Wer bist du? Drei Tischgespräche - Predigt zu Mt 9,9-13 von Jürgen Kaiser
9,9-13

Und als Jesus von dort weiterzog, sah er einen Mann, der Matthäus hieß, am Zoll sitzen. Und er sagt zu ihm: Folge mir! Und der stand auf und folgte ihm.

Gerne würde ich euch mehr erzählen über diesen Menschen, aber ich weiß fast nichts über ihn. Ich weiß nur, dass er Matthäus hieß und am Zoll saß und dass er aufstand und mit Jesus mitging. Ich weiß nicht, ob er eine Frau hatte und Kinder, und ob er sie verließ, als er Jesus folgte. Ich kann nicht sagen, ob er nur mal probehalber mitging, ein befristetes Schnupperpraktikum, um zu sehen, ob es was wäre, was fürs Leben oder doch nicht. Ich weiß nicht, ob er reich war und ob er was in die Gemeinschaftskasse der Jünger einzahlen musste. Gern würde ich auch wissen, was für ein Mensch er war, ob ehrlich oder gerissen. Ich soll über ihn predigen und weiß doch fast nichts über diesen Matthäus. Wir wissen so wenig über die Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Vielleicht sollte ich mich nicht so zurückhalten. Der Mensch saß immerhin am Zoll. Soll wohl heißen, er war Zöllner. Damit ist doch alles gesagt! Er war ein Kollaborateur und er war korrupt. Zöllner standen im Dienst der römischen Besatzer. Sie pachteten eine Zollstation und konnten gern deutlich mehr einnehmen als das, was sie an Pacht zahlten. Sie wirtschaften in die eigene Tasche – von den Römern geduldete Korruption.
Matthäus also war ein Zöllner. Ich würde trotzdem gern wissen, ob er ein Zöllner war, wie es im Buche steht, oder ein anständiger Zöllner. Gibt es das überhaupt: einen anständigen Zöllner? Ich würde gern wissen, ob er glücklich war mit seiner Berufswahl. Ob er überhaupt eine Wahl hatte? Ob es ihm etwas ausmachte, einen zwar einträglichen, aber keinen angesehenen Beruf auszuüben. Ich würde gern wissen, ob Matthäus ein schlechtes Gewissen hatte und die dadurch verursachten Qualen mit Geld und einem gewissen Luxus betäuben konnte. Oder ob er kein Gewissen hatte und sich sagte: Was die anderen denken, ist mir egal; ich nutze die guten Verdienstmöglichkeiten, die die Römer bieten.

Ich gäbe etwas darum, mit diesem Matthäus sprechen zu können. Ich würde ihn zum Essen einladen. Beim Essen lernst du einen am besten kennen. Das geht schon bei der Auswahl der Speisen los. Isst eine alles, oder ist sie wählerisch? Wie nimmt er Messer und Gabel zur Hand? Redet sie auch oder konzentriert sie sich nur aufs Essen? Nimmt er nur sich selber oder reicht er auch den anderen die Speisen? Beim Essen lernst du einen Menschen gut kennen.

Tischgespräch 1: Jesus und Matthäus

Das wird sich auch Jesus gedacht haben: Beim Essen lernst du einen richtig kennen. Also ging er mit Matthäus, den er gerufen hatte und den er kennenlernen wollte, essen.
Sie kamen ins Gespräch. Sicher wird sich Jesus nach Matthäus erkundigt haben, ob er Familie habe, was er mit seinem Geld mache, welchen Pachtvertrag er mit den Römern habe, ob er glücklich mit seinem Beruf sei. Und dann werden sie ja nochmal besprochen haben, was das heißt, Jesus zu folgen. Man verlässt seine Familie, man verzichtet auf Besitz, man lebt von der Hand in den Mund, man vertraut auf die Gastfreundschaft. Es sei ein freies und ungebundenes Leben; man versuche, sich von allen Bindungen an Irdisches loszusagen. Aber das bedeute nicht, dass jeder machen könne, was er wolle. Es gebe Regeln. Und wenn einer die Regeln breche, werde er von seinem Bruder darauf hingewiesen. (Mt 18,15
Ich weiß nicht, wie dies Gespräch, wenn es überhaupt stattgefunden hat, ausgegangen ist. Ich weiß nicht, ob Matthäus bei Jesus geblieben ist und ein neues Leben angefangen hat oder ob er zu seiner Zollstation und in sein altes Leben zurückgekehrt ist. Ob dieser Matthäus der Matthäus ist, der kurz darauf unter den zwölf Jüngern genannt wird (Mt 10,3), weiß man nicht genau.

