Wie finde ich Gott? - Predigt zu Lk 17,20-21 von Monika Lehmann-Etzelmüller
17,20-21

I Text

Als Jesus aber von den Pharisäern gefragt wurde: wann kommt das Reich Gottes? da antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es beobachten kann. Man wird auch nicht sagen: Siehe hier! oder: Siehe dort! Denn siehe, das Reich Gottes ist in eurer Mitte.

II Hauptfrage

Wo ist Gott?
Uralt ist die Frage, die über der Szene steht. Wie verwitterter Stein, aus Nacht und Himmel, aus Erinnerung und Zukunft, aus Zweifel und Erde geformt. Wo ist Gott? Eine Frage mit vielen Geschwistern. Wo ist Gott? Woran merke ich, dass er da ist? Wie finde ich sie? Kommt Gott zu uns, gerade jetzt, da wir Gotteszuversicht und Gottesmut brauchen in schwieriger Zeit? Wie kann ich die Zeichen entziffern, die Schrift lesen, wie kann ich spüren, dass er nahe ist? Bist Du da, Gott? Ich habe so lange auf dich gewartet.

III Jesus antwortet als Pharisäischer Weisheitslehrer

Es sind die Pharisäer, die so fragen. Und sie sind es, an die Jesus zuallererst die Antwort richtet. Ihnen, also den Pharisäern, sagt er: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte. Das überrascht mich. In den Evangelien kommen die Pharisäer nicht gut weg. In vielen Geschichten erleben wir sie als welche, die Jesus aufs Glatteis führen wollen, ihn missverstehen und schlecht machen. Doch hier hören wir einer Diskussion auf Augenhöhe zu. Die Pharisäer legen Jesus eine Frage vor, die in der jüdischen Theologie bis heute zentral ist: Wann kommt Gott? Wie lange müssen wir noch warten? Jesus stellt sich unbefangen und ganz und gar hinein in dieses Nachdenken. In dieser Szene zeigt Jesus sich als einer der Weisen und Lehrer Israels, deren Schule bis heute das Judentum prägt. Jesus spricht als einer von ihnen. Er ist Jude. Seine Jünger sind Juden. Nur so ist zu verstehen, was Jesus sagt. Das Reich Gottes ist in eurer Mitte, sagt er. Wer wissen will, wer Gott ist, soll euch hören und auf euch sehen.

IV Eine altbekannte Erkenntnis neu ins Licht stellen: Jesus ist Jude

Das klingt so selbstverständlich. Haben wir ja schon oft gepredigt und oft gehört. Tatsächlich erleben wir, wie die Abgrenzung in unserer christlich geprägten Gesellschaft von Jüdinnen und Juden zunimmt. Der Antisemitismus nimmt zu in einem Maß, das sich vor Jahren niemand hätte vorstellen wollen. Der Mannheimer Sohn Xavier Naidoo relativiert den Holocaust und spricht in Reichsbürgerrhetorik, Kayne West bedient krude Theorien einer jüdischen Weltverschwörung. Auf Kundgebungen der AfD werden ungeniert nationalsozialistische Symbole vorgezeigt. Das hatten wir schon mal und es möge nie mehr zurückkehren. Darum ist es gerade jetzt so bedeutsam, eine altbekannte Erkenntnis ganz neu ins Licht zu stellen: Jesus ist Jude. Was Jesus sagt, ist gewoben aus den uralten Hoffnungsfäden, dem Lichtleinen und den Trotzliedern Israels. Wer nach einem Kompass sucht, kann es halten wie die Pharisäer, die vor Jesus stehen: nämlich fragen, die Juden selbst fragen, was sie hoffen, was sie brauchen und wie sie leben auch in unserem Land. Was sein muss, dass sie bleiben können.

V Das Reich Gottes ist inmitten der Gemeinde, trotz allen Versagens

Das Reich Gottes ist in eurer Mitte.
Mir sind zuerst die Pharisäer ins Auge gefallen. Jetzt lasse ich den Blick weiter wandern. Da stehen ja auch noch die Jünger. Wie werden sie die Worte Jesu wohl gehört haben: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte, mitten in eurer Gemeinschaft. Kann das sein? Würden wir das über uns selbst sagen, über unsere Gemeinde, unsere Kirche, dass das Reich Gottes da ist, erlebbar, spürbar in unserer Mitte? Die Kirche ist oft alles andere gewesen als ein Ort, an dem Menschen Gott gefunden haben. Schreckliches geschah in ihrem Namen, das Menschen zerbrochen hat. In der Geschichte und in der Gegenwart, wenn wir z.B. an die Opfer von sexualisierter Gewalt denken, die es auch in unserer Kirche gegeben hat und gibt. Die Jünger selbst haben versagt; sie haben Jesus verraten und im Stich gelassen.

VI Räume öffnen, in denen Gott sein kann, so wie die Jüngerinnen es getan haben

Trotzdem hängt der Satz auch über ihnen. Das Reich Gottes ist in Eurer Mitte. Es ist verborgen und nicht so leicht zu sehen. Es leuchtet auf, wenn Menschen Gottes Willen tun, das Gute und die Liebe. Da war der Mut der Frauen, die bei Jesus geblieben sind. Als er starb und die Welt sich über dem Kreuz verfinstert hat, war es allein ihr Mut, der Gott in der Welt gehalten hat. Ihr Mut war übrig und er hielt stand.
Geht es darum - dass wir als Gemeinde Räume öffnen, in denen Gott und sein Reich sein kann? Ganz buchstäblich Räume mit Wärme für Seele und Haut und Füße in dem Winter, auf den wir zugehen. Oder in den Begegnungscafés, wo jeder kommen kann und jede willkommen ist. Räume aus Gebeten, aus Liedern und Gottes Wort, in denen Trost wachsen kann, Zuversicht und Mut. Räume, in denen wir Frieden leben, in der Gemeinde, in der Nachbarschaft, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Familie.
Gott traut es uns zu. Er traut Menschen, die Sprünge und Risse in ihrem Leben haben. Sie sind die Stellen, durch die das Licht durchdringt. Mit solchen Menschen hat Gott etwas vor.

