Ausgangsbeschränkung für die Jünger.
Selbstgewählt und alternativlos. Da sitzen sie im Obergemach des Hauses, wo sie immer wieder zusammen gewesen sind. Die elf Jünger. Und Frauen sind auch dabei, Maria Magdalena und Johanna und Maria, die Mutter Jesu, und seine Brüder. Sie sitzen zusammen. So erzählt der Evangelist Lukas. Und beten. Vielleicht mit den Worten aus Psalm 27. Den man im Volk Israel betet. Schon immer gebetet hat. Wenn sie unsicher waren, wenn sie sich Sorgen machten, wenn sie Gott gern gehört hätten oder gespürt. Wenn sie ihn angefleht haben, sich zu zeigen, zu helfen, die Not zu lindern, die gerade auf ihnen lastet. „HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“ Sie sitzen zusammen, beten und gehen nicht raus. Können nicht. Wollen nicht. Wie auch? Jesus ist weg. Jedenfalls hat er sich von ihnen verabschiedet. Sie sehen ihn nicht mehr. Sie warten darauf, dass sich erfüllt, was er versprochen hat:
„Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird, und werdet meine Zeugen sein.“ Der ist aber noch nicht gekommen. Also warten sie. Und hoffen. Und vertrauen. Und beten.
Schöne Erfahrungen im Rücken. Große Verheißung im Ohr. Und im Herzen. „Siehe, es kommt die Zeit.“
Glauben heißt: warten.
Wir lernen das seit vielen Wochen. Wir warten. Es fällt uns schwer. Je länger, je mehr. Wir wollen eine Perspektive, am besten ein Datum. Wann ist es – endlich – vorbei? Wann ist es wieder gut, also wie vorher? Manche wollen das komplette Ende vom ‚lockdown‘. Je schneller, desto besser. Sie werden ungeduldig. Gehen auf die Straßen und Plätze. Fordern. Kritisieren. Wir wollen nicht mehr warten. Wir wollen alles. Jetzt. Sofort. Das ist unser Recht. Wir sind das Volk. Ungeduld wird laut. Lässt sich nicht zügeln und verhindern. Bricht aus und wird hörbar.
„Siehe, es kommt die Zeit.“ Können wir warten? Warten, weil wir glauben. Warten, weil wir vertrauen. Anstatt zu denken, wir müssen nicht mehr warten. Wir haben alles. Jetzt schon. Also los. Manchmal drängt sich dieser Eindruck auf. Wenn ich Verheißungsworte an das Volk Israel höre, von den Propheten verkündigt, in schwieriger Zeit, dann befürchte ich, dass Christen denken und glauben: Ja, die mussten damals warten. Die Menschen aus dem Volk Israel. 600 Jahre vor Christus. Eine grausame politische Niederlage mussten sie hinnehmen. Die Stadt Jerusalem war verwüstet. Der Tempel zerstört. Leben findet in der Fremde statt oder in Trümmern. Es gibt keine konkrete Aussicht. Wenig Hoffnung. Vielleicht die Ahnung: wir sind selber Schuld, wir haben unserem Gott nicht vertraut, obwohl wir uns immer und immer wieder daran erinnern, wie er geholfen hat. In aussichtsloser Lage. Wie er uns gerettet und befreit hat. Vor einem übermächtigen Feind. Aus Sklaverei und Unterdrückung. Auf einem langen und mühsamen Weg hat er uns durch die Wüste geführt. Er war da und er hat uns begleitet. Aber wir haben uns abgewendet. Darum ist er zornig. Was wir erleben, ist seine Strafe. So das Volk Israel.
Wenn der Prophet nun wieder Hoffnung macht und als Wort des Herrn sagt: „Siehe, es kommt die Zeit.“ Dann warten sie. Das ist ihre Geschichte. Das ist ihr Glaube.
Für uns Christen heute ist alles erfüllt. Christus ist längst gekommen. Er ist da. Und wir müssen nicht mehr warten. Ich befürchte, dass Christen so denken und glauben.
Ob, wer so denkt, spürt, wie er seinen eigenen Glauben belastet? Wenn er meint, es sei alles gut. Und dann ist es nicht gut. Das Leben ist eingeschränkt. Es ist bedroht. Fragen tauchen auf und bedrängen den Glauben. Wo ist Gott? Warum hilft er nicht, jetzt? Sofort?
