Liebe Gemeinde,
am kommenden Donnerstag geht es los. Es wird wieder hoch hergehen, jedenfalls bei den Fußballfreunden. In Russland beginnt die Weltmeisterschaft der Männer, und natürlich ist auch die deutsche Mannschaft dabei. Ich kann mich noch lebhaft an das „Sommermärchen“ vor zwölf Jahren in Deutschland erinnern, ob gekauft oder nicht, und erst recht an die Weltmeisterschaft vor vier Jahren, als Deutschland wieder mal Weltmeister wurde. Begeisterung und Jubel allenthalben. In den Stadien, auf den „Fanmeilen“ beim „Public Viewing“ und an den heimischen Bildschirmen wird gefiebert, gebrüllt, gestöhnt, da werden Sprechchöre angestimmt, es kommen Freuden- oder Schreckenslaute aus vielen Kehlen. Erwachsene und junge Menschen statten sich mit Fan-Artikeln aus oder verkleiden sich witzig und manchmal verrückt, malen sich in den jeweiligen Nationalfarben an. Selbst Pfarrer werden davon nicht verschont: Ich habe erlebt, wie ein geschätzter Amtsbruder bei der Fernsehübertragung des Spiels Portugal gegen Deutschland mit Portugal-Cap auf dem Kopf und mit Germany-T-Shirt am Leib erschien - immerhin ausgewogen!
Manche von uns sind bestimmt auch jetzt wieder mit Herzen, Mund und Händen dabei, wenn am nächsten Sonntag Mexiko und Deutschland gegeneinander antreten. Ich kenne das auch, obwohl ich kein fanatischer Fußballfan bin: Ich gucke mir das an, in mir fiebert dann etwas mit, ich kann mich dem einfach nicht entziehen. Und wer mal im Stadion war, kennt auch dieses „Oaaah“ aus zehntausenden Kehlen, wenn der Ball zentimeternah am Tor vorbeifliegt, und erst recht den ohrenbetäubenden Schrei, wenn er „drin“ ist. Dann ist der Verstand weg, und das Gefühl bordet über.
In Korinth scheint bei den Erwachsenen Ähnliches geschehen zu sein, die sind zwar, soweit wir wissen, keine Fußballfans, sondern mit Sicherheit Anhänger des antiken Olympia. Es war jedoch ausgerechnet beim Gottesdienst der christlichen Gemeinde eingerissen, den Gefühlen freien Lauf zu lassen und geradezu in Ekstase zu geraten. Sie wurden von ihrer Begeisterung so mitgerissen, so dass sie nur noch unverständliches Gestammel hervorbrachten. Dann begannen sie zu zappeln und zu tanzen und dabei Unverständliches zu lallen. Der Verstand war weg, das Gefühl bordete über. Die Korinther werteten das als untrügliches Zeichen für das Wirken des Heiligen Geistes. „Zungenrede“ nannten sie das, wenn Mund und Zunge unkontrolliert und unverständlich Laute ausstießen. Auch heute gibt es das noch in manchen durchaus bedeutenden christlichen Strömungen, wie z.B. in den Pfingstkirchen oder der „Charismatischen Bewegung“. Dort wird solches ebenfalls als unmittelbares Reden mit Gott verstanden. Auch im außerchristlichen Bereich gibt es religiöse Ekstase, etwa bei den tanzenden Derwischen muslimischer Orden in der Türkei oder bei den Schamanen mancher Naturvölker.
Paulus verurteilt das „Zungenreden“ nun keineswegs, er kann damit leben. Er schreibt sogar selbstbewusst: Ich praktiziere es mehr als ihr alle (V. 18), sprich: Ich kann es besser als ihr! Aber er fragt doch auch kritisch nach: Was ist mit denen, die das nicht verstehen? Schließt ihr damit nicht andere Menschen aus? Dieses sogenannte Zungenreden ist doch nicht das Wichtigste, das kann doch nicht das Zentrum christlicher Glaubenspraxis sein! Paulus betrachtet nämlich auch vieles andere als Gabe des Geistes, so etwa Dienste der Nächstenliebe oder in der Verwaltung. Dem prophetischen, verständlichen Reden aber gibt er den Vorrang. Wichtig war ihm, dass die ganze Gemeinde in der Erkenntnis wächst, und dabei kann solche Ekstase im Wege stehen. (Sach- und Worterklärungen, Luther 17).
Und so setzt er sich kritisch mit dem Wesen dieser für uns befremdlichen Praxis auseinander: Wer „in Zungen redet“, ist nur noch bei sich selbst und bei Gott, schreibt er, aber nicht bei den anderen Christen. Der kreist im wahrsten Sinne des Wortes um sich selbst und kündigt sozusagen die „Gemeinschaft der Heiligen“ zumindest zeitweise auf.
Das „prophetische Reden“ aber, das er dagegen setzt, schaltet den Verstand nicht ab und klinkt sich nicht aus der Gemeinschaft aus. Es nimmt stattdessen auch den anderen Menschen in den Blick, „zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung“.
