Wider die Poesiealbumssprüche! - Predigt zu Jer 9,22-23 von Anika Mélix
9,22-23

Wider die Poesiealbumssprüche! - Predigt zu Jer 9,22-23 von Anika Mélix

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn, Jesus Christus. Amen.

Predigttext: 22 So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. 23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR. (Jeremia 9,22+23 (Luther 2017))

I. Aufrüttelnde Selbstverständlichkeiten

„So spricht der HERR:
Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums…“

Liebe Gemeinde,

man möchte diesen Teil des heutigen Predigttextes fast überspringen. Zu sehr klingt er nach Allerweltsweisheit. Nach Poesiealbumsspruch. Nach „Eigenlob stinkt“. Ein „so spricht der HERR“ vor diesen Sätzen scheint verzichtbar.
Beim Versuch, sie wahr- und ernst zu nehmen, ist mein erster Impuls sie weit von mir zu schleudern. Ist das nicht der Moment, an dem man von „denen da oben“ zu sprechen beginnt?

II. Ruhmesgedicht

„So spricht der HERR:
Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums;
sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne…“

Es ist wie ein kleines Gedicht. Es hat Rhythmus, was dort steht. Selbst in unserer deutschen Übersetzung ist es noch zu spüren. Fünf Mal in einem Satz: „sich rühmen“. Ein Ruhmesgedicht. Besser: eine Kritik des Selbstruhmes.

Ein Schöner rühme sich nicht seiner Schönheit,
eine Erfolgreiche rühme sich nicht ihres Erfolgs,
ein Woker rühme sich nicht seiner Wokeness,
eine Geimpfte rühme sich nicht ihres Impfstatus,
ein Coronaskeptiker rühme sich nicht seiner Skepsis?

III. Unterschätzte Klugheit

„Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne…“

Liebe Gemeinde,

Haben Sie sich schon einmal gerühmt klug zu sein und Gott zu kennen? Es Ihrem Partner mit leuchtenden Augen am Abendessenstisch erzählt? Es in die Welt hinaus getwittert? Was assoziieren Sie damit „Gott zu kennen“? Klugheit? Einsicht? Ruhm? Bei mir ist es häufig eher: Privatheit. Unsicherheit. Scham. Kein: Ich rufe es mit Stolz in die Welt hinaus. Sondern ein: Wenn es jemand unbedingt wissen will, kann ich es ihr schon leise zuflüstern.
Aber dann stocke ich noch einmal und frage mich: Ist dieser Vers nicht eine weitere, subtilere Form der Kritik des Selbstruhmes? Denn wer kann das ungebrochen von sich behaupten: „Ich bin klug und kenne Gott!“? Im 1. Johannesbrief im zweiten Kapitel heißt es: „Wer da sagt: ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner und in solchem ist keine Wahrheit.“ Auch hier ist das Kennen Gottes erstrebenswert, mit Wahrheit assoziiert und doch unerreichbar…

IV. Kontrastprogramm

„Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.“

Des HERRN sollen wir uns rühmen, im Korintherbrief klingt es wider. Nicht um unserer und nicht einmal um seiner Weisheit, Stärke und Macht willen. Weisheit, Stärke und Macht sind ja doch nur Ressourcen, die man sowohl zum Guten als auch zum Bösen gebrauchen kann. Aber wir sollen uns seiner rühmen, weil er der ist, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt. Nicht weil er es könnte, sondern weil er es tut!

Und dann kommt es: „dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.
Nicht: „dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit, geübt hat immer mal wieder.
Nicht: „dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit, üben wird – am Ende der Zeit.
Nicht einmal: „dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt – im Herzen mancher.
Sondern: „dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.

Ob man da lachen oder weinen soll? Ich zumindest kann das unter den aktuellen Bedingungen kaum hören:
Meine Großtante erzählt mir von einem 90-Jährigen Freund, der wegen eines Sturzes ins Krankenhaus kam, sich dort mit Covid infizierte und aufgrund des Besuchsverbotes alleine starb.
Ein Freund, dessen Frau im vergangenen Jahr eine Fehlgeburt erlitt, durfte bei den gynäkologischen Vorsorgeterminen aufgrund der pandemischen Lage nicht dabei sein und hatte so nie die Möglichkeit, den Herzschlag seines Kindes zu hören.
Das sind nur die nahen und nächsten Beispiele, die mich schlucken lassen bei diesem Satz.
„Der HERR […], der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden“ – Wer kann so sprechen?
Jeremia, wie kannst Du so sprechen?

V. Wie, Jeremia, wie?

Lieber Jeremia,
Du sprichst im Auftrag Gottes. Du beginnst Sätze mit „So spricht der HERR“ und beendest sie damit. Du bist kein Dichter seichter Kalendersprüche. Du bist Prophet des Höchsten.

So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.“

Du sprichst diese Sätze im unmöglichsten aller Momente:
Da erwählt sich Gott ein Volk. Liebt es durch Wüsten und Meere hindurch. Schenkt ihm einen Ort, an dem es leben kann. Setzt eine heilige Stadt und einen heiligen Tempel zum Zeichen, dass er bei ihm ist.
Und dann? Lässt Gott – durch Deinen Mund, Jeremia, – dem Volk ausrichten, dass es sich abgewendet hat. Dass es sein Vertrauen auf die Falschen gesetzt hat. Gott sagt: Ihr werdet verfolgt, verschleppt, zerstreut, getötet! Das Land, das ich euch geschenkt habe, wird verheert. Der Tempel, auf dem all meine Verheißungen liegen, wird zerstört. Alles, woran ihr glaubtet und worauf ihr hofftet, wird euch genommen.

