Wo kämen wir hin,…?! - Predigt zu Römer 12,17-21 von Claudia Krüger
12,17-21

„Wo kämen wir hin,…?!“

Liebe Gemeinde,

vor etwa 3 Wochen berichteten die Medien davon, dass ein 17 Jähriger, aus Rache über die Vergewaltigung seiner Schwester, den mutmaßlichen Täter mit zahllosen Messerstichen getötet hatte. Manche Tageszeitungen erinnerten in diesem Zusammenhang an andere Fälle von Selbstjustiz, die in den letzten Jahren verübt worden waren, bis zurück zu Marianne Bachmeier, die 1981 im Gerichtssaal den Mörder ihrer siebenjährigen Tochter erschossen hatte.

Wo aber kämen wir hin, wenn jeder die Sache der Gerechtigkeit selbst in die Hand nähme!

Niemand hat das Recht, eigenhändig Rache zu üben, auch wenn die Wut noch so berechtigt und das Leid unermesslich ist. Strafe aber ist einzig und allein dem Staat vorbehalten – ist gebunden an Recht, Gesetz und Kontrolle, und das ist gut so. Das letzte Urteil aber über einen Menschen und sein Handeln ist Gott allein vorbehalten.

Auch unser heutiger Predigttext spricht zu diesem Thema so unmissverständliche Worte, dass diese eigentlich gar nicht eigens ausgelegt werden müssten.

Es sind Worte, die nicht weichgespült werden dürfen.

Paulus schreibt in seinem Brief an die Gemeinde in Rom im 12. Kapitel:

Vergelte niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist´s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. Denn es steht geschrieben: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.“ Vielmehr, „wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. „ Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Paulus scheint seine Gemeinde und deren Gefühle gut zu kennen!

Er kennt die Hitzköpfe, die auch schon beim kleinsten Anlass die Muskeln spielen lassen und Heldenhaftigkeit beweisen wollen. Er kennt aber auch die Gedemütigten, die fast ersticken an stumm erlittenem Unrecht. Unsere Sprichwörter spiegeln wieder, wie sehr auch uns die Fragen nach dem Bösen, nach Recht und Gerechtigkeit, aber auch nach Rache und Vergeltung immer wieder umtreiben. Sprichwörter sprechen dem Volk aus der Seele, und zu diesem Thema gibt es zahlreiche:

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“ „Rache ist süß!“ „Wie du mir, so ich dir!“ Auch nicht besonders bibelfeste Zeitgenossen zitieren gerne den alttestamentlichen Spruch: „ Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Und doch verkennen sie die diesem Spruch innewohnende Begrenzung der Spirale der Gewalt, die bereits anklingt, nämlich: Nicht über das erfahrene Unrecht hinaus sich zu rächen. Auch das Alte Testament kennt bereits das Gebot der Feindesliebe, wenn auch nur auf die eigenen Landsleute bezogen. In den Worten Jesu wird dann die Feindesliebe grenzenlos ausgeweitet.

Freilich, es ist nur zu gut nachvollziehbar, wenn jemand aus tiefstem Schmerz, Wut und Verzweiflung Rache üben will an einem Täter, der unsagbares Unheil über gebracht hat.

Jede und jeder von uns trägt aber auch eigene schmerzliche Erinnerungen in sich an Unrechtserfahrungen – womöglich schon in der Kindheit erlitten, im Elternhaus, in der Schule, Demütigungen oder Schläge, kleine Boshaftigkeiten oder grausam Böses.

Viele haben noch die ganze Härte des menschlichen und auch strukturellen Bösen im Krieg und auf der Flucht erfahren, furchtbare Erlebnisse, die man sein Leben lang mit sich schleppt. Erst 70 Jahre währt der Frieden in unserem Land, und immer noch ragen die Schuld und die Auswirkungen der Kriegserfahrungen in das persönliche Leben und in unsere gesellschaftliche Gegenwart hinein.

Blicken wir noch etwas weiter zurück – vor 100 Jahren, am 28. Juni, wurde ein Krieg begonnen, der an Grausamkeit kaum zu übertreffen ist. 17 Millionen Menschen hat er das Leben gekostet, davon 7 Millionen Zivilisten, 30 Millionen Menschen waren verwundet oder verstümmelt. Man kann und will sich das nicht mehr vorstellen, und doch nimmt bis heute das Morden kein Ende, schauen wir nach Nigeria, in Richtung Ukraine oder Irak, wo nun sogar eine bislang undenkbare Koalition mit den USA versucht, den Terroristen Einhalt zu gebieten.

Was aber ist das Böse, was ist das Gute? Und wo befinde ich mich selbst?

Kinder haben noch ein klares Bild von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, Hexen und Heiligen. Auch wenn ich mit Jugendlichen diskutiere, so fordern sie erschreckend schnell die Todesstrafe, weil unsere Rechtsprechung zu milde sei und Gewaltverbrecher nie wieder frei kommen und neues Unrecht begehen dürften. Manchmal ringe ich in solchen Diskussionen um Argumente und kann ihr Anlegen durchaus nachvollziehen.

