Wer bin ich? - Predigt zu Mk 8,31-38 von Julia Neuschwander
8,31-38

Wer bin ich? - Predigt zu Mk 8,31-38 von Julia Neuschwander

I

Liebe Gemeinde,

„Wer bin ich?“ – So lautet der Titel eines Gedichts von Dietrich Bonhoeffer. Der evangelische Theologe hat dieses Gedicht im Gefängnis geschrieben. Im Jahr 1943 wurde er verhaftet und in das Wehrmachtsgefängnis in Berlin-Tegel gebracht. Nach wochenlangen Verhören und Schikanen beruhigte sich die Lage für ihn allmählich etwas. Dietrich Bonhoeffer durfte in seiner Haft gelegentlich Pakete und Besuche empfangen. Er sprach in diesen Zeiten wohl viel mit Mithäftlingen und auch mit seinen Bewachern, die bei ihm Nähe, Rat und Trost suchten und fanden. Er schrieb in dieser Zeit viele Briefe, Gedichte und Abhandlungen. Einiges davon konnte er mit der Hilfe von ihm zugetanen Gefängniswärtern aus dem Gefängnis schmuggeln. Einer dieser Texte ist das Gedicht aus dem Jahr 1944 mit dem Titel „Wer bin ich?“.

„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest, wie ein Gutsherr au seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. (….) Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle (….) ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?“

Dietrich Bonhoeffer beschreibt in dem Gedicht, wie er spürt, wie ihn die anderen wahrnehmen, nämlich als frei und freundlich und klar, aber dass seine inneren Gefühle ganz andere sind, nämlich dass er sich unruhig, sehnsüchtig und krank fühlt. Er fühlt sich zerrissen. Wer ist er wirklich, der, den die anderen wahrnehmen, der gelassene, heitere, feste Mensch, der seine Haft geduldig erträgt und noch andere tröstet? Oder der ohnmächtig Bangende, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

„Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“ fragt er sich. „Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?“ Sein Gedicht mit mehreren Strophen beendet er schließlich mit den Zeilen:

„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“

II

„Wer bin ich? Dein bin ich, o Gott!“ – Wie Dietrich Bonhoeffer stellen auch wir uns heute manchmal die Frage: Wer bin ich? 

Wenn wir selbst uns das fragen – die eine nachdenklich, der andere verzweifelt –, geht es oft um Erwartungen. Das können die Erwartungen der Eltern, der Freund:innen sein oder die Erwartungen des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin, vermischt mit unseren eigenen Erwartungen an uns selbst. Jugendliche fragen sich, welchen Beruf sie ergreifen möchten. Sie fragen sich, wie will ich mal leben? Welche Ausbildung mache ich am besten? Wo komme ich wie an? Erwachsene fragen sich, wie sie die nächsten Jahre gestalten wollen, das nächste Jahrzehnt. Wie viele Kinder möchte ich haben? Welche Beziehung möchte ich führen? Wo wohne und arbeite ich? Was ist dabei mit den Träumen, die ich mal als Kind oder Jugendliche hatte?
Nicht immer lassen sich alle Erwartungen, fremde und eigene, unter einen Hut bringen. Dabei geht es eigentlich gar nicht darum, dass andere mir sagen, wer ich sein soll. Sondern dass ich mich selbst frage und versuche, dies herauszufinden: Was ich möchte und wer ich wirklich bin.

Eine wichtige theologische Erkenntnis der letzten Jahrzehnte ist, dass wir Menschen das, was wir sind, also unsere eigene Identität, gar nicht selbst erschaffen können. Es ist eine Illusion zu glauben, dass es Vollkommenheit in dem geben könnte, wie wir uns selbst erschaffen oder entwickeln. Ob wir sehr klug, sehr erfolgreich, sehr schön, sehr gläubig oder sehr glücklich sein möchten – es wird uns nicht gelingen. Denn unser Leben ist ein Leben mit Brüchen und Krisen, mit Anfängen und Abbrüchen. Wir haben dabei nicht alles selbst in der Hand.

Wenn alte oder sehr alte Menschen manchmal sehr bewusst auf ihr Leben zurück blicken, dann erscheint ihnen ihre Lebenslinie nur selten klar und gerade. Ihr Leben – stellen sie im Rückblick fest – verlief gar nicht linear, sondern in vielen Schleifen und Mäandern wie ein natürlicher Flusslauf in der Landschaft. Es gab Aufbrüche und Umzüge, geplante und ungeplante. Menschen, die ihnen wichtig und nahe waren, starben oder waren nach einer gewissen Zeit nicht mehr in ihrer Nähe. Die eigenen Pläne ließen sich nicht immer umsetzen, sei es in Bezug auf die eigene Berufswahl, in der Kindererziehung, im Umgang mit der eigenen Familie oder mit Freund:innen oder sei es der Wunsch, ein Haus zu bauen oder ein Stück Land zu bewirtschaften.
Vieles von dem, was sie sich vorgenommen hatten, konnten sie, so stellen sie im Nachhinein fest, nicht vollständig umsetzen. „Jetzt erkenne ich stückweise in einem Spiegel ein dunkles Bild, aber dann werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“, so heisst es dazu im 1. Korintherbrief im 13. Kapitel. Wer bin ich? Das zu erkennen, ist uns Menschen nicht wirklich möglich. Unser Leben verläuft bruchstückhaft und wir Menschen erkennen uns selbst wohl auch nur bruchstückhaft in dem, was uns wirklich ausmacht. Das wiederum zu erkennen, ist sehr ernüchternd und für viele mit Scham und Traurigkeit verbunden.

