Wetterläuten - Predigt zu Lukas 12,13-21 von Wolfgang Vögele
12,13-21

Wetterläuten - Predigt zu Lukas 12,13-21 von Wolfgang Vögele

Wetterläuten

„(Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt?) Und [Jesus] sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Lehrer kommt nach zehn Stunden Unterricht von Schule nach Hause. Eine Buchhalterin wird täglich von ihrem Chef mit vielen Aufgaben gequält und kehrt genauso erst nach Hause zurück, als es dunkel ist. Beide öffnen die Kühlschranktür. Sie stellen fest: Milch fehlt, Obst fehlt, Joghurt fehlt. Also gehen beide seufzend die paar Schritte zum Supermarkt in der nächsten Querstraße und kaufen ein, was sie benötigen: Milch, Brot, Mehl, Joghurt, Kartoffeln, Tomaten.

Vor sechshundert Jahren, im Mittelalter ging kein Dorfbewohner in einen Supermarkt. Supermärkte konnte sich kein Ritter und kein Leibeigener vorstellen. Für die Milch mußten sie warten, bis sie die Kuh abends im Stall melken konnten. Für Mehl und Kartoffeln bestellten sie das ganze Jahr über das Feld, um dann im Herbst die Ernte einzubringen.

Wenn die ersehnte Ernte ausfiel, drohte schwere Hungersnot. Vor sechshundert Jahren waren Wettervorhersage und Glaubenskraft, Glocke und Egge stärker verbunden als wir uns das heute vorstellen können. Wer auf seinen Feldern Getreide anbaute, der brachte im Herbst dem Glöckner einmal jährlich die sogenannten Läutegarben. Mit den Läutegarben wurde der Glöckner der Kirche für das Wetterläuten bezahlt. Der Glöckner mußte täglich auf Himmel, Wetter und Wind achten. Sobald sich die ersten grollenden Anzeichen eines Gewitters zeigten, fing er an, die Glocken zu läuten. Und er hörte nicht damit auf, bevor der letzte Donnerschlag verklungen war. Denn die Dorfbewohner des Mittelalters waren überzeugt, daß die Schallwellen der Glocken Blitzschläge und Hagel theologisch und meteorologisch vertreiben können. Deswegen war jeder Glöckner ein Wetterbeobachter, und wenn er im Herbst die Läutegarben bekam, konnte auch er stolz sein, daß es ihm gelungen war, mit den Glocken die schlimmsten Ernteschäden verhindern haben.

Wir wissen heute selbstverständlich, daß der Schall von Glocken weder Gewitter noch Hagel vertreibt. Wir sprechen auch einer Glocke keine magischen Kräfte mehr zu wie die Menschen des Mittelalters, die bei Gewittern böse Geister und Hexen am Werk sahen. Die Theologen der Reformation haben im 16.Jahrhundert dieses Wetterläuten verboten, aber in vielen Dörfern hielt man sich nicht an dieses Verbot. Das Wetterläuten bestand weiter, nicht weil die Dorfmenschen so abergläubisch waren. Es bestand weiter, weil die Ernte so wichtig war, daß die Bauern alles daran setzten, den Ernteausfall zu verhindern. Mißernten und Hungersnöte führten bis ins 18. und 19. Jahrhundert zu riesigen Auswanderungs- und Flüchtlingswellen. Umgekehrt waren die Menschen für jede erfolgreiche Ernte dankbar, denn sie wußten um die vielen Risiken, die das Wetter für Getreide, Äpfel und Trauben mit sich brachte.

