Liebe Gemeinde,
sechs Gelehrte saßen im Halbrund und diskutierten zwei Stunden über das Problem der Denkmöglichkeit der Existenz Gottes. Sehr eifrig, sehr ernsthaft und doch nicht gerade ermutigend für den Fernseh- zuschauer. Meine Tochter, die damals ihren Verstand entdeckte, sagte danach: „Jetzt ist’s noch schwieriger, zu glauben.“
Gleich nach besagter Sendung erschien eine Karikatur auf dem Bildschirm: ein großer Tisch, sechs kleine Männlein um diesen Tisch sitzend, Schweißtropfen auf der Stirn – und das Ganze in einer riesigen Hand, die alles trug, und darüber so etwas wie ein freundliches Gesicht, das lächelnd auf alles blickte. Irgendein Mensch mit Humor im Studio hatte noch schnell seine Sicht der vorausgegangenen Diskussion mitgeteilt.
Diese Karikatur kommt mir in den Sinn, wenn ich von Nathanael lese - Nathanael, der mutmaßliche Schriftgelehrte - und wie er ein Jünger Jesu wurde: Ein Skeptiker, der in der Messias-Frage erst einmal klar sehen wollte und als er sich noch angestrengt und voller Zweifel eben darum bemühte, da war er doch schon seinerseits im liebenden Blick des Messias. Wir hören Johannes 1,43-51.(Verlesen des Predigttextes)
„Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Eine rhetorische Frage, die die Antwort schon mitgibt, nämlich: Nichts! Eine Frage, mit der sich Nathanael dem Ansinnen des Philippus verschließt. Was kann denn aus dieser Ecke Gutes kommen - so oder so ähnlich fragen von Natur aus eher skeptische Leute. Leute, die das Leben misstrauisch gemacht hat. Leute, die aus negativen Erfahrungen gewisse Vorurteile gebildet haben. Leute, die dann vor lauter Bedenken auch schon einmal das Glück ihres Lebens verpasst haben. Zum Beispiel, wenn sie eine vielversprechende Beziehung nicht wagen, weil sie gleich wieder fürchten, nachher doch enttäuscht zu werden. Leute, die mit dem neuen Jahr kurz einmal vornehmen, auch ihr Leben zu erneuern und dann bleibt doch alles beim Alten.
Philippus, selbst begeistert von Jesus, stößt bei Nathanael zwar auf eine noch nicht gestorbene Sehnsucht nach heilerem Leben. Die teilt dieser mit vielen im geschundenen Land: Da gab es die Furcht vor der Willkür der römischen Besatzer, aber auch vor den Dolchen der israelitischen Freiheitskämpfer, die vor allem die eigenen Leute mit Terror bekriegten. Jene Landsleute nämlich, die mit der Weltpolizei Rom zusammenarbeiteten. Da gab es eine bedrückende Steuerlast und man begriff wohl, dass das abgezockte Geld nicht für das Soziale, sondern für allerhand riesige Prestigeobjekte des Herodes und der römischen Statthalter ausgegeben wurde. Auch damals gab es schon sinnlose Wolkenkratzer und schreiende Ungerechtigkeit. Und es gab eine allgegenwärtige Bedrohung durch Krankheiten, die Siechtum und soziale Isolation bedeuten würden. Es gab das Bangen um das tägliche Brot nach einer Missernte. O ja, Nathanael sehnt sich schon auch nach dem verheißenen König der Gerechtigkeit und starken Erlöser.
Aber, nun eben: „Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ Seine theologischen Lehrer befinden, dass der Messias aus Davids Stamm von der Hauptstadt Jerusalem aus tätig werden würde. Aber doch nicht vom Kuhnest Nazareth!
