Liebe Gemeinde,
I
gibt es in unserer Welt von heute noch Propheten? Oft scheint es so, als seien sie ausgestorben. Fast überall geht es drunter und drüber:
- Das Klima spielt verrückt, weil wir Menschen an der Klimaschraube gedreht haben und weiter drehen. Aber man geht zur Tagesordnung über. Auch unsere Regierung hat ihre Klimaziele in die Zukunft verschoben.
- Millionen Menschen sind auf der Flucht, weil sie in ihren Heimatländern nicht überleben können. Sie riskieren ihr Leben, während wir vor allem darüber nachdenken, wie wir in Europa und in Deutschland möglichst ungeschoren davonkommen.
- Das vereinte Europa bröckelt und neue Nationalismen breiten sich aus. Es ist schick geworden, auf allen Ebenen vorwiegend an sich zu denken und kaum an das Ganze und an den anderen…
Es scheint, als seien die Propheten ausgestorben. Wäre das nicht dringend nötig, dass da ein Prophet aufstünde – einer vom Schlage des Jeremia, der vielleicht zu Beginn seines Dienstes Angst hatte, dann aber mutig den Mächtigen seiner Zeit die Leviten las? Einer, der sie zur Besinnung und Umkehr aufforderte und der ihnen ihre Illusionen vor Augen hielt?
Aber hätten sie denn heute eine Chance, gehört zu werden? Wenn es sie schon gäbe: Sollen sie sich aufstellen – vor dem Weißen Haus in Washington oder vor dem Bundeskanzleramt, vor dem Berliner Dom oder der Peterskirche in Rom und dort ihre scharfen Reden halten? Wer würde denn da zuhören?
Es scheint, als wären die Propheten ausgestorben. Und in gewisser Weise muss das wohl so sein, weil unsere demokratische und pluralistische Gesellschaft ganz anders verfasst ist als die zu Jeremias Zeiten und weil auch Informationen und Meinungen in ganz anderer Gestalt ausgetauscht werden als damals. Es wäre heute unmöglich, einen Propheten in das „Haus des Königs“ zu schicken, damit er dort – vielleicht in einer Kabinettssitzung oder bei einem Festmahl – eine machtvolle Rede hält, etwa nach dem Muster des Jeremia-Buches: „Höre des Herrn Wort, du König von Juda, der du auf dem Thron Davids sitzt, du und deine Großen und dein Volk… So spricht der Herr: Schafft Recht und Gerechtigkeit und errettet den Beraubten von des Frevlers Hand und bedrängt nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen…“ (Jer. 22,2f).
Es ist wahr, dass auch die Großen von heute immer wieder auch Widerspruch brauchen, Bußrufe und Mahnungen. Es ist wahr, dass auch heute klare Worte zur Orientierung in Richtung Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sehr nötig sind. Aber die unterliegen ganz anderen Kommunikationsgesetzen als damals. Da gibt es Kommissionen, in denen Wissenschaftler und Politiker zusammenarbeiten und in denen zukunftsfähige Wege zum Überleben der Menschheit erarbeitet werden. Da erscheint gelegentlich eine Denkschrift, zum Beispiel von der EKD, oder ein Buch, das Gewissen tatsächlich wachrütteln kann. Und da geschieht es – leider oft erst im Rahmen einer Krise oder Katastrophe, dass die Mächtigen eine wirklich nötige und für alle gute Entscheidung treffen und dass diese von Vielen akzeptiert wird. Vielleicht sind die Propheten heute gar nicht ausgestorben, sondern sie treten nur anders auf, benutzen nur andere Medien als allein die zündende Rede und suchen die Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten und Fachleuten?
II
Als ich vor über 40 Jahren als junger Pfarrer ordiniert wurde, überreichte mir ein Kirchenvorsteher aus meiner damaligen Gemeinde in Plauen ein Buch mit einer Glückwunschkarte, auf der einzelne Verse aus dem Jeremia-Text notiert waren: „Der Herr sprach zu mir: Sage nicht, ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dir gebiete…“ Der Kirchvorsteher war offenbar der Meinung, dass Pfarrer gerade als Prediger doch so etwas wie Propheten sein sollten. Dabei dachte er ganz sicher nicht daran, dass Pfarrer die Zukunft vorausahnen sollten. Oder dass ich nun vor allem den damals Mächtigen, den SED-Oberen, kräftig die Leviten lesen sollte. Nein, ich sollte als Pfarrer generell das predigen, was mir Gott gebietet. Ich sollte den Mut haben, nicht das zu sagen, was die Leute gern hören wollen oder was der Zeitgeist denkt, sondern was wirklich Gottes Willen entspricht. Pfarrer sollten sich ganz der Wahrheit verpflichtet fühlen, wie sie ihnen aus der Beschäftigung mit dem biblischen Wort entgegenkommt. Aber sind Pfarrer Propheten? Sollen sie Propheten sein?
