„Wir dürfen menschlich sein!“ - Predigt zu Jakobus 1,12-18 von Reiner Kalmbach
1,12-18

„Wir dürfen menschlich sein!“

Wie gut, dass Martin Luther nicht an der Zusammenstellung des Neuen Testaments mitgewirkt hat. Dann wüssten wir wahrscheinlich nichts von der Existenz des Jakobusbriefes. Denn Luther hielt nicht sehr viel von diesem Brief und seines Inhalts. Er hielt ihn für eine „stroherne Epistel“, die das Gnadenhandeln Gottes ignoriere und stattdessen grossen Wert auf die menschlichen Werke lege.

Um das Wohlwollen Gottes zu erlangen, müssen wir mühevoll die steile Leiter erklimmen, und oben angekommen, zeigen wir dann die ganze Liste unserer „guten Werke“, „...siehst Du, lieber Gott, ich habs verdient, nun mach schon die Tür auf...!“, so, oder ähnlich, hat die Kirche es den Menschen jahrhundertelang gepredigt..., bis dann Martin Luther kam und die Gnadenbotschaft des Apostels Paulus (wieder)entdeckte. Die steht, dem Anschein nach, nämlich ganz im Gegensatz zu unserem Jakobus. Das Studium der Schriften des Paulus führte bei Luther zu einer tiefen Glaubenserfahrung, und die wiederum gab den Anstoss zur Reformation: endlich war er von den Fesseln des Gesetzes befreit, ja erlöst. Unser Handeln, die guten Werke, nicht als Eintrittsbedingung für das Paradies, sondern als eine Frucht, eine Konsequenz des Glaubens, der von Luther als ein Geschenk (Gnade) Gottes erfahren wurde.

Aber ob es uns (Lutheranern) nun gefällt, oder nicht, der Brief des Jakobus ist Teil des Neuen Testaments. Und selbst Luther musste schliesslich die Epistel „...doch für gut...“ halten, auch er, der grosse Reformator, konnte sich irren und dazu stehen, was ihn ehrt...

Ein guter Freund und Theologe sagte einmal: „...wenn man sich lange genug von Paulus ernährt hat, dann tut einem Jakobus richtig gut...“

Und es ist ja wahr: in unseren evangelischen Gottesdiensten wird die Gnade Gottes praktisch jeden Sonntag verkündet und der Apostel Paulus ist uns durch seine Briefe ein guter Bekannter. Also wollen wir heute hören, was der einst so umstrittene Jakobus uns zu sagen hat.

Wir hören aus dem 1. Kapitel die Verse 12 bis 18

Textlesung

Es menschelt sehr...

Was ist eine Versuchung?, sie ist auf jeden Fall etwas sehr attraktives, etwas, das mir den Kopf, die Sinne verdreht...und manchmal sogar aus der Bahn wirft. In meinem langen Leben als Seelsorger habe ich es nicht selten erlebt, wie Menschen sich aus den Fallstricken der Versuchung nicht mehr befreien konnten. Man muss nicht unbedingt die Klatschspalten diverser Zeitschriften durchblättern, um zu erfahren, welche Macht das Geld auf einen Menschen ausüben kann. Bei uns in Argentinien ist diese Gier nach Geld noch mit dem Hunger nach politischer Macht gepaart. Ein junger Mann, intelligent, durch familiäre Schicksalsschläge schon früh selbständig geworden und für viele seiner Mitmenschen „vielversprechend“, lässt sich von einem wichtigen Lokalpolitiker „anwerben“. In einem Gespräch sagte er mir: „...so komme ich am schnellsten zum Ziel...“ In meinen Gedanken fragte ich mich „welches Ziel denn...?“, trachtet er etwa danach, zu jenen aufzusteigen, die sich die Taschen mit dem Geld anderer füllen? Die Korruption „frisst“ in unserem Land fast ein Drittel des Staatshaushaltes, Geld das zum Bau von Strassen, Schulen und Krankenhäusern fehlt. Minister, Staatssekretäre, Funktionäre aller Ränge, von ganz oben bis ganz nach unten, deren Vermögen sich in wenigen Jahren auf wunderbare Weise hundertfach vermehrt.