So ist Nathanael, wie wir sagen, ganz auf Abwehr eingestellt. Wirklich fremd ist uns sein Verhalten wohl kaum. Ist das „Herkommen“ eines Menschen - ob wir davon wissen oder ob wir es ihm einfach ansehen - ist es nicht oft schon ausreichend, um ihn abzulehnen, ohne uns auch nur ein paar Minuten auf ihn eingelassen zu haben? Wenn da ein Mensch mit einer Frage kommt, eine Bitte äußert, mit uns sprechen möchte, Kontakt sucht, oder es bietet uns jemand mit scheuer Geste Freundschaft an – wie reagieren wir? Im Unterbewusstsein sagt etwas in uns: Zu fremd, zu schmutzig, zu anstrengend.
„Was kann von da Gutes Kommen?“ – eine Frage, die blockiert. Nathanael gehört wohl zu den starren Menschen mit wenig Phantasie, zu den Unbeweglichen.
Aber da macht es nun Philippus, der schon Jesusjünger ist, recht geschickt. Er hat einen Vorschlag, der die zugeschlagene Tür wieder öffnet: „Komm und guck dir es doch einfach einmal unverbindlich an!“ Auf diesem Ohr hört Nathanael. Da wird nun sozusagen die Lichtseite seines zwanghaften Charakters angesprochen. Denn das ist jetzt seine Stärke: genau hinschauen, nüchtern objektiv und gründlich prüfen. Er ist ja keiner, der eine Katze im Sack kaufen würde.
Und tatsächlich: Jesus bestätigt ihm diese positive Seite seines Charakters sogleich und rückt sie ins Licht: „Siehe, ein rechter Israelit, ein Mensch, in dem kein Falsch ist. (Joh 1,47) Die Verlässlichkeit in Person.“
So also sieht ihn Jesus! Das ist Nathanael! Zu loben für seine Gewissenhaftigkeit in allen Dingen. Einer, der prüft, ehe er sich ewig bindet, abhold jeder blauäugigen Schwärmerei. Er ringt mit sich und Gott. Aber wenn Nathanael schließlich Ja gesagt hat, dann bleibt er auch dabei, dann wird er nicht enttäuschen, dann ist Verlass auf ihn.
Einer, der den Namen „Israel“ verdient – mehr noch als der Ahnvater Jakob. Der hatte damals in der denkwürdigen nächtlichen Stunde in der Jabbokfurt von Gott als Erster der Weltgeschichte den Ehrennamen „Israel“ erhalten. Der Name beinhaltet ein großes Lob. Er bedeutet ins Deutsche übersetzt ungefähr: „Der sich mit Gott heftig auseinandergesetzt hat“. So ein „Israelit“ ist also auch Nathanael. Einer, der den Ehrennamen „Israel“ sogar noch viel mehr, „in Wahrheit“, verdient, weil er, anders als Jakob, ohne List und Betrug sein Leben führte.
Aus Jesus spricht Menschenkenntnis: So findet man Zugang zum Herzen eines Menschen, so gewinnt man ihn: Indem man ihn wahrnimmt und zwar erst einmal in seiner Stärke. Nathanael fühlt sich endlich einmal erkannt, endlich einmal nicht verkannt. Sein Selbstwertgefühl wächst, weil da einer seine positiven Eigenschaften wertschätzt und an die erste Stelle setzt.
Wenn uns dies geschieht, dass jemand unseren guten Kern und unsere beste Absicht nicht nur sieht, sondern uns ermuntert, Gebrauch davon zu machen, dann ist das etwas Befreiendes, etwas, was unserem Tun Schwung verleiht. Und dann können wir auch seine Kritik im Einzelnen ganz gut vertragen. Dagegen werden Sie sich von einem Menschen, der gleich und nur das Schlechte an Ihnen feststellt, kaum etwas sagen lassen. Das war eines der großen Missverständnisse des Christentums: Man meinte, der Mensch werde in der Bibel erst einmal total schlecht gemacht, kein gutes Haar werde an ihm gelassen. Gerade so sei er bereit für das Evangelium und den Empfang der Vergebung seiner Sünden. Und danach erst sei er überhaupt zu Gutem fähig.