VII Jesus PLUS: nicht nur Weisheitslehrer, sondern gelebte Gottesgegenwart

Ich habe auf die Pharisäer geschaut. Dann auf die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger, die bis zu uns reicht. Jetzt schaue ich auf Jesus. Da steht er, in der Mitte, er sagt: Das Reich Gottes ist in eurer Mitte. Auch so kann ich es hören: Das Reich Gottes ist Jesus selbst. In ihm leuchtet es auf, in ihm wird es greifbar, mit ihm bekommt es ein Gesicht. Wer fragt, wo Gott ist; wo kann ich ihn finden; wie wirkt er zwischen uns, der kann auf Jesus schauen. Da ist Gott. Er ist  in dem Kind, das geboren wird in einem Land unter fremder Besatzung, ein Flüchtlingskind vom Kindbett an. In dem Wanderprediger, der Menschen neu aufrichtet und Hoffnung lehrt: Auch du bist Gottes Kind, auch du bist willkommen in Gottes Reich. In dem Gekreuzigten, der das Dunkel ganz auf sich nimmt, sich ihm ganz preisgibt, damit wir es nicht sind. In seinen Worten und in seiner Wirksamkeit, in seinem Vertrauen und in seiner Ohnmacht, in seinem Leben und in seinem Tod und in seiner Auferstehung, da ist Gott.

VII In schwieriger Zeit bleibt es, bleibt er, wenngleich rätselhaft

Schemenhaft sehe ich zwischen den Jüngern und Pharisäern noch andere Gesichter. Wie kann ich Gott finden, so fragen auch sie. Wie kann ich Gott wieder spüren, so hat eine junge Frau gefragt. Er kommt mir so fern und schweigsam vor. Fern und schweigsam im Dürresommer, in diesem Jahr, in dem der Krieg uns so nahe gekommen ist und in dem so vieles uns bedrückt. Wo ist Gott in schwieriger Zeit? Wie kann ich ihn wiederfinden? Gottes Reich ist in Eurer Mitte. Martin Luther hat das so übersetzt: Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Ihm war wichtig, das heraus zu meißeln: Jeder, jede kann Gott finden, ohne Umwege und ohne Einweihung. Manchmal spüren wir nichts von Gott. Erst im Zurückschauen sehen wir die Spuren. War er die Kraft, die dann doch gereicht hat? War seine Stimme in den Worten der Freundin verborgen, die Trost und Rat wusste? War da nicht sein Wort, das nährte und Kraft gab für lange Zeit: Fürchte Dich nicht. Ich werde bei dir sein. Ich glaube: In der Sehnsucht, dass Gott da ist, ist Gott auch. Gott ist mitten in dem Gefühl, dass er fehlt, mitten in dieser Sehnsucht. Er lässt sich überraschend finden, in der Stille einer leeren Kirche, im Zusammensein mit Lieblingsmenschen, im Klopfen des Regens, in der kalten Klarheit des Herbstmorgens, wenn der Winter sich langsam anschleicht.

VIII  Lasst (euch auf) das Reich Gottes ein

Das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Es ist in dem Warten Israels.
In ihrer Hoffnung: Gott ist da, wo man ihn einlässt.
Gott lässt es wachsen und leuchten in Räumen, die Menschen öffnen. Räume für andere, für die, denen es kalt geworden ist im Leben, im Herzen und auf der Haut. Raum für Hoffnungstaten und Freundlichkeit, fürs Aussprechen und Angstgestehen, für Trotzlieder und Mutgedanken.
Es legt Spuren in unser Leben, die wir entziffern können. Da war Gott da. Und da auch. Da war er die Brise Rückenwind. Da war er in der Hand auf meiner Schulter. Da war er in dem Wort, das mich satt gemacht hat, das gereicht hat für lange Zeit.
Das Reich Gottes ist da in Jesus. In seinem Angesicht sehen wir das Gesicht Gottes. Wo ist Gott? Er ist da. Gott ist da.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Monika Lehmann-Etzelmüller

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Vor Augen steht mir eine junge Frau, die mich gefragt hat: Wie kann ich Gott wiederfinden? Während der Coronazeit, die sie als einsame Zeit erlebt hat, nach dem Tod ihrer Mutter und mit dem neuen Bewusstsein für Krieg und Gewalt in unserer Welt, schien Gott sich immer weiter zu entfernen. Ist überhaupt etwas von ihm da in unserer Welt? Bei der Predigt in Hohensachsen, einer Gemeinde unseres Kirchenbezirks, werde ich sie in den Reihen suchen. Ob sie da sein wird? Ich glaube, nein, aber ihre Suche nach Gott wird da sein.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Gottes Reich ist in eurer Mitte – die vier Möglichkeiten, diesen Satz zu hören, habe ich bei Gerd Theißen gefunden.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gemeinde sein bedeutet, Räume zu öffnen, in denen Gott sein kann.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Predigt verdankt ihre Zwischenüberschriften meinem Predigtcoach. Dadurch ist ihre Gliederung viel deutlicher geworden.

Perikope
06.11.2022
17,20-21