... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
Liebe Gemeinde,
„Vergib uns unsere Schuld, die auch wir vergeben unseren Schuldigern“ – so beten wir immer wieder mit dem Worten des Vaterunsers.
Wann ist Dir eigentlich zum letzten Mal vergeben worden? Als Du ein Wort gesagt, das einen anderen Menschen tief verletzt? Als Du ein – sogar ernstgemeintes – Versprechen nicht gehalten? Als Du ob mit oder ohne ausdrücklichem Willen Deinem Mitmenschen nicht hast widerfahren lassen, was ihm zugestanden hätte und was er mit gutem Recht von Dir erwartet?
Wann hast Du eigentlich zum letzten Mal vergeben? Dem, der Dich enttäuscht; der, die Dich verletzt oder dem, der Dich versetzt?
Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage Dir, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
Schon die Frage ist falsch gestellt. Vergeben aus Berechnung? Wie oft vergibt denn Gott Dir? Hast Du das einmal nachgezählt? Sei ehrlich, Du darfst es für Dich selber im Stillen einmal überschlagen: Wie oft brauchst Du die Vergebung Gottes, der Dir sagt: Du hast eine zweite, eine dritte, eine x-te Chance. So oft bist Du gestolpert, so oft bist Du gefallen – so oft hast Du Deine Versprechen nicht gehalten – mir gegenüber nicht und Deinen Mitmenschen gegenüber nicht – ja, nicht einmal Dir selber gegenüber. Und immer und immer wieder neige ich mich Dir entgegen und vergebe Dir. Schenke Dir einen Neuanfang nach dem anderen, nagel Dich nicht fest auf Deine Fehler, sondern traue Dir Neues, traue Dir Veränderung zu.
Und Du? Willst Du für Dich behalten, was ich Dir an Chancen, an Anfängen, an Lebensräumen schenke, indem Du meinst, Deine Vergebung anderen gegenüber beschränken zu müssen? Glaubst Du, ich schenke Dir das Leben, damit Du es für Dich selbst behältst? Glaubst Du, ich bin gnädig Dir gegenüber, damit Du gegenüber anderen hartherzig bist? Glaubst Du, ich verschenke mich selbst an Dich, damit Du Dich im Kreisen um Dich selbst verlierst?
Und dann erzählt Jesus eine Geschichte. Ein Gleichnis. Eines, das wir in Zeiten gekaufter Weltmeisterschaften, überschuldeter Staaten und schon fast salonfähiger Korruption und dem, was wir „Ellenbogengesellschaft“ nennen, vielleicht fast noch besser verstehen können als die Menschen, die damals um Jesus versammelt saßen, als er es zum ersten Mal erzählte.
23Mit der Gottesherrschaft verhält es sich wie in der Geschichte von einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. 24Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. 25Da er's nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. 26Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's alles bezahlen. 27Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei und die Schuld erließ er ihm auch.
Er weiß gar nicht, wie ihm geschieht, der namenlose Knecht. Er könnte Deinen Namen tragen oder auch meinen – er mag männlich gewesen sein oder weiblich – ganz egal. Denn eigentlich, eigentlich geht es hier ja nicht nur ums Geld. Davon hatte der König genug. Und die Schulden, um die es hier geht: eine astronomische Summe – in heutige Zahlen umgerechnet angeblich 12,4 Milliarden Euro, haben schlaue Leute ausgerechnet. Machen wir uns gar nicht viele Gedanken darum, um was für eine Art von Knecht es sich hier handelt und wie es angehen konnte, dass er eine so astronomisch Hohe Schuldensumme anhäuft. Klar ist: Die kann er nicht bezahlen. Die kann er auch nicht bezahlen, wenn er Frau und Kinder und alles, was er hat, verkauft. Er sitzt ein für alle Mal in der Schuldenfalle – da hilft kein Berater, da hilft keine Umschuldung, da hilft auch kein Tricksen mehr – so kreativ kann man die Bücher gar nicht frisieren. Ein hoffnungsloser Fall.