Auch Paulus weiß, wie unendlich schwer es mitunter ist, Böses mit Gutem zu überwinden. „Ist´s möglich, soviel an euch liegt, so habt Frieden mit allen Menschen.“ Da klingt ganz deutlich durch, dass es nicht einfach ist, aber wir haben in Wahrheit doch gar keine bessere Alternative!

Wo kämen wir hin, wenn vernünftige Regierungen nicht in mühsamen Verhandlungen und trotz schmerzlicher Rückschritte beharrlich weiter nach friedlichen Lösungen suchten. Wo kämen wir hin ohne Bürgerinnen und Bürger, Nachbarinnen und Nachbarn, Friedensbewegte und scheinbar naive Idealisten, die sich finden in jedem Land? Ohne Menschen, die aufeinander zugehen, wieder und wieder die Hand bieten, um irgendwann doch endlich in Frieden nebeneinander zu wohnen. Ich denke da im Kleinen an die Streitschlichter an unseren Schulen, an Menschen wie Du und Ich, die bereit sind, wieder den ersten Schritt zu tun zum Anderen hin und heraus aus der Endlosspirale eines „Wie du mir, so ich dir!“.

Wo kämen wir hin, wenn es sie nicht gäbe, die wahren Heldinnen und Helden. Sie sind keine blassen Dulder oder Schwächlinge, die vor der Allmacht des Bösen resigniert in die Knie gehen. Sondern sie treten kraftvoll aus Ohnmacht und stummer Wut heraus, benennen das Unrecht, schreien es vielleicht auch heraus. Aber sie nehmen auch das Gespräch und die Verhandlungen aktiv wieder auf.

Und so wird es in unserem Predigttext ja auch gefordert: „Überwinde, besiege das Böse mit Gutem!“ Schon ein paar Verse vorher lesen wir, in der „Bibel in gerechter Sprache“ wunderbar formuliert: „Werft euch dem Guten in die Arme!“ Das ist eine energiegeladene schwungvolle Bewegung hin zum Guten in Person. Denn das Gute ist unauflöslich verbunden mit dem, der das Gute verkörpert hat und dessen Liebe schließlich sogar den Tod besiegt hat.

Wo also kämen wir hin ohne die unbeirrbaren Idealisten, die nicht aufhören, an Frieden und Versöhnung und Liebe zu glauben? Die sich engagieren im Schüleraustausch, in Völkerverständigung, in der Begegnung von einstigen Gegnern, im Sport, bei dem über Nationalitäten hinweg Gemeinschaft und Begeisterung so mitreißend sein können! Dort, wo man mitunter klare Worte gegen Rassismus findet, wo man miteinander wettstreiten und gemeinsam jubeln kann.

Wo kämen wir sonst hin im Großen wie im kleinen Umfeld von Familie, Nachbarschaft, Schule oder Betrieb, oder im großen Umfeld der Nationen?  Ganz gewiss in eine Endlosschlaufe von Unversöhnlichkeit im Kleinen, und in eine Spirale von tödlicher Gewalt, Leid und immer neuer Gewalt im Großen. Schauen wir hinüber nach Israel, so wird auch die Rache an denen, die so grausam drei junge Menschen getötet haben, das Unrecht noch vergrößern und immer rascher anderen Menschen entsetzliches Leid zufügen, wie dem 16-jährigen Palästinenser. Der Onkel eines der israelitischen Jungen aber hat dazu deutlich erklärt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen Blut und Blut. Mord ist Mord, egal welche Nationalität oder welches Alter. Mord ist immer unverzeihlich.“

Schon in vorigen Jahrhunderten aber gab es kluge Menschen, die gewusst haben, dass Rache niemals zu innerem oder äußerem Frieden führen kann. So sagt uns Sir Francis Bacon, der Philosoph: „Wer nach Rache strebt, hält seine eigenen Wunden offen.“

Wo aber die alten Wunden offen bleiben, da kann kein innerer Frieden einziehen. Da kann die Liebe keinen Raum mehr gewinnen. Ja, wenn wir es recht betrachten – Rache kann nur für kurze Momente eine Art Genugtuung erfahrbar machen, niemals aber inneren Frieden, Versöhnung, Liebe oder neues Glück hervorbringen.

Ein Wort von Rainer Kunze kam mir wieder in den Sinn:

Schnelle Nachtfahrt
Niemals wird es uns gelingen, die welt
zu enthassen
Nur dass am ende uns nicht reue heimsucht
über nicht geliebte liebe

(Reiner Kunze, Gedichte, S.258, Verlag S. Fischer, Frankfurt, 2001)

Illusionslos betrachtet er die Welt und die Menschen und zieht den klaren Schluss: „niemals wird es uns gelingen, die welt zu enthassen!“ Ja, vertreiben werden wir Hass, Gewalt und das Böse niemals von dieser Welt. Es wird uns begleiten bis ans Ende dieser Tage. Und doch gibt es keinen besseren Weg als diesen, wieder und wieder, soviel an uns liegt, das Böse durch Gutes zu überwinden. Das ist die Haltung des Apostels Paulus und das ist auch im Sinne Jesu Christi.

