"Wir sind geliebter, als wir wissen" - Predigt über Johannes 17, 20-26 von Angelika Volkmann
17,20
Wir sind geliebter, als wir wissen.
Liebe Gemeinde,
Wir sind geliebter, als wir wissen.*
  Das sagt uns der Himmel.
  Gott hat uns geliebt, noch ehe der Grund der Welt gelegt war.
  Das sagt uns Jesus Christus in seinem Abschiedsgebet.
Jesus steht unter freiem Himmel, wie wir heute. Seine Jüngerinnen und Jünger sind um ihn versammelt, hören ihm zu, voller Aufmerksamkeit, damit ihnen ja kein Wort entgeht von dem, was er zu sagen hat. Es sind letzte Worte, Abschiedsworte, und darum sind sie besonders bedeutsam und  eindringlich. Jesus wird sterben. Aus Liebe. Sein Tod ist kein Scheitern, sondern eine Eröffnung neuen Lebens. Es wird viel Kraft ausgehen von seinem Sterben. Dennoch ist es schwer für seine Jünger. Jesus hebt seine Augen auf zum Himmel, so schreibt Johannes, und ich stelle mir vor, dass er auch seine Arme hebt, seine Hände empor streckt, dass er die Verbindung von Himmel und Erde sucht, um seiner Fürbitte Nachdruck zu verleihen. Inständig betet er für die, die an ihn glauben. Für die, die er lieb hat, die seinen Tod verkraften müssen und auch sonst manches Leid. Er betet für ihren Glauben. Und nicht nur dafür. Er betet auch für die Späteren, die durch das Wort dieser, die bei ihm stehen, zum Glauben kommen. Er betet für die Gemeinde, die auf Ostern und Himmelfahrt bereits zurückblickt. Er betet für uns.
Und so geschieht es, dass in diesem Gebet der irdische Jesus und der auferstandene Christus miteinander verschmelzen. Jesus Christus betet inständig und leidenschaftlich. Wir liegen ihm sehr am Herzen. Wir ahnen, dass dieses Gebet gar nicht aufhört. Christus betet noch immer für uns.
Er weiß, was auf dem Spiel steht. Er ist doch vom Himmel auf die Erde herabgekommen, um den Menschen Gottes Nähe zu zeigen. Um den Namen Gottes zu verkündigen, der in jedem Augenblick liebevoll da ist, was auch immer geschieht. Die Menschen sind geliebter als sie wissen!
Er hat ihnen die Augen geöffnet für Gottes unsichtbare Wirklichkeit. Selbst im größten Leid ist Gott nahe und lässt es in einem anderen Licht erscheinen. Sogar Sterben kann ein Sieg sein. Ein Ende kann ein Anfang sein. Denn der Himmel ist auf die Erde gekommen. Gott wohnt hier schon. Ganz in der Nähe. Als Mensch ist er gekommen und hat alles gegeben. Nach seiner Rückkehr zum Vater ist er auf andere Art unvermindert gegenwärtig.
Christus weiß, dass alles auf dem Spiel steht, immer wieder. Dass sie verzagen würden. Dass die Verbindung zum Himmel reißen könnte und sie vom Leben und all den Schwierigkeiten überwältigt würden. In der Welt habt ihr Angst, hatte er gesagt.
Darum betet er inständig zu Gott, seinem Vater: Lass das nicht geschehen! Öffne ihnen die Augen! Lass sie mit den Augen des Glaubens sehen! Lass sie miteinander verbunden sein, dass sie sich gegenseitig stützen können! Lass sie alle eins sein. Über Generationen hinweg!
  Auch die Früheren, die längst gestorben sind, gehören in dieses Einssein mit hinein. An sie und ihren Glauben soll erinnert werden.
Lass sie alle daran festhalten, die Welt mit den Augen Gottes anzusehen. Hindurchzuschauen durch den Horizont der Erde in die strahlende Sonne deiner Gerechtigkeit! Gerechter Vater! betet Christus. Lass sie eins sein, so wie du und ich eins sind.
Christus in Gott und Gott in Christus.
  Gott ist so in Jesus, dass er in dessen Leben und Wirken zum Zuge kommt. Er wird für die Menschen spürbar als der, der da ist, der heilt, der hilft, als der „Ich bin da“. Gott ist ganz in Jesus. Und weil Jesus Gottes Worte spricht und Gottes Taten tut, ist er ganz im Vater.