Was wir aber wissen, ist, dass außer Matthäus noch weitere Zöllner sowie andere Menschen zweifelhaften Rufes mit ihm aßen und sprachen und dass dann auch ein paar Pharisäer kamen. Nicht, um mit ihm zu essen, sondern um nachzusehen, mit wem sich Jesus da gemein macht.
Und es geschah, als er im Haus bei Tisch saß, dass viele Zöllner und Sünder kamen und mit Jesus und seinen Jüngern bei Tisch saßen. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Er hörte es und sprach: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Geht aber und lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Gerne würde ich euch mehr erzählen über diese Pharisäer. Aber ich weiß nicht mal, wie sie hießen. Ich weiß nur, dass sie Pharisäer sind. In den Evangelien lese ich, dass sie oft Streit mit Jesus suchten. Aus anderen Büchern aber erfahren wir, dass sie in vielem ganz ähnlich dachten wie Jesus. Also müssen sie miteinander ins Gespräch gekommen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Pharisäer nichts auf das erwidert haben, was Jesus ihnen antwortete. Das Gespräch muss weitergegangen sein, obwohl es uns nicht berichtet wird.

Wir sollten daher jetzt unseren Glauben in Anspruch nehmen. Die Geschichten, die Jesus angefangen hat, gehen gut aus, weil sie Geschichten Gottes sind. Der Glaube setzt genug Fantasie frei, um auch die Geschichten über Menschen, die wir kaum kennen, gut ausgehen zu lassen. Der Glaube kann sich gut vorstellen, wie das ausgeht. Etwa so:

Tischgespräch 2: Jesus und die Pharisäer

Die Pharisäer kamen also, hörten sich an, was Jesus auf ihre Nachfrage antwortete und gaben zu verstehen, dass sie das gut verstanden haben. Denn auch ihnen sei Barmherzigkeit nicht fremd und auch ihnen sei es wichtiger, die Sünder zur Umkehr zu rufen und zu heilen, statt sie zu verurteilen.
Was aber sei mit denen, die nicht geheilt werden wollen? Die gäbe es ja auch, warf einer der Pharisäer ein. Ein anderer pflichtete bei: „Es gibt tatsächlich Menschen, die sehen es gar nicht ein und wollen nicht umkehren. Die haben keinerlei Unrechtsbewusstsein.“ – „Und nicht zu vergessen die, die selbst nie barmherzig sind, sondern hart und kalt“, ergänzte ein Kollege. „Können sie Barmherzigkeit von anderen erwarten? Können sie auf Gottes Barmherzigkeit hoffen?“ Und sie fragten Jesus, ob er nicht auch solche frustrierenden Erfahrungen gemacht habe, Erfahrungen mit unheilbaren Sündern?
Auch bei ihm gebe es Regeln, gab Jesus zu, und wer sie nicht einhalte, könne nicht bei ihm bleiben. Aber ihm sei wichtig, zuerst mit denen zu sprechen, über die er sich ärgere, bevor er sie verurteile. Er wolle erst erfahren, warum sie die Regeln nicht einhalten können, ob sie zu schwach seien oder ob andere Prinzipien dagegenstünden.
So kamen Jesus und die Pharisäer ins Gespräch. Ich stelle mir vor, dass es ein dichtes Gespräch über Regeln und Menschen wurde, ein Diskurs über Ethik im besten Sinne des Wortes. Sie sprachen über die Notwendigkeit von Werten und Prinzipien für das gesellschaftliche Zusammenleben. Wenn man aber nur auf diese Werte und Prinzipien schaue, könne es sein, dass man den konkreten Menschen aus dem Blick verliere. Den Pharisäern war dieser Gedanke nicht fremd. Auch über die Frage, ob man unter bestimmten Voraussetzungen Gesetze brechen dürfe, sprachen sie. Etwa, wenn ein höherer moralischer Wert es erfordere. Ob man etwa am Sabbat heilen dürfe (Mt 12,10–13). Und wenn es damals schon die sogenannten „Klimakleber“ gegeben hätte, würden sie sicher auch darüber gesprochen haben; ob deren Gesetzesbrüche, ob die Nötigung im Straßenverkehr ein legitimes Mittel sei, um darauf aufmerksam zu machen, dass dringend mehr gegen den Klimawandel getan werden müsse.
Doch die Pharisäer kamen wieder auf die Zöllner-Frage zurück. Sie erinnerten daran, dass es die Gesellschaft sei, die nach Orientierung verlange und darum nach Werten, Prinzipien und Regeln frage. Wer aber aufgefordert sei, Werte zu formulieren, müsse auch sagen, wo die Grenzen liegen und was eben nicht mehr gehe. Zöllner-Sein sei dann eben mit diesen Werten nicht mehr vereinbar, meinten die Pharisäer. Wer Geld eintreibt, um die Besatzungsmacht zu finanzieren, verlasse den Boden des Gesetzes Gottes.
„Redet mit Matthäus“, sagte Jesus. „Redet mit ihm, er sitzt hier am Tisch. Und wenn ihr ihn kennengelernt habt und immer noch der Meinung seid, er sei ein Sünder, dann sagt es ihm ins Gesicht.“
Und so setzen sich die Pharisäer zu Matthäus und lernen ihn kennen.