Und der König? Er beschließt einen Schuldenschnitt, wie wir heutzutage sagen. Er erkennt die Hoffnungslosigkeit der Situation, er fängt nicht an zu rechnen, er schreibt keine Schuldenpläne – er handelt und: Vergibt im wahrsten Sinne des Wortes die Schuld. Von jetzt auf gleich ist der Knecht frei. Das Leben liegt wieder wie ein weißes Blatt Papier vor ihm. Er kann neu anfangen. Die Fesseln der Schuld(en) abgelegt, frei atmen, nicht gefangen in einer übermächtigen Vergangenheit. Neuanfang. Neue Perspektiven. Neue Möglichkeiten. Neues Leben.
Verwirrt und ungläubig und doch erleichtert und leicht wie schon lange nicht mehr, zieht er von dannen. Die Freude über das neu geschenkte Leben in seinem Gesicht – was wird er tun? Familie und Freunde zum Feiern einladen? Von der großen Güte und Barmherzigkeit des Königs erzählen? Die neu geschenkte Freiheit umsetzen in seinen Bezügen und schauen, wo auch dort neue Anfänge möglich sind?
28Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist! 29Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir's bezahlen. 30Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
Ist das denn die Möglichkeit? Hatte er nicht gerade noch.... Aber jetzt: heillose Gier macht sich in ihm breit. Alles hat er vom König erlassen bekommen. Alles hat er vom König geschenkt bekommen – aber alles ist nicht genug. Es muss mehr sein, immer mehr. Und so läuft er los und treibt ein, was er meint, bei anderen noch gut zu haben. Nix mit freudiger Weitergabe des Empfangenen. Nix mit dem Ergreifen des Lebens, das ihm gerade geschenkt. Sofort ist er wieder im alten Trott. Sofort schaut er nur auf sich selbst und bemerkt in diesem Kreisen um sich selbst gar nicht, dass er dabei ist, alles zu verspielen. Wie kann man nur so herzlos sein? Wie kann man nur so blind sein? Wie kann man nur so undankbar sein? Wie kann man nur..... Aber: Wie hättest Du Dich verhalten?
Und der König?
31Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. 32Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; 33hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? 34Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
Wer kann es dem König verdenken, dass er zornig wird. So war das nicht gedacht mit dem Schuldenerlass. So haben wir nicht gewettet! Ich habe Dir nicht das Leben geschenkt, damit Du es anderen nimmst. Ich habe Dir nicht die Luft zum atmen gegeben, damit Du anderen die Kehle zuschnürst! Du hast nichts verstanden von meinem Handeln. Du hast meine Vergebung nicht nur nicht verdient – denn das kannst Du ohnehin nicht – Du hast sie regelrecht verwirkt.
Ich habe Dir die Perspektive meiner Barmherzigkeit angeboten – Du bleibst bei Deiner Hartherzigkeit.
Ich habe Die Vergebung geschenkt – Du bleibst bei Deinem kalten Berechnen.
Wenn Du es nicht anders willst: Raus mit Dir, ab zu den Peinigern. Du wirst mir alles zurückzahlen – alles. Nicht weil ich es will, sondern weil Du mit Deinem Handeln selber gezeigt hast, dass Du es willst.
Und Jesus schließt:
35So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.