Können wir zulassen, dass wir nicht über dem Volk Israel stehen, sondern neben ihm? Dass wir keinen Haken hinter Gottes Verheißung machen: Erfüllt! Sondern warten – wie das Volk Israel? „Siehe, es kommt die Zeit.“ Es kommt etwas, das jetzt noch nicht da ist. Es ist keineswegs alles gut. Die großen Verheißungen Gottes stehen aus. Auch für uns. Auch für mich. Die ungewohnte Situation, in der wir uns seit vielen Wochen befinden und die sicher auch noch lange so bleiben wird, zeigt: Wir stehen neben dem Volk Israel. Sie lässt mich beten mit den Worten Israels: „HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“
Dann sitzen wir im Obergemach, wo wir häufig sitzen. Und doch anders, in kleiner Zahl und weit auseinander. Mit Mundschutz, dürfen nicht singen und musizieren, wie früher. Dürfen uns nicht begrüßen und verabschieden, wie wir es gerne täten, dürfen nicht beim Kirchenkaffee zusammen sein. Sondern warten. Warten, dass kommt, was Gott versprochen hat.
Ich möchte dankbar dafür sein, wie gut es mir geht. Dass ich habe, was ich zum Leben brauche. Dass ich gesund bin und ganz eng mit vielen lieben Menschen verbunden bin. Aber ich vermisse die offene Gemeinschaft. Die volle Kirche. Den gemeinschaftlichen Gesang. Das Singen im Chor. Das Musizieren in der Bläsergruppe. Die Kinder, die fröhlich zum Kindergottesdienst gehen. Den guten Austausch beim Kirchenkaffee, beim gemeinsamen Mittagessen, beim langen Erzählen nach dem Gottesdienst draußen vor der Tür. Das alles geht jetzt nicht. Es gibt kein: Jetzt. Sofort. Wir warten. Ich warten. Das gehört zu dieser Lage dazu. Es gehört zu meinem Glauben dazu. Zu warten. Dass Gottes Verheißung sich erfüllt. Und das Leben bestimmt.
„Siehe, es kommt die Zeit.“ Und dann glauben wir nicht nur. Dann sprechen und bekennen wir nicht nur. Dann erleben wir. Dann ist Gottes Nähe nicht bloß in Büchern. Nicht bloß im Kopf und auf den Lippen. Sondern im Herzen. Und darum im ganzen Menschen. Was in meinem Herzen wohnt, bestimmt mein Leben. Was ich denke. Was ich glaube. Was ich hoffe, Worauf ich mich freue. Wenn ich liebe. Was ich liebe. Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben Wie gut, dass du, Herr, diese Verheißung wahrmachst. Ich vertraue dir. Dass du es gut mit mir meinst. Dass du eine Zukunft für mich hast, auch wenn ich sie jetzt nicht sehe. Dass du mir meine Zweifel vergibst, meine Ungeduld, meine Forderungen, meine Enttäuschungen. Dass du mich auf deine Zukunft mit uns hoffen lässt; dass du mich lieben lässt, die, mit denen ich lebe, die, die leiden. Dass du mich warten lehrst. Auf die Erfüllung deiner Verheißung. Siehe, es kommt die Zeit. Mit deiner Hilfe warte ich darauf geduldig. Und bis dahin bete ich mit vielen anderen, die zu dir und deinem Volk gehören:
„HERR, höre meine Stimme, wenn ich rufe; sei mir gnädig und antworte mir!“ Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Es ist die ungewöhnlichste Zeit zum Predigen. Seit vielen Wochen entstehen Predigten ohne eine Gemeinde sichtbar als Gegenüber zu haben, nur als schriftliches Dokument und als Audiodatei. Seit 10. Mai nun für Gottesdienste in eingeschränkter Lage, mit Ab-stand, Mundschutz und ohne Singen. Aber (endlich) wieder Menschen, die gerne kom-men und gerne hören wollen und die schwierige Lage annehmen.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Zunächst zu wissen, dass viele Menschen sich über gute und verlässliche Worte freu-en, dass sie offen sind für Verheißungen da, wo sie vertrauen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Bearbeitung von prophetischen Texten sind immer bereichernd. Für diesmal hat mich eine Bemerkung aus den GPM angeregt und darum auch die Predigt stark beein-flusst, dass wir als Christen Wartende sind. In dieser hoffnungsvollen Lage stehen wir neben Israel (nicht darüber!). Das macht biblische Prophetie aus dem AT für mich noch einmal ein Stück lebensnaher und wertvoller.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die überaus wertschätzende Begleitung durch meine Predigtcoachin. Alle kritisichen Bemerkungen waren für mich einsichtig und erhellend, haben mir so gut getan, dass ich den Eindruck habe, die Predigt hat sprachlich und an Deutlichkeit gewonnen. Ich bin vor allem dankbar dafür.