Unserem täglichen Bewußtsein ist der Zusammenhang zwischen Ernteerfolg und sozialem Wohlstand und Wohlbefinden verloren gegangen. Bei trockenen Sommern, Abendgewittern und Hagelschauern stöhnen wir über die Hitzewelle, sorgen uns aber nicht mehr um Ernteausfall. Wir verlassen uns auf die ökonomischen Mechanismen des Marktausgleichs, die dafür sorgen, daß Milch- und Brotregal im Supermarkt stets gut gefüllt sind. Wenn die Ernte in einem Hagelgebiet ausfällt, greifen die Disponenten der Supermärkte auf Vorräte in anderen Ländern zurück. Ich will nichts gegen Supermärkte, Warenterminbörsen und Disponenten sagen. Es ist ein Gebot der Klugheit, daß sich Städte und Regionen für Nahrungsmittel Vorräte anlegen.

Bei dem reichen Mann aus dem Gleichnis klingt es beim ersten Hören so, als wolle der Weisheitslehrer aus Galiläa die Menschen überzeugen, daß sie keine Vorräte anlegen sollen. Aber diese Auslegung würde den Kern des Gleichnisses verfehlen.

Der Bergprediger hat zwar die Vögel unter dem Himmel gelobt, weil sie nicht säen, nicht ernten und sich keine Vorräte schaffen. Aber denken Sie an den biblischen Joseph, der es bis zum Premierminister des ägyptischen Pharao brachte. Mit Hilfe von Traumdeutung und politischer Weitsicht sorgte er dafür, daß in den sieben fetten Jahren Vorräte angelegt wurden, die in den folgenden mageren Jahren die ägyptische Bevölkerung und ihre Nachbarn unter Einschluß der Brüder Josephs ernährten. Der reiche Mann aus dem Gleichnis überlegt, wie er seine Vorräte unterbringt. Er sorgt vor. Und das ist – ganz unvoreingenommen – ein Teil seiner Weisheit, Klugheit, Voraussicht. Die Klugheit der Vorratsbeschaffung ist heute ganz selbstverständlich in das gesellschaftliche System eingegangen, sie ist nicht mehr Sache individueller Entscheidung.

Eine Kleinigkeit fällt sehr auf: Der reiche Mann im Gleichnis führt ein Selbstgespräch über Vorratsbeschaffung. Wer Landwirtschaft betreibt, neigt aus klugem Kalkül dazu, Gespräche zu führen, sich über Pflanztermine und Erntezeitpunkte zu verständigen, Risiken zu minimieren. In der Geschichte hat das zur Gründung von Raiffeisengenossenschaften, Kooperativen, Erzeugergemeinschaften geführt, die für ihre Produkte gewisse Qualitätsstandards bestimmen, sie selbst verkaufen und vermarkten.

Der reiche Mann aber spricht nicht mit Kollegen. Er spricht mit sich selbst. Er führt ein Selbstgespräch und meditiert über sein Leben. Jeder Leser und Theaterbesucher kennt Selbstgespräche aus der Literatur: Der dänische Prinz Hamlet schwankt zwischen Leben und Tod, Sein und Nichtsein, Faust beklagt seine vielen Studienfächer, hat nichts gelernt und ist keinen Schritt weiter gekommen. Das Selbstgespräch führt ins vertiefte Nachdenken über das eigene Leben, in das Herz des Menschen. Im Herzen, im Innersten treffen Menschen ihre Grundentscheidungen, das, was ihr Leben bestimmt, ohne daß sie das zwangsläufig anderen Menschen mitteilen. Deswegen ist die Literatur ist voll von Selbstgesprächen, weil Leser und Hörer einen knappen Einblick in das Herz erhält.

Jesus erzählt vom Selbstgespräch, vom Herzensinneren des reichen Mannes. Sein Selbstgespräch läßt sich auf einen einfachen Punkt bringen: Ich lege mir Vorräte an, um die Früchte meiner bisherigen Arbeit zu genießen. So einfach ist das: Ich verbrauche, was ich erzeugt habe. Aber Grundentscheidungen sind meist sehr einfach – und darum auch fehlerhaft. Der reiche Mann übersieht etwas, das sehr naheliegt.

