Widerstandsfähigkeit – Predigt zu Jesaja 50, 4 – 9 von Helmut Dopffel
50,4-9

Liebe Gemeinde,

vermutlich kennen alle hier die Geschichte vom Palmsonntag. Jesus reitet auf einem Esel durch das Tor in die Stadt Jerusalem. Die Menschen jubeln ihm zu, sie breiten ihre Mäntel auf dem Boden vor ihm aus, winken mit Palmwedeln, singen „Hosianna“, „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn“. Heute wäre es der rote Teppich, die Lichter der Handys, und „We are the champions“. Jesus ist mindestens ein Star, eher aber einer, in dem viele den kommenden starken Mann sehen, durch den die Dinge besser werden. Hoffnung und Enthusiasmus verbinden sich mit ihm. Was für eine schöne Geschichte! – Aber wer genau hinschaut und hinhört, der wundert sich vielleicht, dass er nur einen Esel reitet und nicht hoch zu Roß; der hört das Gemurmel im Hintergrund, der spürt, dass Spannung in der Luft liegt, dass die Stimmung jederzeit umschlagen kann ins Gegenteil, der sieht, wie sich der Himmel zu verfärben beginnt. Denn der Palmsonntag ist das Tor zur Karwoche. „Kar“ bedeutet vermutlich „weinen, sorgen, klagen“. Heute beginnt also die Woche der Klage, des Weinens, der Trauer. Wir wenden uns den unerfreulichen Seiten des Lebens zu, den schweren Themen: Hass und Verrat, Ungerechtigkeit und Lüge, Bosheit und Sadismus, brutale körperliche und seelische Schmerzen, elendes Leiden und Tod. Das wird ja schon in der Bibel drastisch ausgemalt, es ist schwer zu lesen oder hören, es ist, finde ich, noch schwerer anzuschauen auf den mittelalterlichen oder auch modernen Altarbildern, und es ist absolut nicht auszuhalten in der realistischen Darstellung eines Films. Kein Wunder, dass viele Menschen mit diesen Tagen und ihren Geschichten nichts zu tun haben wollen. Kein Wunder, dass sich Jahr für Jahr der Protest gegen die Stille des Karfreitags erhebt, im Namen von cool und happy und geil und Eideidei. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns, unserer Gesellschaft, unserer Kultur gut tut, wenn wir wenigstens einmal im Jahr so innehalten und uns dem Leiden stellen, dem Leiden, das in der Welt ist, dem Leiden, das um uns und in uns ist, dem Leiden, das uns in Jesus entgegen kommt. – Aber wieder: Wer genau hinschaut und hinhört, der sieht und hört noch etwas anderes in all diesem. Etwas, das sich wie ein zarter Glanz durch diese Tage spinnt: Sehet. Welch ein Mensch! Das ist wahre Menschlichkeit. Und mehr: Sehet. Welch ein Gott! So begegnet uns Gott. So etwas wie Wärme und Liebe ziehen sich durch all diese grausamen Geschichten. Die Christenheit hat das in zwei Worte gefasst: Für uns! Für uns und zu unserem Heil! Und eine Kraft ist spürbar, die nicht nur durchs Leiden hindurchträgt, sondern am Ende sich in überirdischem Triumph erhebt: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott aber sei Dank…

Einige hundert Jahre vor Jesus lebte ein Mensch, von dem wir nichts und doch vieles wissen. Wir wissen nichts über seine Lebensgeschichte. Aber wir wissen viel über sein inneres Leben. Und was er uns da hinterlassen hat, auf einigen wenigen Seiten Text, das ist so beeindruckend und so hautnah, dass es zu uns heute spricht, genauso wie zu den Menschen zur Zeit Jesu und zu Jesus selbst. Vielleicht hat Jesus über diese oder ähnliche Worte nachgedacht, als er auf dem Esel einritt.

 

Predigttext Jesaja 50, 4-9:

„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich Morgen um Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. - Aber ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mir den Bart ausrissen. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.“