Nur ihm sind wir verpflichtet, auch wenn wir nicht verstehen, warum es das Böse gibt. Auch wenn wir immer wieder scheitern werden und auch angewiesen sind auf Vergebung und auf Menschen, die wieder auf uns zugehen mit offener Hand. Im Vertrauen auf den, der die Kraft hat uns zu lieben und uns zu vergeben, sollen wir immer wieder den Weg des Friedens einschlagen. Auch wenn wir manchmal so müde werden und resignieren könnten angesichts des Bösen, das sich in immer neuen Bildern zeigt.

Wir müssen nicht jeden Menschen lieben können oder ihn auch nur mögen, aber wir sollen schlicht das Nötige für ihn tun, mehr wird nicht von uns verlangt.
Hier sind wir alle gefordert, immer wieder auch über den eigenen Schatten zu springen. Und wenn es vielleicht auch nicht gelingen kann, zu vergeben oder sich zu versöhnen, so kann es vielleicht doch gelingen, die Rache Gott zu überlassen. Das kann auch wahre Befreiung sein!

Wir sollten immer wieder eine Koalition eingehen mit dem Geist der Liebe und der Gerechtigkeit, um in kleinen Stücken Gottes Plan mit zu verwirklichen, damit uns am Ende nicht Reue heimsucht über nicht geliebte Liebe. Damit wir nicht erst dann, wenn es zu spät und das Leben vorüber ist, die Augen auftun und erkennen: Es wäre vielleicht doch friedlicher, liebevoller, freundlicher zu leben möglich gewesen!

So gilt es nun jeden Tag neu, diese unmissverständlichen Worte in unser Innerstes dringen zu lassen und unsererseits kreativ zu werden. Wenn es uns dann und wann gelingt, dem durstigen und hungrigen Feind zu trinken und zu essen zu geben, wird er vielleicht bereuen, oder womöglich sogar umkehren. „Gib deinen Mitmenschen mehr, als sie erwarten, und mache es mit Freude!“, so hat der Dalai Lama es einmal empfohlen. Ja, Menschen können sich sogar verändern, wenn ihnen überraschend Freundlichkeit, Wertschätzung oder Hilfe zu Teil werden, von einer Seite, von der sie es womöglich am allerwenigsten erwarten. Nur – ob das geschieht oder nicht, das liegt allein in Gottes Hand!

Überlassen wir also all unsere Gefühle und all unsere Rachegedanken dem, dem allein gegeben ist, zu urteilen und Recht zu schaffen, und am Ende aller Tage auch ewige Gerechtigkeit. Wir aber können nichts Besseres tun, als immer wieder das Gute zu suchen mit der Gewissheit, dass wir selbst unendlich geliebt sind. Nur wer spürt, dass er von Gott geliebt ist und dessen tiefste Sehnsucht nach Wertschätzung und Liebe erfüllt wird, der kann auch immer wieder mit der Kraft der Liebe lieben, mit der er selbst geliebt ist. Nur wenn wir wissen, dass Gott uns mit all seiner Liebe liebt und seine Liebe stärker ist als alle Mächte und Gewalten, alle Grausamkeiten und stärker auch als der Tod, dann kann es uns dann und wann und hoffentlich immer wieder gelingen, zu lieben, anstatt in Rache, Gleichgültigkeit oder Hass zu versinken.

Mag es auch illusionär und phantastisch klingen – war die Liebe dessen, der uns geliebt hat, nicht auch eine Torheit in den Augen so vieler?

Der unvergessliche Hanns-Dieter Hüsch hat sich dazu bekannt:

Ich setze auf die Liebe
Wenn Sturm mich in die Knie zwingt
Und Angst in meinen Schläfen buchstabiert
Ein dunkler Abend mir die Sinne trübt
Ein Freund im anderen Lager singt
Ein junger Mensch den Kopf verliert
Ein alter Mensch den Abschied übt

Das ist das Thema
Den Haß aus der Welt zu entfernen
Und wir bereit sind zu lernen
Daß Macht Gewalt Rache und Sieg
Nichts anderes bedeuten als ewiger Krieg
Auf Erden und dann auf den Sternen

Die einen sagen es läge am Geld
Die anderen sagen es wäre die Welt
Sie läg in den falschen Händen
Jeder weiß besser woran es liegt
Doch es hat noch niemand den Haß besiegt
Ohne ihn selbst zu beenden

Er kann mir sagen was er will
Und kann mir singen wie er´s meint
Und mir erklären was er muß
Und mir begründen wie er´s braucht
Ich setzte auf die liebe! Schluß.

 (Hanns Dieter Hüsch, Das Schwere leicht gesagt, S. 157; Herder Verlag, Freiburg, 1994)

Wo also kämen wir hin, liebe Gemeinde, wenn wir auf die Liebe setzten, allem zum Trotz?

Ich bin sicher: ein gutes Stück weiter auf dem Weg des Friedens.

Amen.

 

Perikope
13.07.2014
12,17-21