Nein, Jesus hat einen Menschen gelobt, wo er zu loben war, dafür haben wir Beispiele genug im Evangelium.
Und wenn Jesus hier bei Nathanael den guten Kern feststellt, dann hat das enorme Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Denn wenn ich um meinen Kern weiß, dann weiß ich um das, was in meinem Leben auch entfaltet werden will, was wachsen soll und wo ich schließlich Frucht bringen darf.
Also, Nathanael ist in diesem Moment schon richtig aufgebaut und dem Mann aus Nazareth schon einigermaßen gewogen. Aber er wäre doch nicht Nathanael, wenn er nicht nochmals mit leisem Zweifel zurückfragte: „Ja du, woher kennst du mich denn eigentlich?“
Jesu verblüffende Antwort: „Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum sitzen sehen.“ (Eine Anmerkung: Unter dem Feigenbaum pflegten damals Tora-treue Israeliten zu sitzen, wenn sie dem Wort Gottes in der Schrift nachsannen.)Und offenbar, weil er tatsächlich unter dem Feigenbaum gesessen hat, ist der beweishungrige Nathanael nun doch ganz schnell überzeugt und fast schon begeistert: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, der König von Israel!“ (Joh 1,49)
Denn streng genommen hatte Nathanael, der Schriftgelehrte, jetzt zwei Beweise in der Hand (und nach der sogenannten Zeugenregel des alttestamentlichen Buches Deuteronomium wird die Wahrheit einer schwerwiegenden Sache erst durch zwei Gleiches besagende Zeugen festgestellt). Welches waren die beiden Beweise? Wiederum nach einem alttestamentlichen Text, nämlich nach der Messias-Verheißung von Jes 11, würde der Messias den Geist der Erkenntnis haben, das heißt: Intuition im Erkennen von Menschen. Jesus hatte sie bewiesen, als er Nathanaels Gewissenhaftigkeit und die Gründlichkeit seines Gottsuchens mit einem Blick erkannte. Ferner würde der Messias nach Jes 11 so etwas wie ein paranormaler Hellseher sein, und auch diese Fähigkeit hatte Jesus dem Nathanael vordemonstriert, als er ihn aus zig Kilometer Entfernung unter dem Feigenbaum sitzen sah.
Jesus, der Messias, verfügt also über übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten. Und damit gibt er denen recht, die aus Erfahrung sagen: „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als es sich unsere Schulweisheit träumen lässt.“ Mehr als das, was unsere fünf Sinne erfassen. Phänomene wie Hellsehen, Telepathie, Gedankenübertragung, Ahnungen, Traumbotschaften, Schutzengel sind also nicht von vornherein als Humbug abzutun. Dass zwischen manchen Menschen immer wieder Telepathie, Fernfühlung, wirksam werden kann, belegen etwa Mütter im Krieg, wenn der Sohn auf dem Schlachtfeld fiel und sie schreckten aus dem Schlaf hoch und wussten es. 1
Wenn telepathische Erfahrungen heute selten sind, so zeugt das möglicherweise davon, dass es nicht eben viele tiefe und innige Beziehungen in unserer Spaß- und Karrieregesellschaft gibt.
Aber das ist es nicht, worauf unsere Geschichte den Finger legt. Jesus relativiert ja gerade die Bedeutung des Paranormalen, als ob er sagen wollte: Solange wir auf Erden wohnen, sind übersinnliche Fähigkeiten nicht das, was in erster Linie zählt für die Menschwerdung des Menschen. Und so wendet er sich jetzt mit seinem gewichtigen Schlusswort an Nathanael: „Du glaubst, weil ich dir, der Tatsache entsprechend, gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Schön und gut. Aber das eigentliche Wunder ist etwas Größeres und Bedeutsameres: Wahrlich, wahrlich, ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen auf den Menschensohn.“ (Joh 1,51b)
Jetzt ist es gesagt, jetzt ist es in ein kühnes Bild gefasst, was die Jünger und Jüngerinnen allezeit an Jesus, dem Messias, haben: Er, Jesus, ist der Punkt in der Welt, wo Himmel und Erde, wo Ewigkeit und Zeit, wo Jenseits und Diesseits miteinander kommunizieren. Jesus spielt noch einmal, auf ein Schlüsselerlebnis des Ahnvaters Jakob an, diesmal auf sein Traumerlebnis. Jakob träumte einst, als er angstgetrieben auf der Flucht vor Esaus Rache war, wie die Engel an seiner Übernachtungsstätte auf- und niederstiegen, und er nannte daraufhin den Ort seines Übernachtens Bethel, Haus Gottes. (Gen 28) Dort soll man auch fernerhin Gott in besonderer Weise „antreffen“ können.