In einem Punkt sind Pfarrerinnen und Pfarrer ganz sicher mit Jeremia einig: Manchmal möchten sie, möchten wir sagen: „Ach Herr, ich tauge nicht zu predigen. Ich bin zu jung.“ Oder: „Ich verstehe diesen biblischen Text nicht.“ Oder: „Ich bin von der Situation überfordert. Ich habe kein Wort, das ich angesichts eines schlimmen Todesfalles predigen kann.“ Da gibt es eine Art Solidarität zwischen den Selbstzweifeln des Jeremia und den eigenen Zweifeln – und da möchte man gern die Zusagen dieses Textes auch für sich selbst und den eigenen Verkündigungsdienst in Anspruch nehmen: „Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir…“ Und: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund.“
Aber Pfarrer und Pfarrerinnen, Prädikanten und Lektorinnen sind normalerweise keine Propheten, und sie sollen es auch nicht sein. Denn ihr Amt ist vielfältiger: Sie sind Seelsorger – und deshalb soll auch ihre Predigt seelsorgerlich geprägt sein und Verständnis für die Probleme und Sorgen der Menschen haben. Sie sind Repräsentanten der Kirche – und deshalb erwarten zu Recht die Leute von ihnen, dass sie nicht nur ihren subjektiven Glauben darstellen, sondern auch das vertreten, was die Kirche heute sagt. Oft sind sie mit Kindern, Jugendlichen und Älteren auch gemeindepädagogisch tätig, und so ist auch die Predigt eine Möglichkeit, den Glauben verstehbar zu machen und Wege zu ihm aufzuzeigen… Wenn es in der Geschichte vorkam, dass sich einzelne Pfarrer ganz als Propheten auf der Kanzel gebärdet haben, dann war dieses angebliche Prophetentum meist nur Ausdruck eines tiefen inneren Konfliktes mit der Gemeinde oder eines Gefühls, von der Kirche abgelehnt zu werden. Nein, Pfarrer sind nicht einfach Propheten – so wie Jeremia übrigens auch kein Priester war. Auch evangelische Pfarrer haben ja priesterliche Funktionen zu erfüllen und sich um die verschiedenen heiligen Handlungen, die Sakramente, und die heiligen Räume, die Kirche, und dazu noch um viele Verwaltungsfragen zu kümmern.
III
Aber dennoch: Unser Bibeltext will uns erinnern, dass unsere Kirche nicht sein kann ohne so etwas wie eine prophetische Dimension. Sie muss sich nicht allein ausdrücken in einzelnen aufsehenerregenden Persönlichkeiten wie Jeremia oder Jesaja oder wie Johannes der Täufer es gewesen sind. Aber sie muss spürbar werden in der kirchlichen Verkündigung, vor allem in der Predigt, und auch in den Gesprächen, die wir untereinander über den Glauben führen.
Was meine ich damit? Es geht um einmal die Gewissheit und zum anderen um die Freiheit der Verkündigung. Von beidem ist nämlich in unserem Bibelwort vor allem die Rede:
Von der Gewissheit: „Ich sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest und bestellte dich zum Propheten für alle Völker“, so heißt es hier. Jeremia, der immer wieder einmal von Ängsten überfallen wird, stützt sich in seinem Dienst auf eine Berufung, die nicht nur in seiner Glaubensüberzeugung, in seinem Mut oder in seiner Beredsamkeit gründet. Er weiß sich berufen von Gott selbst – berufen schon vor seiner Geburt. Das macht ihn gewiss. Auf sie kann er sich verlassen, nicht allein auf seine eigene Kraft.