Wenn ihr schon in Zungen reden müsst, dann sollt ihr es nicht übertreiben, mahnt er, sondern auch eine Erklärung, eine Auslegung dazu geben, für alle, die es nicht verstehen, es sozusagen der Kontrolle des Verstandes unterwerfen und für die anderen einen Zugang für den Verstand schaffen. Dann mag es für Paulus angehen. Mit Verstand, eben verständlich reden, das ist für Paulus entscheidend für die Verkündigung, und das ist es bis heute in der Predigtlehre der evangelischen und inzwischen auch der katholischen Kirche.
Nun könnten wir ja meinen, was interessiert uns dieses spezielle Problem der Korinther. Bei uns hier gibt es das nicht. Und doch haben wir mehr damit zu tun als auf den ersten Blick scheint, auch wenn wir keine Pfingstler sind und nicht der Charismatischen Bewegung angehören, wo religiöse Ekstase auch eine Rolle spielt. Alles, was in der Gemeinde an Kommunikation mit Gott und den Menschen geschieht, stellt Paulus unter die Überschrift: „Strebt nach der Liebe!“, und zwar gleich im ersten Vers. Das ist ihm offenbar das Allerwichtigste. Und es ist auch für uns heute ein Grund, uns zu prüfen, ob das bei unseren Lebens- und Glaubensäußerungen geschieht.
Ein Kapitel vorher, im berühmten Kapitel 13 des Römerbriefs, entfaltet Paulus ja mit mächtigen, geradezu unsterblichen Worten seine Gedanken über die Liebe. Und wir werden sicher alle das Schlusswort im Kopf haben, mit dem er seine Ausführungen zusammenfasst: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Das ist einer der bekanntesten Verse der Bibel. Viele Brautpaare, die ich in meinem beruflichen Leben getraut habe, wünschten sich gerade ihn, um ihr gemeinsames Leben davon begleiten zu lassen.
An diese wunderbaren Worte knüpft Paulus unmittelbar an, wenn er sein neues Kapitel so beginnt: „Strebt nach der Liebe!“ Wer sie zum Maßstab seines Reden und Handelns macht, hat begriffen, worauf es ankommt. Zungenrede schön und gut - das liebevolle prophetische Reden, das auch aus dem Herzen kommt, genießt allemal den Vorzug. Sein entscheidendes Merkmal: Man kann es verstehen.
Ob unsere Andachten und Gottesdienste, unsere Gebete und Predigten, alles, was wir in Kirche und alltäglichem Leben an Glaubensäußerungen von uns geben, vor dem kritischen Urteil des Paulus bestehen könnte? Er würde vermutlich nicht wollen, dass bei uns gefühlsüberbordende „Zungenrede“ eingeführt wird. Die liturgische Strenge des Gottesdienstablaufs, die gedankliche und rhetorische Schlüssigkeit der Predigten, die ausgefeilte Glätte der Gebete würden ihm, dem größten Theologen der Christenheit, der ja Gedankenfülle und logische und theologische Klarheit als sein Handwerkszeug mit sich trägt, vermutlich nicht unliebsam sein. Ich nehme aber an, dass er uns, im Gegensatz zu den Korinthern, fragen würde: Ist die prophetische Rede bei euch nicht erlahmt? Vertragen eure Gottesdienste nicht ein bisschen mehr Feuer? Ist euer Glaube noch begeisterungsfähig?
Man hat uns Protestanten ja gelegentlich vorgeworfen, staubtrocken, verkopft und langweilig zu sein, nur den Verstand und nicht auch die Sinne anzusprechen. Da mag etwas dran sein. Deshalb hat es in den letzten Jahrzehnten hier und da neue Ideen in der Gottesdienstgestaltung gegeben, z.B. mit Einbeziehung der Teilnehmenden, mit schmissiger Musik, mit Bildern und Aktionen.
Auch haben wir Evangelischen uns bei den anderen Konfessionen umgesehen und von unseren ökumenischen Geschwistern manches übernommen. Ich nenne nur als Beispiele das Friedenszeichen beim Abendmahl, die Farben von Talar und Stola, die Kerzenbäume in manchen Kirchen, Gebetswände und Handauflegungen, und das alles, um mit Paulus zu sprechen, „zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung“.
Auch wir heute stehen noch immer unter der werbenden Aufforderung des Apostels: „Strebt nach der Liebe!“ Erbauung, Ermahnung und Tröstung sind Ausdrucksformen christlicher Liebe. Wer wollte von sich behaupten, dass er oder sie deren nicht bedürfe? Und wer kann ehrlichen Gewissens sagen, dass es in seiner und ihrer Umgebung keine Menschen gebe, die deren nicht bedürfen und es möglicherweise von uns erwarten könnten?
Lassen wir uns also einfangen von diesen biblischen Worten und das Wirken des Heiligen Geistes erbitten, der uns
- anrege und ermutige zum beherzten Gebrauch unseres Verstandes beim Streben nach der Liebe;
- anrege und ermutige zur phantasievollen Anwendung des Glaubens auch im Alltag;
- anrege und ermutige zu verständlichem Reden und Wertschätzung der Gemeinschaft;
- anrege und ermutige zur „zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung“.
Manche werden das berühmte Zitat aus dem Faust II von Goethe kennen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“. Ich leihe es mir aus und wandle im Sinne des Paulus entscheidend ab: Wer immer strebend sich bemüht, um die Liebe, der hat etwas von der Erlösung begriffen, die in Jesus Christus bereits geschehen ist.
Amen.