Arme schmerzen. Schweiß rinnt ihm von der Stirn.
Das letzte bisschen Kraft verlischt gerade wie ein glimmender Docht.
Und die Seele wird müde … so müde.               
»Ich kann nicht mehr«.

Pfingsten ist etwas für Leute, die nicht mehr können.

 

II. Vereinswesen

»Und der Herr sprach zu Mose:
Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels,

von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk
und seine Amtleute sind.«

Wenn ich nicht mehr kann, dann frage ich andere.
Dann bitte ich um Hilfe.
Und ich finde immer welche.
Gemeinsam geht das besser.
Sie nehmen mir etwas ab. Sie geben mir von ihrer Kraft.
Sie haben alle ihre eigenen Stärken, können anderes und mehr als ich.
Und sie haben ihre Schwächen. Da kann ich vielleicht helfen.

Pfingsten ist etwas für Leute mit Gemeinsinn.
Kirche wächst im Miteinander und Gemeinde wird gemeinsam gebaut.

Allerdings: Nur Gemeinsinn reicht nicht.
Den haben wir auch im Kaninchenzüchterverein, und das ist gut so.
Aber er macht noch keine Kirche.

 

III. Klage

»Mose sprach zu dem Herrn:
Was bekümmerst du deinen Knecht?

Warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen?
Laß mich doch nicht mein Unglück sehen …«

Es fängt erst einmal mit Klage an –
mit dieser mächtigen Klage des Mose: »Ich kann nicht mehr«.
Und er klagt richtig – also: Richtig sehr.
Aber auch in die richtige Richtung.

Mose klagt. Er jammert nicht. Diese Klage ist kein Gemecker –
wie böse doch die Welt ist. Und wie blöd die anderen.
Und »die da oben« machen doch eh, was sie wollen.
Mose klagt es Gott.
Seine Klage ist ein Gebet.
Ein intensives, inniges Herzensgebet:
Gott, ich kann nicht mehr.

Pfingsten ist etwas für Leute, die über sich hinausschauen.
Und die wissen, wohin sie schauen müssen.

 

IV. Geistkraft

»Gott sprach zu Mose: Bringe die Siebzig vor die Stiftshütte
und stelle sie dort vor dich,

so will ich herniederkommen und dort mit dir reden
und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen,
damit sie mit dir die Last des Volks tragen
und du nicht allein tragen musst.«

Gott hilft Mose.
Er stellt ihm siebzig Helferinnen und Helfer an die Seite.
Da haben wir wieder das mit dem Gemeinsinn.
Und doch haben wir unendlich mehr.
Sie finden sich nicht einfach so zusammen.
Gott verbindet sie.

Die Geistkraft Gottes – er verteilt sie.
Und das verbindet. Das hilft.
Das macht Gemeinde – damals in Israel.
Und hier und heute in Kirche und Gemeinde.

Pfingsten ist etwas für Leute, die Gott was zutrauen.

 

V. Verzückung

»Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des Herrn
und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks
und stellte sie rings um die Stiftshütte.
Da kam der Herr hernieder in der Wolke
und redete mit ihm und nahm von dem Geist,
der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten.
Und als der Geist auf ihnen ruhte,
gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.«

Da kann allerhand passieren.
Ich weiß nicht, wie das genau war, damals bei Mose und den Siebzig.
Aber es war wohl sehr lebendig, bunt;
und es war nicht zu übersehen:
Die sind ergriffen.
Wer weiß, was sie gemacht haben – geredet und getan –
bestimmt jede und jeder etwas anderes.
Und es war bestimmt auch ziemlich verrückt.

So darf Kirche sein! So soll sie sein.
Sehr bunt und voll Leben.
Es gibt eigentlich nichts, was nicht sein darf.
Probiert es ruhig aus.

Pfingsten ist was für Leute, die auch noch mit dem völlig Abgedrehten rechnen.

 

VI. Una Sancta

Das wird dann natürlich ein sehr lebendiges Ding.
Nicht alles wird mir gefallen.
Manches werde ich lieben.
Und manches verrückt finden.
Manches vielleicht sogar falsch.

Aber ich will den Geist wehen und die Geistkraft wirken lassen.
Unbedingt.

Da muss und will ich auch die anderen aushalten.
Die Stillen und die Lauten,
die Erneuerer und die Bewahrer,
die Traditionalistinnen und die, die voran gehen –
und die Konfessionen und die verschiedenen Glaubensweisen –
weiß ich denn, wo die Wahrheit ist? Ob ich sie habe?
Das weiß ich nicht.

Aber ich weiß von Gottes Geistkraft.
Und dass sie wirkt.
Auf so viele Weisen.

Da muss ich die anderen schon so sein lassen,
wie Gott sie nun mal gemacht hat.
Und ich selbst »hänge mich voll rein« – so gut ich kann.
Gemeinsam mit all den anderen.

Pfingsten ist etwas für Leute, die die Vielfalt lieben.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Michael Greßler

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Predigt in zahlreichen Pfingstsonntagsgottesdiensten mit Besucher*innenzahlen von 5 bis 50.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Wahrnehmungsübungen, Exegese, Textmeditation, Austausch mit befreundeten Kolleg*innen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Den AT-Text als Pfingsttext predigen, ohne ihn zu vereinnahmen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt zu ‚feilen’ ist für mich Grundhandwerkszeug. Dazu gehört auch und vor allem das (laute!) Üben des Textes, möglichst in einer der Kirchen.

Perikope
06.06.2022
11,11-12.14-17.24-25