Und dieser Ort, wo man auf Gott stößt, der soll nun also künftig ein Mensch sein, nämlich Jesus, der Messias aus Nazareth, so erfährt Nathanael. Nirgendwo sonst kann man Gott so hautnah begegnen wie im Schauen und Hören auf Jesus. Denn bei ihm findet die intensivste Kommunikation mit dem Ewigen statt, die es je auf der Erde gegeben hat. In der beständigen Zwiesprache zwischen dem Vater und dem Sohn glüht der heiße Draht zwischen der Zeit und der Ewigkeit. Mehr noch: Der Sohn zieht uns hinein in diese Kommunikation mit seinem Vater. Sein Vater ist unser Vater im Himmel, sein Abba ist Abinu, unser Ab, und Jesus zieht uns hinein in seine Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Befreier: Jitqadesch schemächa! Geheiligt werde dein Name! Zieht uns hinein in seine Sehnsucht nach dem Heil für alle leidgeplagte Kreatur, Heil, wie es nur von einer Macht kommen kann: Tawo malchutächa! Es komme deine Königsherrschaft!
Zieht uns hinein in seinen Protest gegen die Menschheitsgeschichte, die so arg zum Selbstläufer geworden ist und in Blut und Tränen ihrer Opfer zu ertrinken droht: je`asäh chäftzächa ke wa schamajim ken ba arätz. Es geschehe doch dein Wille endlich auch auf Erden!
Und Jesus reicht uns einfache Worte, um täglich unsere Sorge, unsere Schuld und unsere Angst beim Vater im Himmel los zu werden oder doch ins Maß gesetzt zu bekommen: Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben denen, die an uns schuldig geworden sind. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. (Mt 6,11-13)
Mit diesen Worten, wenn wir sie bewusst aussprechen und mitdenken und im Herzen fühlen – so wachsen wir hinein in die Familie der Gotteskinder. Denn Jesus ist der Ort, an dem wir wie nirgends sonst auf der Welt mit Gott zusammengebracht werden:
Such, wer da will, ein ander Ziel..., sein Wort sind wahr, sein Werk sind klar,
sein heil‘ger Mund hat Kraft und Grund... (EG 346,1)
Amen.
1 Gerade las ich in den Lebenserinnerungen von Jörg Zink den Abschnitt, in dem er von einem Kriegserlebnis erzählt: „An jenem Morgen ging ich von meiner Stube in der Mannschaftsbaracke über den Flur in das Zimmer meines Freundes Gerd. Er war zwei Jahre älter als ich, Student des Maschinenbaus, ein ruhiger, nüchterner und sehr verlässlicher Pilot. Als ich eintrat, saß er auf der Bettkante, das Foto seiner Braut in der Hand. Er schaute kurz auf und sagte: ‚Heute bin ich dran.‘ ‚Aber heute haben wir doch frei!‘, antwortete ich, ‚heute ist doch gar kein Einsatz!‘. Er wiederholte nur: ‚Heute bin ich dran!‘ Um die Mittagszeit erfolgte unerwarteter Befehl. Zwei Stunden später stürzten wir in unserer brennenden Maschine ins Meer. Ich überlebte. Er nicht.“