Gleichzeitig heisst es auch für uns: Wir sind dadurch in diesem Leben befreit davon, selbst zu voller Identität und Ganzheit zu kommen. Wir dürfen unsere Anstrengungen leichter nehmen. Wir dürfen unseren Anspruch, perfekt sein zu wollen, getrost aufgeben. Gott ist es, der uns ganz und gar kennt. Die göttliche Geisteskraft ist es, die allein uns ganz macht, heil und vollkommen in all unserer Gebrochenheit und Unvollkommenheit. Wenn wir dies erkennen, können wir vielleicht ähnlich vertrauensvoll wie Dietrich Bonhoeffer sagen: „Wer bin ich? Dein bin ich, o Gott!“

III

Die Passionszeit bietet mir die Chance zu einem „Mehr“ zu kommen, zu einem „Mehr“ als das, was vor Augen ist. Ich kann mich in den nächsten Wochen aus meinem dunklen Spiegel heraus aufmachen und Klarheit suchen. Ich versuche, freundschaftlich zu mir selbst zu sein und die Dinge an mich heran zu lassen. In der Zeit bis Ostern nehme ich mir die Zeit, dem Ruf in die innere und äußere Freiheit zu folgen. Ich kann herausfinden, dass ich „ganz anders“ bin, also Seiten habe, die ich noch gar nicht kenne. „Will mir jemand nachfolgen….“, heißt dann: Ich kann herausfinden, dass ich befreit und vollendet auf die Zukunft hin bin. In dieser Zukunft wird es keinen Tod, keine Tränen, kein Geschrei, keinen Schmerz und kein Leid mehr geben. „Will mir jemand nachfolgen….“, heißt: Ich suche mir kein fremdes Kreuz, keine fremde Not, kein fremdes Leiden, dass ich mir aufschultern lasse, sondern ich trage ganz einfach nur mein eigenes Kreuz. Dieses Kreuz muss ich nicht lange suchen, es ist sowieso schon bei mir da, weil ich Mensch bin. Ich kann in den nächsten Wochen erfahren, dass ich Mensch bin, begrenzt, bedürftig und angewiesen auf andere wie ein kleines Kind, das gehalten und getragen wird. Das kann für mich zugleich ernüchternd und tröstlich sein.

IV

Dietrich Bonhoeffer hat die Worte unseres Predigttextes schon im Jahr 1932 in seinem Buch mit dem Titel „Nachfolge“ aufgenommen. „Das Leben des Nachfolgenden bewährt sich darin, dass nichts zwischen Christus und ihn tritt.“ So schrieb er 1932 darin.

Für ihn war Nachfolge ein großes Freiheitsmoment in den bedrückenden Zeiten, in denen er lebte. Nachfolge bedeutete für ihn ganz konkret innere und äußere Freiheit. Sie gab ihm Mut und Kraft zum Widerstand gegenüber Adolf Hitler, gegen den Nationalsozialismus und den Antisemitismus, der sich immer mehr entwickelte. Das war das „Mehr“ für ihn, das er für sich als Christ gefunden hatte.

Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Trachtet nach dem, was auf Erden ist! Daran entscheidet sich heute viel, ob wir Christen Kraft genug haben, der Welt zu bezeugen, dass wir keine Träumer und Wolkenwandler sind. Dass wir nicht die Dinge kommen und gehen lassen, wie sie sind, dass unser Glaube wirklich nicht das Opium ist, das uns zufrieden sein lässt inmitten einer ungerechten Welt. Sondern dass wir, gerade weil wir trachten nach dem, was oben ist, nur umso hartnäckiger und zielbewusster protestieren auf dieser Erde.“

Dieser Text von Dietrich Bonhoeffer hat diese Woche eine neue Aktualität gewonnen durch die Invasion der russischen Armee in ein europäisches Nachbarland. In Europa ist das in den letzten Jahren für unfassbar Gehaltene wieder Wirklichkeit geworden: die gewaltsame Missachtung von Grenzen, Freiheitsrechten und Menschenleben. Für uns Christinnen und Christen in der Tradition von Dietrich Bonhoeffer bedeutet das, dass wir gerade jetzt unsere Stimme erheben müssen für eine gerechte Welt in Freiheit und Frieden. Mit Gottes Hilfe.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Julia Neuschwander: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Diese Woche ist die russische Armee in die Ukraine eingefallen. Viele Menschen in der Ukraine sind auf der Flucht oder andere in Lebensgefahr, viele gestorben.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Mein Widerstand gegen die für mich zunächst unfassbare Forderung im Text „Verleugne dich selbst“ und meine Begeisterung für die kraftvollen Texte Dietrich Bonhoeffers.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Theologische (Neu)Entdeckungen wie „Rechtfertigung von Lebensgeschichten“, „fragmentarische Identität“ und „Nachfolge“.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt hat im letzten Redaktionsschritt – durch Aussortieren einiger Themen – in ihrer Aussage eine Zentrierung erfahren.

Perikope
Datum 27.02.2022
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 8,31-38