  Lass sieteilhaben an unserer innigen Gemeinschaft, betet Christus.
Ja, die Gemeinde der Glaubenden soll in das Wirken Gottes mit hineingezogen werden, sodass Gott auch in dem, was die Gemeinde tut nach außen drängt, sich äußert, sichtbar wird in dieser Welt. Sie soll Teil dieser umfassenden Liebe sein.
Dieses Einssein ist bereits gegeben durch Jesus und den Vater. Sie werden da hineinwachsen, betet Jesus. Ständig. Es ist ein Prozess. Sie lernen, Unterschiede in Liebe anzunehmen. Sie lernen, was jeder braucht.In der Vielfalt der Kirchen lernen sie das Einssein in der Liebe gegenüber denen, die auf Zuwendung warten. Das Hineinwachsen in die Liebe, das ist nie abgeschlossen, im Gegenteil, es ist immer möglich! Ja, dafür bete ich. Die Glaubenden sollen der Welt die Liebe Gottes zeigen.
Denn in der Verbundenheit, im Mitleiden, in der heilsamen Hilfe nehmen wir Menschen Gottes Gegenwart wahr. Wenn uns Liebe entgegengebracht wird, schauen wir Gottes Angesicht! Das Einssein ist ein intensives Beziehungsgeschehen.
So betet Christus: Lass sie Augen haben für den Nächsten. Lass sie mitfühlen. Lass sie die Scheu verlieren, Kontakt aufzunehmen. Schenke ihnen die Freiheit, sich in den anderen hineinzuversetzen. Gib ihnen Mut, den anderen zu fragen, was er braucht. Lehre sie das Zuhören und das Trösten. Mache sie freigebig. Schenke das Wunder, dass einer dem anderen gibt, was ihm hilft. Lass die Gebenden dabei entdecken, aus welcher Fülle sie schöpfen. Zeige ihnen das Glück, miteinander verbunden zu sein. Zeige ihnen den Ort, wo du wohnst, gerechter Vater.
Wir Menschen verstehen die Sprache der Liebe. In der Liebe erfahren wir das tiefe Geheimnis, dass Grenzen und Entfernung nur eine andere Form der Gegenwärtigkeit sind. Man kann sich aus der Ferne nahe sein durch innere Verbundenheit.
Und wenn man die Menschen fragt, was ihnen am meisten bedeutet, worin sie ihren Lebenssinn finden, dann erzählen sie davon, dass ihnen jemand in schweren Zeiten, in Krisen, bei Trennungen, in Notlagen geholfen hat, dass er einfach da war, Verständnis hatte. Wenn Menschen miteinander verbunden sind, sind sie empfänglich für das Geheimnis der göttlichen Liebe. Das will Christus jedem einzelnen schenken.
Vater, so bitte ich für sie: Lass sie das Geheimnis der Liebe erleben, lass sie da hineinwachsen, jeden Tag. Ich möchte keinen verlieren. Sie sind geliebter, als sie wissen, weil du sie liebst. Das habe ich ihnen kundgetan. Und ich höre nicht auf, sie jeden Tag mit dieser Liebe zu umhüllen und sie da hineinzuziehen, ich höre nicht auf, für sie zu beten. Ich möchte, dass sie alle bei mir sind, da, wo ich bin. Alle, die du mir gegeben hast, sollen bei mir sein, im Himmel.
Amen.
* Helmut Gollwitzer, Thesenreihe V: Womit bekommt man zu tun, wenn man mit dem Evangelium zu tun bekommt?, 5. These, in: Krummes Holz – aufrechter Gang, Zur Frage nach dem Sinn des Lebens, München 1979, S. 382
Vorschlag für das Lied nach der Predigt: Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht, in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder, Nr. 86 Strophe 1-5, Text: Claus Peter März;  Melodie: Kurt Grahl
Wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht,
  wenn das Wort, das wir sprechen, als Lied erklingt,
  dann hat Gott unter uns schon sein Haus gebaut,
  dann wohnt er schon in unserer Welt.
  Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht
  in der Liebe, die alles umfängt, in der Liebe, die alles umfängt.
   
Perikope
09.05.2013
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