(Pause)

Aber heute ist das nicht einmal der Punkt, der mich am meisten schockiert. Was mich nicht mehr loslässt, ist dieser eine Satz mittendrin in diesem ganzen gewaltvollen Wortschwall vom Untergang: „Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir“.

Hast Du gelacht, Jeremia? Als Gott so zu Dir sprach? Hast Du geschrien: SOLL DAS EIN WITZ SEIN? Hast Du dich geweigert, das weiterzugeben? Oder wenigstens gezögert?

(Pause)

Wie auch immer: Du hast die Worte gesprochen. Hast Sie damit zu Deinem Vermächtnis, zu Deinem Bekenntnis gemacht. Ich weiß nur Bruchstückhaftes über Dich und Dein Leben. Was ich weiß, lässt mich ahnen, dass Du mehr Leid und Unrecht kennengelernt hast, als ich es je von mir sagen kann. Dass Du Gott trotzdem als den bekennst, der „Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden“, nimmt den Worten die Plattitude.

(Pause)

Etwas verändert sich. Meine Wut wandelt sich. Wird zu Neid. Nein: Sehnsucht! Wie gerne würde ich mit Dir bekennen, Jeremia! Was wusstest Du von Gott, dass es Dir möglich war, beides weiterzugeben? Die Unheilsandrohung UND das Barmherzigkeitsversprechen? Was wussten jene Jüdinnen und Juden von Gott, dass sie diese Worte weitergetragen haben durch die Zeit? Was wissen jene, die trotz Exil, Krieg, Vertreibung, Verfolgung und Vergasung an einen Gott glauben, der „Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden“?

Lieber Jeremia, ich hoffe eines Tages kann ich mit Dir, mit Euch bekennen, dass es der HERR ist, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.

VI. Sprachformen des Zweifels

Liebe Gemeinde,
den Selbstruhm will ich mir versagen. Klug zu sein und Gott zu kennen, ist mein unerreichbares Ziel. Und wenn ich ihn kennte, wüsste ich vielleicht, dass er Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt, ihm das gefällt. Eines Tages will ich das mit Jeremia bekennen - ­ doch bis dahin?
Wenn ich genauer darüber nachdenke, ist die Bibel voll von ganz unterschiedlichen Arten mit und von Gott zu sprechen. Da wird gerungen und gelobt, erfleht und angebetet, gedankt und gestöhnt. Vielleicht liegt hier eine Chance.

Ein Versuch?
Im Angesicht einer Welt voll Härte, Unrecht und Ungerechtigkeit will ich Gott auf Knien bitten. Konkret und ernsthaft, seine Barmherzigkeit, sein Recht, seine Gerechtigkeit erflehen.
Im Angesicht einer Welt voller Härte, Unrecht und Ungerechtigkeit will ich zu Gott klagen. Ihm mein Leid entgegen schreien. Will ihm, der doch eigentlich Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit auf Erden übt, die tatsächliche Welt vorhalten und ihm sagen: „NICHTS IST IN ORDNUNG!“. Manchmal ist das die einzige Möglichkeit, nicht von ihm zu lassen.
Im Angesicht einer Welt voller Härte, Unrecht und Ungerechtigkeit will ich Gott loben. Nicht freudig, ergriffen, mit warmem Gefühl. Sondern trotzig, fast wild. Ihn loben für seine Barmherzigkeit, sein Recht, seine Gerechtigkeit, die er übt auf Erden. Damit die Gegenwart nicht das letzte Wort hat, sondern die Wirklichkeit, für die ich lebe, auf die ich vertraue.

„So spricht der HERR: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht der HERR.“

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Anika Mélix: 

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Leipziger Stadtkirche. Tendenziell gebildet, bürgerlich, Alter vornehmlich 50+ sowie junge Familien. Wichtiger: Aus meinem Umfeld nehme ich die Empfindung wahr, dass die Pandemie sich weiterhin wie ein dunkler Schleier über den Alltag legt. Es gibt einerseits ein großes Bedürfnis, über das damit verbundene Leid und die täglichen Ambivalenzen zu sprechen, andererseits eine große Ermüdung, das Gefühl: „Dazu ist doch nun wirklich alles gesagt!“. Zwischen diesem Sprechen, nicht-Sprechen und anders-Sprechen bahnt sich die Predigt ihren Weg.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die freundliche, ausführliche, motivierende und hilfreiche Rückmeldung durch meine Predigtmentorin.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Ich kam lange nicht heran an diesen Text. Ich musste ihn kauen und schmecken und verdauen, ihn wieder und wieder lesen. Es war zeitaufwändig und anstrengend. Es ist eine Weile her, dass ich einem Text so intensiv, so Wort für Wort verfallen bin. Zuletzt kam nicht ich an den Text heran, sondern der Text an mich. Das will ich wieder erleben!

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der vorletzte „Move“ kannte mehrere Varianten und fand seine jetzige Form erst in einem der letzten Überarbeitungsschritte. Von „die Gemeinde über Jeremia informieren“ über „Jeremia in seiner Zeit inszenieren“ kam ich schließlich zu „mein eigenes Ringen mit Jeremia verbalisieren“.

Perikope
Datum 13.02.2022
Bibelbuch: Jeremia
Kapitel / Verse: 9,22-23