Außenstehende Beobachter, also alle Hörer und Leserinnen des Gleichnisses, inspiriert dieser offensichtliche Fehler des reichen Mannes zu Schadenfreude. Aber Schadenfreude führt meistens in Überheblichkeit und deshalb in die Irre. Wer lacht, weil der andere den Schaden hat, wird als nächstes selbst hereingelegt. Nein, der reiche Mann aus dem Gleichnis ist eher ein entfernter Bruder von Till Eulenspiegel, der die Leute zur Schadenfreude verführt, ihnen in Wahrheit aber den Spiegel vorhält. Der reiche Mann trifft eine Fehlentscheidung, und die Zuhörer merken nicht, daß ihr eigenes Stück aufgeführt wird.

Die Fehlentscheidung des reichen Mannes besitzt eine negative und eine positive Seite. Die negative Seite heißt: Lieber reicher Mann, du beachtest den Tod nicht. Du kannst dir Vorräte schaffen, so viel du willst. Wenn du morgen früh tot im Bett liegst, helfen dir all deine Weizenkörner, deine Kartoffeln, Äpfel und Eurochecks nicht mehr.

Dankbarkeit – auf jeden Fall. Vorräte anlegen – auf jeden Fall. Sich damit zur Ruhe setzen – das könnte gefährlich werden, darin liegt Bequemes. Lebensgeschichte läuft nicht auf einer sicheren, geschützten und risikofreien Straße ohne Kurven, steile Anstiege und morsche Hängebrücken. Niemand kann die Überraschungen des nächsten Tages vorhersehen – trotz aller Besonnenheit, Weisheit und Planung. Vernünftige Berechnung hilft dann auch nicht mehr. Der reiche Mann bekommt den Spiegel ganz aus der Nähe vor Augen gehalten: Vergesse den Tod nicht.

In vielen Trauergesprächen fragen Pfarrer die Angehörigen: Hat sich der Verstorbene Gedanken über den Tod gemacht? Und zu oft erhalten sie die Antwort: Nein, das war nicht sein Thema. Wenn überhaupt, dann hat der Vater das einzig und allein mit sich selbst ausgemacht.

Nicht nur der reiche Mann des Gleichnisses vor zweitausend Jahren, auch wir heute leben stets im Bewußtsein der eigenen Sterblichkeit. Der Tod läßt sich nicht abstreifen, nur vergessen. Wer ihn vergißt, verliert sich in einer Täuschung. Wer ihn wahrnimmt und darüber nachdenkt, der kann sich vorbereiten und Vorsorge treffen. Wer Sterben und Tod vergessen will, der nimmt nicht die Bezüge seines eigenen Lebens zu den Mitmenschen, zur Welt und zu Gott wahr. Wer den Tod vergessen will, der fragt nicht nach dem Sinn des Lebens. Am reichen Mann, in diesem einfachen Gleichnis, ist das schrill und mit Ausrufezeichen abzulesen. Er baut eine Scheune für den Eigenbedarf. Die anderen Menschen sieht er nicht. Er denkt an sich selbst. Die Welt, die Wirklichkeit und vor allem Gott selbst spielen in seinen planenden Gedanken keine Rolle.

Damit bin ich bei der positiven Seite des Gleichnisses: Lukas, der in seinem ganzen Evangelium alle Formen materiellen Reichtums mit großem Mißtrauen verfolgt, spricht von einem anderen Reichtum als von Mengen an Weizen, Äpfeln, Kartoffeln, die in einer Scheune gelagert werden. Der Erzähler des Gleichnisses empfiehlt den Reichtum bei Gott. Darin findet der Erzähler die Pointe der Gleichnisses, die Pointe des Selbstgesprächs, aber auch die Pointe im Leben aller Christenmenschen. Vor Gott gelten andere Maßstäbe als in der überdrehten Welt von Bankautomaten, Kreditkarten, Supermärkten und Warenterminbörsen.