Wir leben in einem Zeitalter, in dem statt dessen vor allem Subjektivität gefragt ist. Auch im Blick auf Lebenseinstellungen, auf die uns bestimmenden Werte und den religiösen Glauben sind wir immer selbst, als Subjekte, gefragt, was uns einleuchtet oder nicht, wozu wir Lust haben oder nicht. Auch den Predigtdienst könnte man ja so verstehen, dass da Leute predigen, denen das eben Spaß macht, die Lust dazu haben, die Bibel auszulegen, oder die gern über ihren Glauben reden wollen. Aber das Wort Gottes soll auch dort gesagt werden, wo die persönliche Lust endet. Wenn der einzige Sohn mit 21 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt und eine Trauerfeier zu halten ist: Kann man da noch „Lust“ haben, hier zu predigen? Es ist gut, wenn wir da als ordinierte und von der Kirche berufene Predigerinnen und Prediger wissen: Es geht nicht nur nach meiner Lust, ob ich predige. Ich bin im Namen Gottes von der Kirche berufen, zu gehen, wohin mich Gott sendet, zu reden, auch wenn ich selbst kaum ein Wort zu sagen weiß, zu warten auf das Wort, das Gott selbst mir in meinen Mund legen wird.
Und von der Freiheit der Verkündigung ist die Rede: „Du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen… Ich setze dich über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“ Was zunächst wie eine Mahnung zum Gehorsam klingt, ist zugleich eine Einladung in die Freiheit der Verkündigung. Es stimmt zwar: Eine Predigt hat auch seelsorgerliche und gemeindepädagogische Aufgaben, und sie wird als ein Wort der Kirche verstanden. Aber letztlich soll sie Gott selbst Raum und Stimme geben. Ihm, Gott, seiner Wahrheit, sind die Prediger letztlich verpflichtet.
Und deshalb kann kein Kirchenvorstand beschließen, was der Pfarrer demnächst zu predigen hat. Er selbst muss die Worte finden und verantworten, die sich ihm aus dem biblischen Wort heraus erschließen. Er muss es in seiner Verkündigung nicht allen recht machen wollen, weder den Fundamentalisten noch den Liberalen, weder den AfD-Anhängern noch den anderen. Er soll vielmehr in der Freiheit seines Dienstes letztlich Anwalt der Wahrheit, Anwalt des Wortes Gottes sein. Vielleicht bekommt er dafür nicht nur Beifall, sondern auch Kritik. Und vielleicht geht es nicht ohne Konflikte ab, nicht ohne „ausreißen und einreißen“, wie es bei Jeremia heißt, bevor dann das „bauen und pflanzen“ wieder seinen Platz hat. Übrigens ist um solcher Freiheit willen der Pfarrer nicht bei der Gemeinde angestellt, sondern bei der Landeskirche – auch wenn er natürlich dann in eine konkrete Gemeinde abgeordnet wird.
Die Verkündigung lebt aus solcher Freiheit, die aus dem Hören auf Gottes Wort entsteht. Prophetisch predigen: das heißt wahrhaftig predigen, ohne falsche Rücksichtnahmen, die das Evangelium wohlfeil machen und ihm die Spitze nehmen. Und das ist nicht nur ein schwieriges Problem, sondern zugleich auch ein Glück. Schon deswegen, weil man manchmal spüren kann, wie Menschen sich nicht ständig nach wohlfeilen Worten, sondern nach dem wahren und wahrhaftigen Wort sehnen.
Sind die Propheten ausgestorben? Vielleicht gibt es in unserer verwirrten Welt mehr „Propheten“ als wir ahnen, Menschen, die sachkundig und engagiert Wege vom Unheil zum Heil suchen und gehen.
Sind die christlichen Propheten ausgestorben? Die christliche Verkündigung heute muss nicht von Prophetengestalten ausgerichtet werden, wie Jeremia einer war. Aber das Prophetische ist für sie unentbehrlich – die Gewissheit, dass Gott selbst die Verkündigung will und Menschen dazu beruft, und die Freiheit, uns dabei allein an seinem Wort zu orientieren und falsche Rücksichten zu vermeiden.
Gott schenke es uns, dass er seine Worte in den Mund derer legt, die zu uns predigen oder die zu uns im Alltag Worte des Glaubens sagen. Und er gebe es uns, dass wir seine Worte heraushören aus den vielen Worten, die uns immer wieder begegnen. Amen