Wie gesagt, wir wissen so gut wie nichts über diesen Menschen. Und doch verstehen wir jedes Wort. Denn wie er haben wir eine Zunge zum Reden, Ohren zum Hören, Haut die Schläge und Streicheln fühlt, ein Gesicht, das sieht, und eine Seele, die wahrnimmt und spürt. Wir sind eben Menschen mit Körper und Seele und allen Sinnen. Diese unbekannte und doch so bekannte Person von damals führt uns hinein in drei Erfahrungen, die sehr unterschiedlich sind und auf den ersten Anschein nicht viel miteinander zu tun haben. Die erste ist die des Morgens. Der Morgen kann einen Zauber haben. Der Morgen kann den Tag öffnen. Manchmal wache ich auf am Morgen, und Dinge sind klar geworden, die am Abend und in der Nacht verworren waren. Manchmal wache ich auf am Morgen und bin ganz geborgen nach unruhiger Nacht. „Er weckt mich Morgen um Morgen“. Gott öffnet das Ohr und redet. Wie? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man Gottes Stimme akustisch, äußerlich hören kann. Zumindest ist mir das noch nie passiert, und wenn, würde ich schwer ins Grübeln über mich kommen. Aber ich bin sicher, dass Gott zu uns redet, auf seine, andere Weise. Und der Morgen ist vielleicht eine bevorzugte Zeit, um diese Stimme Gottes zu hören und zu verstehen, denn am Morgen sind wir offen und aufmerksam. Wie ein Jünger, wie eine Schülerin. Oder könnten es sein. Worauf hören wir, wenn wir mit Gott den ersten Anfang des Tages beginnen? Da ist vielleicht der Wind. Er erinnert nicht nur an den Geist, an Freiheit und Geborgenheit, sondern bläst ihn in die Seele. Da sind Kinderstimmen: Leben, dessen Zukunft auch von uns abhängt. Lebensfreude schwingt zu mir herüber: So schön ist die Schöpfung. Die Müllabfuhr: Menschen, die schwer und schmutzig und im Halbdunkel für uns andere arbeiten. Da ist dieses Wort in meinem Kopf, ich weiß nicht woher es gerade kommt, vielleicht ein Bibelvers, eine Liedzeile, ein Zitat, das zu mir spricht und dem Tag eine Stimmung und eine Orientierung gibt. Der Mensch neben mir: Eine Liebeserklärung ganz nah und von ganz oben. Und der Wecker: Es ist Zeit, den Tag zu beginnen. So könnte es sein, von Gott geweckt zu werden. So könnte sein Wort in unser Ohr dringen. Und was und wie immer es ist, eine Botschaft bleibt: Er ist da. Er passt auf mich auf. Er denkt an mich und ist bei mir und spricht zu mir, selbst wenn ich ihn vergesse im Trubel des Tages. Welch ein Glück. Unser Leben als Christen ist eine Übung im Hören. Ich erinnere mich an Schul- und Studienzeiten, in denen ich so war, ganz Ohr, ganz aufmerksam, und es erschloss sich mir eine neue Welt.

Und dann, nach dem Morgen, die Erfahrungen des Tages. Die Übung des Hörens hat Sinn und Ziel, und das ist nicht unser eigenes Wohlbefinden. Der Unbekannte formuliert: Mit den Müden zur rechten Zeit zu reden, und auch sie zu wecken. Was da am Morgen geschieht ist mehr als nur ein Auftrag. Wir werden befähigt. Aus dem Hören kommt das rechte Reden mit den Menschen, die müde sind. Das ist meistens nicht lustig. Es ist nicht einfach, denn gerade müde Menschen sind es müde zuzuhören, den guten Ratschlägen, Aufmunterungen, Lösungsvorschlägen. Für all das sind sie einfach – zu müde.  Wenn Jesus sagt: Kommt her zu mir alle, die ihr müde seid und belastet: Ich will euch erquicken – dann ist das zwar ein Auftrag, aber kein Allheilmittel. Da beginnt oft schon die Passion. Gelingen kann es dann, wenn wir Worte finden, in denen wir nicht den Sachverhalt klären, die Lösung aufzeigen, sondern Worte, auf denen wir uns selbst hinübertragen lassen zum anderen, so dass er oder sie etwas von uns spüren kann, unsere Aufmerksamkeit, unsere Nähe, unsere Wertschätzung und Liebe. Da öffnet sich vielleicht ein Ohr und eine Seele. Manchmal. Und dann „fällt ein Tropfen von dem Regen der aus Wüsten Gärten macht.“ Jesus konnte das. Und doch hat auch er sich an der „Herzenshärtigkeit“ der Menschen aufgerieben.

Und schließlich noch die Erfahrungen der Dunkelheit. Nicht nur bleibt das Reden erfolglos und findet kein Gehör. Wenn Menschen, die Gottes Stimme gehört haben, versuchen, Licht in die Dunkelheit zu tragen, dann provoziert das offenbar. Und so erzählt der Unbekannte von damals, wie es ihm heimgezahlt wurde. Verprügelt wurde er, bespuckt, die Haare wurden ihm ausgerissen, und er wurde übel beleidigt. Heute würden wir sagen: Ein böser Übergriff, ein schwerer Fall von Mobbing.  Die Ursachen bleiben unklar. Das ist bei Mobbing oft so. Klar ist aber, dass er für Gott seinen Kopf hingehalten hat, für das Leben, das Licht und die Wahrheit. Spannend und hilfreich finde ich, wie er davon erzählt. Er tut nicht, was naheliegt: Er klagt nicht, er resigniert nicht, er schlägt nicht wild um sich, und er verherrlicht oder bagatellisiert das Leiden auch nicht. Stattdessen erzählt er von seiner Widerstandskraft. Durchaus mit ein bisschen Stolz und großem Selbstbewusstsein. Er gibt sich nicht geschlagen. Er geht nicht zurück. Er bietet den anderen die Stirn. Hart wie Kieselstein hat er sein Gesicht gemacht. Kennen Sie das Gefühl, dieses Gefühl im Gesicht? Hart! Es gibt Situationen, da ist das notwendig. Und trotzdem erfüllt es mich, so gut ich es nachvollziehen kann, mit Unbehagen. Härte ist immer gefährlich. Was macht es mit uns und anderen, wenn wir immer in der Rüstung rumlaufen? Wie Siegfried, der Drachentöter, dessen Haut unverwundbar war. Zwei liebe Menschen habe mir einmal ein kleines Gebet geschenkt: „Wenn wir in Drachenblut baden, schick uns ein Lindenblatt, dass wir verwundbar bleiben.“