Zunächst: Gott spricht mit dem törichten reichen Mann, er würdigt ihn eines Gesprächs. Gott nimmt den betuchten Irrläufer ernst, weil er nicht zusehen kann, wie er sehenden Auges in sein überraschendes Unglück stolpert. Ich halte dieses Gespräch für einen Vertrauensbeweis Gottes. Und ich bin überzeugt: Menschen, die an Gott glauben, bleiben in ihrer Entscheidungsfreiheit, die ein wichtiges Gut ist, nicht allein. Das muß nicht so direkt geschehen, wie bei dem reichen Mann aus dem Gleichnis. Im Gleichnis kommt der Erzähler aus Nazareth ganz brüsk sofort auf die Pointe. In wirklichen Leben kann es länger dauern, bis eine Entscheidung reift. Gott kann uns anders begegnen als im Selbstgespräch.

Der reiche Mann im Gleichnis begeht den simplen, aber sehr alten Fehler, nur sein eigenes Leben in die hehre Aufmerksamkeit zu rücken. Aber wer stets nur in eine Richtung blickt, übrigens egal wohin, der verfällt in die Genickstarre des Egoismus. Der vergißt die anderen Richtungen, der vergißt über seinem eigenen Leben, noch sehr viel mehr in den Blick zu bekommen:  das größere Ganze, die Mitmenschen, die Flüchtlinge und Hilfsbedürftigen, das Gemeinwohl und die zukünftigen Generationen und nicht zuletzt auch - Gott. Es wäre nun viel zu sagen über das Gemeinwohl, die Flüchtlinge aus Syrien, Freundlichkeit gegenüber Fremden und die Grundwerte Europas, über Vorräte, Ernte und Hilfe. Ich lasse das alles weg und konzentriere mich auf einen Punkt.

Was heißt Reichtum bei Gott? Der reiche Mann vergißt Gott - und das kostet ihn sein Leben. Reichtum bei Gott ist ein Reichtum der Erinnerung und des Wechsels der Perspektive. Wahrhaft reich wäre der Scheunenbauer, wenn er Gott in Erinnerung behalten würde. Er würde sich umschauen, Dinge und Menschen auch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten. Mit der Erinnerung an Gott würde der reiche Scheunenbauer an Beweglichkeit gewinnen. Er würde anfangen, das Leben aus der Perspektive Gottes zu betrachten. Das meint eine Perspektive, die nicht nur die Interessen einzelner, sondern die Interessen aller betrachtet. Das meint eine Perspektive, die ihren Ausgangspunkt nimmt bei der Bejahung dieser Schöpfung, bei ihrer Schönheit und bei gleichem Lebensrecht und Würde aller Menschen. Das meint eine Perspektive, die aus der Bewegung der Befreiung lebt, der Befreiung von Unrecht und Leid, der Befreiung von Hunger und Krankheit, der Befreiung von aller Art von Not.

Das klingt für einen einzelnen wie eine gigantische, nicht zu erfüllende Aufgabe. Aber wer sich mit anderen zu einer Gemeinschaft verbindet, kann besser helfen als eine Einzelperson. Die Wirklichkeit aus der Perspektive Gottes sehen, das meint schließlich auch, eine Perspektive jenseits des eigenen Lebens, über den Tod hinaus zu finden. Gott will die Menschen, jeden einzelnen, den reichen Scheunenbauer wie den armen syrischen Flüchtling trösten. Sich diesen Trost gefallen zu lassen, das ist wahrhaft ein Reichtum. Und diesen barmherzigen Trost spendet Gott jedem, unabhängig davon, ob er eine Villa an der Mittelmeerküste besitzt oder nur die Schwimmweste, die ihn aus dem Mittelmeer gerettet hat.

Im letzten Moment erkennt der Scheunenbauer: Wahrer Reichtum besteht darin, sich von Gott trösten zu lassen. Und dieser Trost läßt sich nicht in Geldscheinen aufwiegen. Amen.