Und dann reise ich nach Deutschland, in die „Heimat“, und sehe diesen unglaublichen Überfluss und selbst die Armen, die es ja auch gibt, würden hier in Lateinamerika zur unteren Mittelschicht gehören. Und man sieht es überall, auch in den Gemeinden: mit Geld kann man (fast) alles erreichen. Mal ganz ehrlich: unser Leben wird vom Geld bestimmt. Wir können es abstreiten, wir können es versuchen zu rechtfertigen, aber an der Tatsache ändern wir nichts: dem Wohlstand, immer und immer höher gedreht, wie eine Spirale, werden Werte geopfert die so alt sind wie die Menschheit selbst. Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Verzicht, Geradlinigkeit, bedingungslose Sorge und Einsatz für den Nächsten.

Dann bin ich wieder hier, umgeben von Korruption, Gewalt und sinnloser Armut. Und an der nächsten Strassenecke werde ich angepredigt: „hör auf zu leiden!, komm zu uns!, Jesus wird alle deine Probleme lösen...“ Natürlich füllen sich die Säle dieser Gruppen, klar, dass sie ungeheuren Zulauf haben. Es ist kaum zu glauben, aber diese „Kirchen“ bekennen sich dazu ein „Wohlstandsevangelium“ zu verkünden. Materieller Wohlstand gleich Segen, Armut gleich Fluch..., so einfach ist das. Wer möchte da nicht auf der richtigen Seite stehen...?!

In unserer Gemeinde arbeiten wir mit Jugendlichen die aus einem schwierigen Umfeld kommen. Oft handelt es sich um Familien in denen seit Generationen niemand einer geregelten Arbeit nachgeht, nicht selten sind sie von staatlicher Unterstützung abhängig. In ganz kleinen Schritten versuchen wir den jungen Menschen positive Werte nahezubringen, damit sie in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und für andere. Wir geben ihnen zu verstehen, dass es sich lohnt, Durststrecken durchzustehen, dass Schule abbrechen, um ans schnelle Geld zu kommen, eben nicht die Lösung ist. Da es hier keine Lehre gibt die man absolvieren könnte, wäre ein Universitätsabschluss das Sprungbrett zu einem neuen Leben. Aber nur in ganz seltenen Fällen gelingt uns dies. Die Verlockungen der Konsumgesellschaft sind stärker. Man strebt nicht nach einer besseren Lebensqualität, denn man weiss ja gar nicht, was das ist, sondern man gibt den Versuchungen des schnellen Geldes nach, selbst wenn dies für die Zukunft eine Art Sklavendasein bedeutet.

Die Versuchung ist eine ständige Begleiterin, sie gehört zum Leben, sie ist ein Teil des Lebens. Welche Eltern sorgen sich nicht um die Zukunft ihrer Kinder?, sie investieren Zeit, Geduld, Liebe, Geld in die Erziehung, um sie damit in die Lage zu versetzen den eingeschlagenen (guten) Weg alleine fortzusetzen. Und doch: die Sorge bleibt, Sorge genährt aus eigener Erfahrung und weil man eben weiss, das die Versuchung stets am Wegesrand lauert.

...auch Christen menscheln...

was für die Welt im Allgemeinen gilt, betrifft uns Christen im Besonderen: auch wir werden versucht. Jesu Versuchung in der Wüste dürfte wohl das „populärste“ Beispiel sein. Schon als Kind versuchte ich mir die Situation vorzustellen: „...bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden.“ Wäre das nicht das Ende allen Hungers in der Welt?, aller Armut, des Elends...?, wäre damit nicht vielen Konflikten der Boden entzogen...?, das Ende aller sozialen Unterschiede...?, was wäre daran falsch?

Als Christen wissen wir, oder sollten es wissen, dass Jesus dieser übermächtigen Versuchung widerstand und gerade deshalb das wohl wertvollste Gut, das einem Menschen geschenkt werden kann, gewonnen hat: die Freiheit!