Nein, der Weg ist ein anderer. Woher kommt denn diese Widerstandskraft, diese Fähigkeit, standhalten zu können? Die Psychologen sagen, innere Widerstandskraft komme aus Selbstgewissheit und einem guten Netzwerk von Familie und Freunden.  Und ein bisschen ist es unerklärlich. Wie wahr. Aber dieser Unbekannte, der uns erzählt, der hat kein Netzwerk, auf das er sich stützen könnte.  Und woher kommt sein Selbstbewusstsein? Ich glaube, dass da die drei so unterschiedlichen Erfahrungen, die des Morgens, die des Tages, die der Dunkelheit, zusammenfinden. Er schöpft sein Selbstbewusstsein und seine Widerstandskraft nicht einfach aus den unergründlichen Brunnen seiner selbst. Gott gibt ihm, was er braucht, weckt, öffnet, hilft, ist nahe, spricht gerecht. Gott ist der Freund auf unserer Seite. Diese Erfahrung macht er nicht nur einmal, sondern“ Morgen um Morgen“. Dass er standhalten kann, das ist ein Zeichen von Gottes Nähe. Daran ändert auch das Leiden, das Mobbing, die Beleidigung nichts. Im Gegenteil: Auch das wird zum Zeichen der Nähe Gottes. Man kann auch im Leid die Nähe Gottes erfahren. Alle Kraft in den Schwachheiten des Lebens kommt von Gott. Das ist unsere Stärke. Aber zugleich liegt darin ein Versprechen. Jedes kleine Glück, jedes Glücksgefühl ist in sich wertvoll und zugleich mehr, nämlich ein Gleichnis, ein Versprechen des Glücks überhaupt ist. Und so ist auch die Kraft Gottes in unserer Schwachheit, die Nähe Gottes im Leiden ein Versprechen, dass einmal alle Tränen abgewischt werden und, wie der Unbekannte mit großer Gewissheit sagt, „ich nicht zuschanden werde“.  Und das bildet Vertrauen, Selbstgewissheit, Gelassenheit, Widerstandsfähigkeit. „Mein Angesicht verbarg ich nicht.“

Aber da ist doch noch ein großer, ungeklärter, unerlöster Rest: Die Schmerzen an Leib und Seele, die dieser Unbekannte erlitten hat, die wir erleiden, die so viele Menschen erleiden seit Jahrtausenden und bis heute weltweit. Da ist die unerhörte, unfassbare Bosheit und Menschenverachtung, die uns immer wieder entgegenschlägt Bleibt dieses Elend und diese Schuld einfach so liegen und schreit ewig zum Himmel? Muss da nicht noch mehr geschehen? Muss Gott nicht mehr tun als barmherzig zu sein und nah? Für uns und zu unserem Heil wird Gott ein Mensch. Das ist die Geschichte dieser Karwoche. Das ist die Geschichte Jesu.

Ein berühmter, auch umstrittener Schriftsteller unserer Zeit, der, für mich hinreißend und überzeugend und beunruhigend, die Ausgezehrtheit und Müdigkeit einer modernen säkularen Kultur und Gesellschaft und ihrer Menschen zeichnet, den ich aber nie in die Nähe des Christentums gestellt hätte, schreibt am Ende seines jüngsten Romans: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen. Seine überschwängliche Liebe, die in unsere Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt, seine Erleuchtungen, seine Verzückungen, unerklärlich angesichts unserer biologischen Natur, unserer Stellung als einfache Primaten sind äußerst klare Zeichen.

Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht. Muss ich wirklich zusätzlich noch mein Leben für diese Erbärmlichen geben? Muss man wirklich so deutlich werden?

Offenbar ja.“ (Michel Houellebecq, Serotonin, 2019, S. 335)

Amen.

Liedvorschläge:

EG 452,1-5      Er weckt mich alle Morgen

EG 87, 1-3       Du großer Schmerzensmann

            oder

EG 91, 1-3.6    Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken

EG 275 , 1-4     In dich hab ich gehoffet, Herr.

EG 638, 1-3     Wo ein Mensch Vertrauen gibt

 

Perikope
14.04.2019
50,4-9