Tischgespräch 3: Matthäus und die Pharisäer

Wie mag nun dieses Gespräch ausgegangen sein? Es mag sein, dass er trotzig zu seiner Zollstation zurückkehrte, weil ihm das ganze moralische Geschwätz auf die Nerven ging und sich die Pharisäer daraufhin bestätigt fühlten: Zöllner sind und bleiben unverbesserliche Sünder.
Oder Matthäus ging zu seiner Zollstation zurück, aber nicht trotzig, sondern traurig und mit schlechtem Gewissen, denn er wusste genau, dass er nicht den saubersten Beruf hatte. Doch er konnte nicht aus seiner Haut. Er hatte Verantwortung für andere. Seine Familie, seine Mitarbeiter waren auf seine Einkünfte angewiesen.
Es könnte allerdings auch sein, dass ihn die Argumente der Pharisäer überzeugt hatten: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Deshalb würde er bei den Römern kündigen, seinen Beruf aufgeben und bei Jesus bleiben.

Ich weiß nicht, wie dieses Gespräch zwischen dem Zöllner und den Pharisäern ausgegangen ist, wenn es überhaupt stattgefunden hat. Ich glaube aber, dass das Gespräch allen zu denken gegeben hat. Alle haben über sich nachgedacht, der Zöllner über seinen Beruf und sein Verhalten und die Pharisäer über ihre Werte und Prinzipien. Es war dann auch kein Gespräch zwischen Pharisäern und einem Zöllner, sondern ein Gespräch zwischen Matthäus und Menschen, deren Namen Matthäus kennengelernt hat. Dass Matthäus Zöllner war und die anderen Pharisäer waren, das hat in diesem Gespräch irgendwann kaum mehr eine Rolle gespielt.

Wer bist du, Matthäus? Wer seid ihr, ihr Pharisäer? Wir wissen so wenig über die Menschen, über die wir urteilen.
Bevor du überprüfst, ob sich Menschen an die Werte und Prinzipien halten, die dir wichtig sind, rede mit ihnen, lerne sie kennen, höre ihre Geschichten an, frag nach ihrem Glauben und frag nach ihrem Namen! Und geh mit ihnen essen! Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Dr. Jürgen Kaiser

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Bildungsbürgerlich geprägte, kulturell interessierte Großstadtgemeinde, teils mit historischem Migrationshintergrund (Hugenotten) und hohem Akademikeranteil, darunter einige Theolog/inn/en und Ruhestandsgeistliche.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die einfache Einsicht, dass man Menschen, die man nicht persönlich kennt, in Schubladen einordnet und Menschen aus Schulbladen und hinter Vorurteilen hervorkommen, wenn man mit ihnen spricht und sie kennenlernt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Jesus befreit zwar die Zöllner von ihrer Stigmatisierung, aber er bzw. die Evangelien stigmatisieren die Pharisäer. Es ist unsere Aufgabe, auch die Pharisäer aus der Stigmatisierung durch die Evangelien herauszuholen.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich wurde auf einige störende Redundanzen aufmerksam gemacht, so dass einige Abschnitte gekürzt und verdichtet werden konnten, andere hingegen waren zu dicht und mussten etwas gelockert und konkretisiert werden.

 

Perikope
05.02.2023
9,9-13