Das, liebe Gemeinde, ist vielleicht das Entscheidende. Dem Knecht wird kein Unrecht getan mit dem Handeln des Königs. Er bekommt nur, was er ohnehin verdient hatte. Und weiter: Er bekommt nur, was er im Grunde selber für richtig hält, sonst hätte er ja seinen Mitknechten gegenüber anders verhalten. Man sollte nicht, wie in manchen Auslegungen zu dieser Geschichte immer wieder zu lesen, gleich davon sprechen, dass mit dem strafenden König hier ein Gottesbild eingeführt werde, das dem unseren nicht mehr entspricht. Immer wieder kommt es im Matthäusevangelium ja vor, dass Gleichnisse für den ein oder anderen in der Finsternis enden, wo „Heulen und Zähneklappern“ herrschen. Aber: Ist der König, ist Gott, hier ein so willkürlich strafenden Wesen, wie manche behaupten? Ich bin der Meinung, dass vielleicht sogar eher anders herum ein Schuh draus wird: Der König in dem Gleichnis Jesu ist kein willkürlicher Herrscher, sondern jemand, der das Handeln seiner Untergebenen ernst nimmt. Er wischt nicht über das Verhalten des Knechtes gegenüber seinen Kollegen hinweg mit einem „Ach, das hat der Kleine ja gar nicht so gemeint“, was nicht weniger als einer Entmündigung dieses Menschen gleichkäme. Er nimmt es ernst und sagt: Wenn Du, Knecht, Dir das Gesetz meiner Gnade und Barmherzigkeit nicht gefallen lassen willst, dann will ich Dich auch auch nicht darauf verpflichten; dann passe ich mich Deinem berechnenden, selbstbezogenen und gierigem Verhalten an. Nicht, indem ich willkürlich handle, sondern indem ich einfach nur Dir den Spiegel über Dein Tun vor Augen halte.
Von einer „brutalen Pädagogik“ eines richtenden Gottes, der Menschen nur eine einzige Chance gibt, kann ich in dieser Geschichte nichts finden. Und der Verweis auf das Gericht, der mit dem letzten Vers deutlich wird, lässt sich allein schon deshalb nicht weg interpretieren, weil er dafür im Matthäusevangelium zu häufig vorkommt. Vor allem lässt sich aber der Schluss des Gleichnisses nicht weginterpretieren, weil er nichts Anderes sagt als wir mit dem grundlegendsten Gebet unseres Glaubens Sonntag für Sonntag und wahrscheinlich noch sehr viel häufiger beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.
Ja, unser Verhalten ist Folge des Handelns Gottes an uns – aber es ist auch wieder Voraussetzung für sein Handeln an uns. Wir können vergeben, weil wir Vergebung erfahren. Wir können lieben, weil wir geliebt werden. Wir können auf das verzichten, was uns zusteht, weil wir grundlos und umsonst geschenkt bekommen, was wir zum Leben brauchen und – Gott sei Dank! – vieles von dem, was wir „verdienen“ nicht bekommen. Aber wenn Gottes Handeln an uns keine Folge hat, wenn es nicht wächst in dem, was wir sind und sagen und tun – dann ist es nicht Gott, der auf einmal wieder willkürlich zu anderen Mitteln des Handelns uns gegenüber greift, sondern dann sind wir es selber, die wir letztlich Gott in unsere Maßstäbe hineinzwingen.
Nicht Willkür und Gericht predigt Jesus mit dem Gleichnis des „Schalksknechts“, sondern einzig gegen das, was Dietrich Bonhoeffer einmal zutreffend als „billige Gnade“ bezeichnet hat.
Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderten Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist.
Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes.
Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nichts des Sünders. (Bonhoeffer, Nachfolge)
Und mal ehrlich: Welchen Sinn hätte denn das Gleichnis Jesu, wenn der König selbst am Ende noch einmal gesagt hätte: Macht nichts, Du weißt es eben nicht besser, es ist schon nicht so schlimm? Das wäre in der Tat billige Gnade, verschleuderte Liebe – Gnade, die nichts verändert und Liebe, die nichts bewirkt.
Eigentlich hatte Petrus nur eine kurze Frage gestellt: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
Jesus sprach zu ihm: Ich sage Dir, nicht siebenmal, sondern siebzig mal siebenmal. – Und er erzählt ein Gleichnis. Ob Petrus nun schlauer ist als vorher?
Ob wir nun schlauer sind als vorher? Wir können die Perspektive, die Jesus uns anbietet ausprobieren – gleich im Beten des Vaterunsers. Und dann nach dem Gottesdienst draußen, mitten in unserem Leben.
Amen.
... wie auch wir vergeben unseren Schuldigern - Predigt zu Matthäus 18,21-35 von Sven Evers
18,21-34
Perikope