Und darum geht es: die Versuchung hat nur ein Ziel: uns der Freiheit zu berauben, Freiheit des Gewissens, Freiheit ohne Angst, ohne Druck entscheiden zu können, Freiheit nein sagen zu können, Freiheit Fehler einzugestehen, um Vergebung zu bitten, Vergebung zu leben.

Der Autor des Briefes, manche meinen, es handelt sich um den „Herrnbruder“, also dem Bruder Jesu, will uns keine Moralpredigt halten. Es geht ihm nicht um „Angstmache“, so nach dem Motto „wenn ihr nicht..., dann...!“ Jakobus weiss, dass die Versuchung Teil des Lebens ist, auch des christlichen Lebens!, ja vielleicht könnte man sogar sagen: gerade des christlichen Lebens.

Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, mein Glaubensleben, dann frage ich mich: gibt es Glaube ohne Anfechtung? Immer wieder staune ich über das „Selbstbewusstsein“ der Anhänger der neuen Kirchen und Sekten, für die alles klar zu sein scheint: du stehst entweder auf unserer Seite...und bist gerettet, d.h. du stehst jenseits des Kreuzes, es betrifft dich nicht mehr..., oder du stehst auf der anderen Seite und bist draussen. Zweifel, Anfechtungen, kann es nicht geben, denn diese sind vom Teufel. Bei einem solchen „Glauben“ bedarf es im Grunde des Wortes Gottes nicht mehr, es ist doch alles klar!

Nein, dann doch lieber mit Luther, der an seinen Zweifeln beinahe zerbrochen ist und der sich, am Ende seiner Kräfte, in die Arme Gottes fallen lassen konnte. Glaube ohne Zweifel, ohne Anfechtung gibt es nicht!, denn der Glaube wächst an den Zweifeln. Diese Erfahrung macht wohl jeder der sich seines Glaubens bewusst ist.

Mensch und Christ: geborgen in Gottes Hand

Unser Abschnitt ist eingebettet in ein Trost - und Verheissungswort. Wir sind als Christen in erster Linie Menschen und als solche den Versuchungen dieser Welt ausgesetzt. Wir wissen dies, wir sind uns dessen bewusst. Wir können und sollen! uns nicht aus dieser Welt zurückziehen, uns heraushalten, damit wir uns die Hände nicht schmutzig machen..., ganz im Gegenteil! Es ist eben diese christliche Freiheit die es mir möglich macht, die mich treibt..., mich ins „Getümmel“ zu stürzen, dem „Rad der Geschichte in die Speichen zu greifen...“, wie Bonhoeffer es formuliert hat. Dabei kann es passieren, dass ich schuldig werde, dass mein Gewissen belastet wird. Und oft genug muss ich meine ganze Kraft aufwenden, um standhaft zu bleiben. Vor vielen Jahren war ich für eine sehr arme Gemeinde im Nordosten Argentiniens zuständig. Wir hatten nur eine kleine und halbzerfallene Holzkapelle. Dann kam die Wahlkampagne. Einer der Mitglieder des Vorstandes kam mit einer tollen Idee: eine politische Partei versprach uns die Mittel für den Bau einer neuen und grösseren Kirche..., natürlich nur im Falle ihres Wahlsieges. In der Sitzung ging es hin und her. Wer könnte es diesen armen Bauern übel nehmen?, sie haben sich eine neue Kirche, weiss Gott, „verdient“. Ich sagte nichts, war aber hin und hergerissen, die Versuchung war gross..., und es wäre ja für einen guten Zweck...(versuchte ich mir einzureden...). Dann bat einer der ältesten Mitglieder um das Wort: „...lieber arm bleiben, als in die Fänge der Politiker zu geraten...“. Das war unsere Versuchung in der Wüste.

Mensch und Christ, und als solcher geborgen in Seiner guten Hand. Die Versuchung ist so wirklich, wie die Verheissung des Reiches Gottes wirklich ist.

Amen.

Perikope
09.03.2014
1,12-18